Kapitel 1
Er
Die Styx zog leise und stetig an ihm vorbei und es schwappten einige Wellen an den Steg. Er spürte die Bewegung des Wassers unter seinen Füßen, während sich langsam eine Nebelschwade zwischen ihn und das andere Ufer schob. Das Boot konnte er nun trotz seiner unheimlich guten Augen nicht mehr sehen, aber er erwartete, dass es binnen weniger Sekunden in Sichtweite kommen würde. Sein langer Mantel wehte ihm um die Knie und sein kinnlanges Haar strich ihm um sein aristokratisch schönes Gesicht. Unter der Kapuze, die bei seiner unschönen Arbeit stets sein Gesicht verstecken sollte, waren die feinen Züge nur zu erahnen und sein schmaler, aber muskulöser Körper war unter den vielen Stoffen verborgen, sodass niemand sich auch nur ein genaues Bild des Jägers machen konnte.
Er schloss die Augen und nahm die Umgebung mit seinen anderen, noch viel feineren Sinnen wahr. Er konnte die leichte Windböe spüren, die über das Wasser strich, das leise Gemurmel der Menschen auf dem Boot aus dieser Entfernung schon hören und er nahm die Vibrationen der Füße auf dem Boot und die Bewegungen der Wesen im Wasser wahr.
In dieser vollkommenen Dunkelheit, welche er sich selbst geschaffen hatte, spürte er, wie die eisige Kälte in ihm heraufzog. Er spielte manchmal mit den Mächten in seinem Körper und versuchte dabei immer die Oberhand zu behalten, was ihm normalerweise auch gelang.
Wenn er dieses Spiel allerdings zu lange trieb, konnte er das Übergreifen und Ausbrechen seines Erbes nicht verhindern.
In diesem Moment genoss er es einfach nur, dass er die Kälte in seinem Inneren brodeln und gegen seine Kontrolle ankämpfen fühlte. Im Grunde wollte er einfach nur irgendetwas in sich fühlen und die Leere, die sich in seinem Inneren breit gemacht hatte, vertreiben.
Mit einem einzigen kontrollierten Gedankenstoß versetzte er die Kälte und sein Erbe wieder dahin, wo sie seiner Meinung nach hingehörten, in den verstecktesten und letzten Winkel seines Gehirns und Körpers. Langsam öffnete er die Augen und das Glühen in ihnen, welches schon zu stark war, wurde wieder schwächer.
In diesem Moment sah er vor sich einen Schatten in den Nebelschwaden und kurz darauf durchbrach der schwarze Bug des Bootes ebendiese und steuerte genau auf ihn zu.
Das dunkle und schauerliche Lachen des Fährmanns durchbrach die Stille und hallte über das Wasser. Der Jäger fasste sich an die Seite, dort wo die Klinge des Fährmanns seine Spuren hinterlassen hatte. Es schauerte ihn immer noch, wenn er daran dachte, dass er ihm wie durch ein Wunder damals so knapp entkommen war und nicht viel mehr als diese Narbe davongetragen hatte.
Beinahe ohne den geringsten Wellengang zu verursachen grub sich das Schiff durch das dunkle Wasser. Selbst aus dieser Entfernung konnte der Jäger schon die genauen Stimmen der Menschen auf dem Boot ausmachen und hörte auch die knorrige Stimme des kleinen, hutzeligen Kobolds heraus, welcher der treue Diener des Fährmanns war. Allerdings schenkte er dem Gemurmel des kleinen Mannes keine sonderliche Aufmerksamkeit, denn er wusste, dass sich dieser meistens mit dem Angeln von irgendwelchen Wesen aus der Styx begnügte und gerne vor sich hin sprach.
‚Sei bereit zum anlegen!’, rief der Fährmann ihm schon von Weitem entgegen. Nun schwappten die Wellen unwesentlich heftiger gegen den Steg, was der Jäger auch nur sanft an den Fußsohlen spürte. Er trat etwas zurück über die schweren Bretter und das alte Holz knarzte unter seinen Füßen.
Er nahm das Anlegeseil in die Hand und bereitete sich auf die ankommenden Seelen vor, die er gleich in Empfang nehmen würde.
Als das Boot nahe genug an den Steg herangekommen war, warf er dem Kobold des Fährmanns das Seil zu und dieser band das Boot fest. Immer noch nicht hatte er verstehen können, wie das Boot mit seinen zerfetzten Segeln beinahe lautlos durch die kalte See fahren konnte, aber auch wenn er sich nach über 700 Jahren den Kopf weiter darüber zerbrach, gab es wohl viele Dinge in der Unterwelt, die er nie verstehen würde.
