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Per Anhalter durch die Gutenberg-Galaxis




Die menschliche Eigenart, Erfahrungen und Wissen an geschützten Orten zu sammeln und der Wunsch, das Wichtigste davon allzeit - sozusagen auf einen Griff - verfügbar zu haben, existiert, solange es überhaupt schriftliche Aufzeichnungen gibt.

Der Traum von der Unendlichen Bibliothek, die alle Bücher aus allen Ländern und Zeiten umfaßt, und vom Universalen Buch, das alles Wissen zwischen zwei Buchdeckeln bewahrt, hat im 20. Jahrhundert in den Visionen der Wissenschaftler und in den Büchern der Science-Fiction-Autoren erstmals eine technische Gestalt angenommen: als Digitale Bibliothek und als Elektronisches Buch. Im zurückliegenden Jahrzehnt sind sie in die Wirklichkeit eingetreten, um sich einen Platz in der Welt zwischen Science und Fiction zu erobern.


1. Das Galaxikon


Geschichte der unendlichen Bibliothek.


Die Idee der unendlichen Bibliothek, die alles Wissen aus allen Zeiten und Ländern umfasst, hat ihre erste Gestalt in den Erzählungen von Kurd Laßwitz (Die Universalbibliothek, 1904) und Jorge Luis Borges (Die Bibliothek von Babel, 1941) gefunden, der das Gedankenspiel um die Universalbibliothek zur Parabel ausweitet, in der das Universum selbst die universelle Bibliothek ist: das Universum und die Bibliothek, die alle möglichen Kombinationen der Buchstaben in ihren Büchern birgt, sind eins: das Universum ist die universelle Unordnung aller Zeichen.

In dieser Sammlung sind sämtliche Texte in allen Versionen erhalten. Aber unter der Unzahl nichtssagender, sinnloser Buchstabenverknüpfungen, die Band um Band die Regale füllen, sind sie praktisch unauffindbar.

Eine erste technische Vision der universellen Bibliothek skizziert Ted Nelson (Computer Lib / Dream Machines, 1974), der jedes Dokument bewahren und keinen Gedanken jemals vergessen wollte. - Obwohl dem World Wide Web in vielem weit überlegen, haben Nelsons Visionen nie zu einer endgültigen Gestalt gefunden: Während das Xanadu-Projekt immer noch Konzept war, hatten Tim Bernes-Lee (Information Management: A Proposal, 1989) und seine Kollegen am CERN bereits eine Tatsache geschaffen, die fortan die Phantasie beflügelte.

Das Web spannte nicht nur einen globalen virtuellen Raum um den Globus, in den praktisch jedermann Eintritt hat; es war auch die erste universelle Bibliothek: umfassend und chaotisch.

Jeder kann auf dem virtuellen Broadway in der Gestalt seines Avatars flanieren, wie es im Metaversum von Neal Stephenson (Snow Crash, 1992) üblich ist. In den digitalen Bibliotheken des Metaversums finden virtuelle Bibliothekare, die sich behende wie Spinnen durch unvorstellbare Mengen an Informationen bewegen und durch ein weites Netz von Querverweisen krabbeln, jede gewünschte Information: abgelegt auf einer Hypercard, die Text, Audio, Video oder auch sämtliche Bücher der Kongreßbibliothek speichern kann.

Und Mark Pesce, angeregt durch Nelsons Xanadu-Vision, schuf den Code (VRML - Browsing and Building Cyberspace, 1995), aus dem der virtuelle Raum modelliert werden kann.

Die universelle Bibliothek, deren Ursprung der wissenschaftliche Text war, mit den Bänden der Klassiker aufzufüllen, erkannte Michael S. Hart (About Project Gutenberg, 1992) als seine Mission: Project Gutenberg umfasst gegenwärtig über 10.000 Texte - von Abbott bis Zola.

So ziehen die Bibliotheken mehr und mehr in den Cyberspace um, die Magazine ruhen auf Festplatten, der Lesesaal öffnet seine Windows zum heimischen Schreibtisch. Die klassische Bibliothek wird ein Teil der City of Bits (William J. Mitchell, City of Bits, 1995). Und in der virtuellen Bibliothek wird aus dem altehrwürdigen Bibliothekar ein Cybrarian (Claudia Lux, Vom Bibliothekar zum Cybrarian, 1994)

Auch die unendliche Bibliothek bedarf der ordnenden Hand und des Verstandes eines universellen Bibliothekars. Denn die Bibliothek von Babel ist nur die Kehrseite der geordneten Sammlung, der Triumph der Entropie.

Das Internet, das sich fortlaufend selbst vergisst, zu Archiviren, dem Verschwinden unzähliger Webseiten Einhalt zu gebieten und damit dem Web die Historie zu erhalten, ist Sinn und Zweck der Wayback-Machine, deren Erfinder Brewster Kahle (Archiving the Internet, 1996) gegen das digitale Vergessen ankämpft, gegen den Error 404 (Stuart Moulthrop, Error 404: Doubting the Web, 2000). Denn ohne Geschichte sind die Lücken im digitalen Gedächtnis nicht zu füllen. Und nur in der Bibliothek von Babel, in der universellen Unordnung der Daten, ist die Vernichtung kein Verlust.


2. Gutenberg 2.0


Zwischen Softreader und Buchmaschine.


Die Bibliothek in einem Band. Ein Buch, das alle Bücher ist. Alles Wissen zwischen zwei Buchdeckeln - jederzeit verfügbar, auf einen Griff. Quasi ein Buch ohne Anfang und Ende: die Quintessenz. - Eine faszinierende Vorstellung, zugleich eine erschreckende Vision: Im Sandbuch (Jorge Luis Borges, Das Sandbuch, 1975), das so unfassbar ist wie der Sand, der weder einen Anfang noch ein Ende hat, findet der Leser eine Seite niemals wieder. Als wären alle Bücher der Welt in einem Band enthalten.

Wieweit kann man ein Buch verkleinern? - Am 29. 12. 1959 hat Richard Feynman (Da unten ist jede Menge Platz, 1959) eine faszinierende Antwort gegeben: Um alle 24 Bände der Encyclopaedia Britannica auf einer Nadelspitze unterzubringen, muß nur jede Seite um das 25.000 fache verkleinert werden. Und wenn man alle Zeichen als Punkte und Striche binär mit 7 Bit Länge codiert, dann finden alle Bücher der Welt in einem Würfel mit 0,5 Millimeter kantenlänge Platz - nicht größer als ein Staubkorn.

Feynmans Nanobibliothek enthält zwar alle Bücher, doch sind sie unzugänglich wie in der Bibliothek von Babel. Es gibt keine Methode, sie dort jemals zu finden. Die Bibliothek für die Westentasche sollte also zunächst Science Fiction bleiben. Dort aber, in der Phantasie von Douglas Adams (Per Anhalter durch die Galaxis, 1979), war die Bibliothek für unterwegs längst in Gebrauch: Ein Gerät mit einem etwa zehn mal zehn Zentimeter großen Bildschirm, auf den blitzschnell jede einzelne von einer Million Buchseiten eingespielt werden konnte. - Per Anhalter durch die Galaxis: Ein elektronisches Buch, das dem interstellaren Tramper den Transport von mehreren Hallen voller Bücher ersparte.

Ein solches Gerät: praktisch wie ein Notizbuch, dynamisch und interaktiv wie ein Computer, war auch die Vision von Alan Kay (Alan Kay und Adele Goldberg, Personal Dynamic Media, 1976) am Xerox PARC. Kay nannte es Dynabook.

Autoren nutzten den Computer bald nicht mehr nur als Papier-Simulator für Satz und Druck, sondern als Maschine für den Selbstverlag. Und die Diskette ersetzte Papier und Buchdeckel. Laptops und Notebooks schufen Mobilität.