Bevor irgendjemand ausstieg kam der Fährmann heraus und reichte ihm eine Liste.
"Wie viele?"
"97 Frauen und 113 Männer. Hast du etwas für mich?"
Wortlos reichte der Jäger dem Fährmann eine kleine Ampulle mit einer goldenen Flüssigkeit, welche dieser sorgsam in seinem weiten Mantel verstaute.
"Lass sie runter", schnarrte seine Stimme und der kleine hutzelige Kobold legte ein Brett zwischen Boot und Steg. Langsam kam die Menschenmasse auf dem Boot in Bewegung und nach einiger Zeit hatte der Jäger sie zum Ausgang des Steges bugsiert.
Die Seelen starrten ins Leere vor sich hin oder auf den Boden und beachteten ihn nicht weiter.
Ohne noch einmal die Masse an Seelen genau zu betrachten drehte er sich um und schritt voran. Allerdings hatte er das seltsame Gefühl, dass dieses Mal etwas nicht stimmte. Er fühlte sich beobachtet. Seelen beobachteten ihn aber nicht. Seelen beobachteten auf diesem Teil ihrer Reise eigentlich niemanden, sondern kümmerten sich um sich selbst und versuchten ihre neue Situation zu verstehen.
Er versuchte seine Jagdinstinkte zu unterdrücken, mit denen er kurz zuvor noch so überheblich gespielt hatte, doch sie schoben sich langsam und schleichend in ihm nach vorne, bis er sie nicht mehr ohne ein starkes Ziehen im gesamten Korpus und im Kiefer zu spüren, unterdrücken konnte. Die eisige Kälte hatte beinahe seinen gesamten Körper überzogen und er atmete kleine eisige Dampfwolken aus. Sein Instinkt hatte ihn noch nie getäuscht und doch war er sich nicht sicher aber das war eindeutig zu wenig. Deshalb sollte er den Jäger lieber in sich eingesperrt lassen, bevor dieser noch Schlimmeres anrichtete.
Sie
Vorsichtig lugte Lara unter ihrer Kapuze hervor und ihre grünen Augen blitzten vor Aufregung. Der Fährmann stand am Steg und hieß die angekommenen Seelen auf sein Boot einzusteigen. Man hatte ihr gesagt, dass kein Sterblicher auf das Boot kommen würde, seit Hades herausgefunden hatte, dass seine Frau Persephone es anscheinend schlimmer mit den Männern trieb als ihm lieb war. Zwar war dafür eigentlich der Höllenhund zuständig, aber wie man gesehen hatte, bekam er nicht alles mit. Es gab Mittel und Wege um an ihnen vorbeizukommen.
Lara zog die Münze aus ihrer Tasche und legte sie sich unter die Zunge, so wie Aphrodite es ihr erklärt hatte. Sie schmeckte nach altem Silber und nach moder. Aber sie schluckte ihre Würgegefühle herunter und versuchte kein Aufsehen zu erregen.
Die Schlange der Seelen schien unendlich lang und so schaute sie sich um und dachte über ihre Aufgabe nach. Der Fährmann wäre lange nicht das einzige Hindernis, welches sich ihr in den Weg stellen würde. Zerberus der dreiköpfige Höllenhund würde auf der anderen Seite warten und sie erschauderte bei dem Gedanken an den Jäger, der sich um Besucher wie sie kümmerte, seit der neuen Gesetzgebung.
Eine der anderen Seelen stieß sie an. Sie war in Gedanken versunken stehen geblieben und hatte den Rest der Schlange aufgehalten sich fortzubewegen.
"Kannst du nicht weiter machen?", raunzte der Mann sie an und schnell ging sie einige Schritte vorwärts um ja keine Unruhe zu verursachen und die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aufmerksamkeit war das letzte was sie jetzt wollte, denn alles, was sie aus der Masse herausstechen ließ, minderte ihre Chancen, heil an ihrem Ziel anzukommen
Als sich die Schlange weiter nach vorne bewegte zog sie ihren Umhang fester um sich und betrachtete unter der Kapuze hervor den Fährmann. Er schaute sich jede Seele an und jede Seele musste die Münze unter ihrer Zunge hervornehmen und in einen Beutel schmeißen, welcher von einem koboldartigen kleinen Männchen gehalten wurde.