Trotzdem waren die ersten reinen Bookplayer wenig erfolgreich: Der Data-Diskman von Sony verschwand nach kurzer Zeit vom Markt. Spätere Geräte, das Rocket eBook, SoftBook, Everybook zum Beispiel, fanden nur eine kleine Community: zu teuer, zu schwer, zu gering der Zusatznutzen im Vergleich mit dem gedruckten Buch. Zu groß war die Angst der Verlage vor digitalen Raubkopien und damit ihre Restriktionen.

Von den Visionen eines interaktiven Mediums mit Audio und Animation, eines Buches etwa, dem man Fragen stellen kann, wie Neal Stephensons (Diamond Age, 1995) Illustrierter Fibel für die junge Dame, die selbst Wissen abfragt, waren die nur zur Wiedergabe digitalisierter Printmedien konzipierten eBooks noch um Generationen entfernt.

So konnte das erste Resümee nur lauten: Electronic Books - A Bad Idea (Jakob Nielsen, 1998). Aber auch das Notebook, um Potenzen vielseitiger als die pure eBook-Hardware, ausgerüstet mit den Softreadern von Glassbook, später als Adobe eBook-Reader bekannt geworden, Palm oder anderen, ist zum klassischen Buch kein Konkurrent (Neil Gershenfeld, Bücher mit Bits, aus: Wenn die Dinge denken lernen, 1999).

Aber vielleicht muß nicht das Buch neu erfunden werden, sondern die Art es zu drucken. Auch Gutenberg hat schließlich weder Buch noch Druck erfunden, sondern die Art und Weise des Druckes revolutioniert. Von dieser Intention lassen sich SmartPaper und E-Ink leiten. Und Joe Jacobson (The last book, 1997), der Erfinder der E-Ink-Technologie, träumt vom letzten Buch: Es besteht aus mehreren hundert wiederbeschreibbaren Seiten. Ein Chip im Buchrücken wird über Funk aus einer virtuellen Bibliothek gefüttert. Das Geheimnis der Seiten liegt in der Druckerfarbe: Es ist elektronische Tinte. Und so ist das letzte Buch vielleicht wirklich alle Bücher. Die Bibliothek in einem Band.


3. World Brain


Von der Enzyklopädie zum Semantic Web.


Wissen geht verloren. Erfahrungen geraten ins Vergessen. Alles Wissen zu sammeln: auf allen Gebieten, über alle Zeiten - das war die Mission der Enzyklopädie von Denis Diderot (Prospekt der Enzyklopädie, 1750) und Jean Le Rond d'Alembert am Vorabend der Französischen Revolution. Die Beziehungen zwischen den Dingen zu zeigen, die Verflechtungen der Wurzeln und Zweige: ein Bild von den Leistungen des Geistes.

Aber das Netz des Wissens hat sehr weite Maschen. Im Jahr 1937 entwickelte Herbert George Wells (World Brain. The Idea of a Permanent World Encyclopaedia, 1937) deshalb die Idee eines weltumspannenden Organs, um alles Wissen zu sammeln, zu registrieren und zu veröffentlichen.

Auch das Gedächtnis hat seine Grenzen. Eine Maschine könnte helfen, Bücher, Bilder, Notizen zu speichern und das gesammelte Wissen auf Knopfdruck zur Verfügung zu stellen. Vannevar Bush war Berater von Präsident Roosevelt und hatte die Arbeit ziviler Wissenschaftler am Manhatten Projekt koordiniert. Nach dem Krieg erkannte er die Notwendigkeit, der Forschung eine humane Perspektive zu geben und die Möglichkeiten des Verstandes zu erweitern (As We May Think, 1945). Seine Memex-Vision baute auf Mikrofilm und Techniken der damaligen Zeit, erweiterte sie jedoch um die Idee der assoziativen Verknüpfung.