Sein hagerer Körper steckte in einer schwarzen mönchskuttenähnlichen Kluft. Seine knochigen Hände wirkten unförmig und spinnenhaft, während seine ganze sichtbare Haut leicht gräulich schimmerte. Die Augen waren tiefschwarz und glitzerten gefährlich. Seine Haare hatte er unter einer weiten Kapuze versteckt und doch schauten einige Strähnen seines schwarzen Haares heraus. Das einzig helle in seinem Gesicht waren seine Zähne, von denen die Eckzähne viel zu lang schienen und gefährlich blitzten. Im großen und ganzen bestand er scheinbar nur aus schwarz, weiß und Grautönen und passte sich damit der Tristen Umgebung wie ein Chamäleon an.
Mit einem wie ihm würde man abends nicht gerne allein zusammentreffen und er wäre sicher in der Lage, ohne mit der Wimper zu zucken die Kehle seines Gegenübers durchzuschneiden.
Während Lara sich in der Schlange vorwärts schob, achtete sie diesmal besonders darauf, dass sie den Anschluss nicht verlor und sich den anderen anpasste. Vorsichtig holte sie den kleinen Gegenstand aus ihrer Tasche, welchen Aphrodite ihr als Bestechungsmittel mitgegeben hatte. Der kleine Gegenstand war eigentlich nichts besonderes, er fiel aber durch seine durchaus filigrane Verzierung auf. Der kleine Spiegel, den Lara in der Hand hielt hatte die Form einer Muschel, in die auf der Oberseite eine kleine Statue der Aphrodite eingearbeitet war. Er war mit ihren Zeichen, einer Taube und einer Mohnblüte, geschmückt und als Blickfang diente Aphrodites Gürtel, welcher mit einem kleinen Lapislazuli in der Mitte verschönert und aus reinem Gold war. Es musste jemand an dieser feingliedrigen Aphrodite mit ihren Verzierungen eine halbe Ewigkeit gearbeitet haben.
Sie schloss den Spiegel fester in ihre kleine Hand, bis ihre Knöchel weiß anliefen und bemerkte, dass sie nicht mehr weit entfernt vom Ende der Schlange stand. Es ging relativ schnell vorwärts und sie hatte wahrscheinlich Glück, dass sie als eine der Letzten auf das Boot kommen durfte. Es hatte sich rasant gefüllt und die Menge der anstehenden Seelen schien kein Ende zu nehmen. Sie rückte ihre Kapuze noch einmal zurecht und versteckte eine ihrer langen auffälligen braunen Locken. Mit gesenktem Blick trat sie dem Fährmann gegenüber und wagte es auch nicht, ihn zu heben, als sie ihn passieren wollte. Vor dem verknautschten Gesicht des kleinen Männchens öffnete sie ihren Mund und warf die Münze in den Beutel. Als sie weitergehen wollte ergriff jedoch eine eiskalte Hand ihr Handgelenk und sie wurde zurückgezogen. Mit einer schnellen Bewegung riss der Fährmann ihre Kapuze nach hinten und hielt sie weiterhin im eisernen Griff seiner eisigen Klauen. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer verschwimmenden Maske. Die Augäpfel wurden größer, die Pupillen wurden zu Schlitzen und auf einmal stagnierte diese Veränderung so plötzlich, als stutze er in seiner Verwandlung. Langsam nahmen die Gesichtszüge wieder ihre klare Form an und mit einem durchbohrenden Blick starrte er Lara an.
‚Charon, der Fährmann des Styx fragt dich, was du hier suchst.’
Vollkommen geschockt konnte Lara nur in die schwarzen knopfähnlichen Augen dieses Mannes gucken und anstatt zu antworten hob sie ihre Hand und legte den kleinen Spiegel frei.
Charon unterdrückte einen Seufzer und nahm den Spiegel entgegen.
‚Auf diesem Weg bist du nicht hier hereingelangt, haben wir uns verstanden?’
Sie nickte stumm, immer noch nicht erholt von dem Schrecken, den sie eben erlebt hatte und blieb stocksteif vor dem sich ihr eben offenbarten Monster stehen.
‚Hat sie dir eine Nachricht für mich mitgegeben?’
Lara sah den Fährmann fragend an. Dessen Gesicht hatte einen weicheren Zug angenommen. ‚Deine Mutter, du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten,…hat sie dir sonst noch irgendwas mitgegeben?’
Sie schüttelte den Kopf. ‚Nein’, flüsterte sie leise mit zitternder Stimme.
Sofort verdunkelte sich das Gesicht des unheimlichen und er gab ihr den Wink schnell einzusteigen, bevor er es sich anders überlegen würde.
Texte: Alle Rechte an diesem Buchtext liegen bei mir!Viel Spaß beim lesen!
Tag der Veröffentlichung: 19.02.2011
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