Der visionäre Artikel hatte Folgen. Achtzehn Jahre später setzte Douglas Engelbart (Augmenting Human Intellect: A Conceptual Framework, 1962), der als junger Radar-Ingenieur bei der Marine den Aufsatz im Atlantic Monthly gelesen hatte, Vannevar Bushs Vision am Stanford Research Institute in die Realität um. Im Augment-Projekt wurden Berichte und Memos verknüpft in einer Datenbank gespeichert. Jeder konnte darauf zugreifen und das Material am Monitor wie auf normalem Papier betrachten. Für die Arbeit mit Augment entwickelte Engelbart ganz neue Werkzeuge, zum Beispiel die Fenster-Technik und die Maus.

Hypertext. - Den Namen für ein System, in dem Literatur so geschrieben werden kann, wie die Gedanken des Autors fließen und springen, ersann 1965 Theodor Holm Nelson. - Für seinen eigenen Entwurf einer universellen Wissensverwaltung (Literary Machines, 1987) fand Nelson den Namen Xanadu, nach einem Gedicht von Coleridge. Nelsons Universum besteht aus Dokumenten. Alles Wissen hat die Gestalt von Dokumenten. Und alle Dokumente stehen untereinander in Beziehung. Das Xanadu-Projekt, mit seinen bidirektionalen Links, dem Prinzip der Transclusion und darauf basierend einem abrechenbaren Transcopyright, war in vielem dem World Wide Web überlegen. Aber Xanadu blieb Fragment und wurde schließlich unter dem Namen Udanax 1999 als OpenSource veröffentlicht.

Das Netzwerk des Wissens ist ein Hypertext. Eric Drexler, Visionär der Nano-Technologie, hatte 1983 selbst zum Xanadu-Projekt beigetragen. Die rasante Entwicklung der Technologie bedarf ganz neuer Methoden des Austausches von Wissen, erkannte Drexler (The Network of Knowledge, aus: Engines of Creation, 1986). Hypertext ist eine der Möglichkeiten. In der Cafeteria des CERN in Genf fanden 1990 Robert Cailliau und Tim Berners-Lee schließlich den Namen, unter dem Hypertext populär werden sollte: World Wide Web.

Das Web hat das Potential, sich zu einer universellen Enzyklopädie zu entwickeln: Richard Stallman, Gründer des GNU-Projektes und bekanntester Verfechter Freier Software, hat die Vision einer freien Enzyklopädie, die alle Bereiche des Wissens abdeckt und an der jedermann mitschreiben darf (The Free Universal Encyclopedia and Learning Resource, 1999). In Wikipedia, der rasch wachsenden Enzyklopädie im Internet (Larry Sanger, What Wikipedia is and why it matters, 2002), hat diese Idee Gestalt angenommen: Hier kann jeder neue Artikel schreiben oder bestehende verbessern. - Damit ist auch eine von Ted Nelsons Vorstellungen aus Xanadu zur Realität geworden.

Der Erfolg des World Wide Web ist ohne Beispiel. Obwohl es keines der klassischen Kriterien erfüllt: Zur digitalen Bibliothek fehlen die planvolle Auswahl und die bibliografische Ordnung. Als Wissensbasis fehlt die zitierbare Beständigkeit. Zur Enzyclopädie fehlt die Redaktion. - Es mangelt nicht an Versuchen, diese Mängel auszubessern. Vielleicht wird das Semantic Web die Basis, damit die unstrukturierten Daten von Agenten recherchiert und vom Computer automatisch verarbeitet werden können (Tim Bernes-Lee, James Hendler und Ora Lassila, The Semantic Web, 2001).

Vielleicht durchstreifen in naher Zukunft virtuelle Bibliothekare ruhelos das Netz der unendlichen Bibliothek, wandern von Festplatte zu Festplatte, um das Wissen zu sammeln und zu ordnen, wie in Neal Stephensons Metaversum. Und ein handliches Gerät, ob eBook oder Hypercard, gibt dem fragenden Leser die letzten Antworten.


Inhalt.




1. Das Galaxikon. Geschichte der unendlichen Bibliothek.
2. Gutenberg 2.0 - Zwischen Softreader und Buchmaschine.
3. World Brain: Von der Enzyklopädie zum Semantic Web.


Berlin 2004

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.08.2008

Alle Rechte vorbehalten

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