Jeden Mittwoch nach Büroschluß zogen Bert, Karl und Paul in ihr Stammlokal "Der Geschenkte Gaul"; es lag nur fünf Minuten Fußweg von der Arbeitstätte der drei entfernt. Und wie jeden Mittwoch, waren sie die letzten Gäste, die der Wirt, ein alter Kumpel von Paul, sanft aber bestimmt durch die Tür schob. Unmittelbar danach hörten sie das leise Summen der elektrisch betriebenen Metalljalousie. Ein klares Zeichen, daß der Wirt niemanden mehr in den Laden lassen würde.
Bert und Paul berieten, wo sie noch einen Absacker ergattern konnten, und zählten alle Etablissements im Umkreis von zweihundert Metern auf. Karl gähnte und meinte, er habe für heute genug. Zum Gruß hob er müde den rechten Arm, allerdings nur bis zur Augenhöhe, und schlurfte davon. Bert und Paul konnten im schwachen Licht der Laternen sehen, wie er in die Straße einbog, in der er wohnte.
Bert und Paul zogen zusammen weiter, in der Hoffnung, noch ein Lokal zu finden, aber alle Läden, die in Frage kamen, hatten bereits geschlossen. Klarer Fall von Verschwörung, sagte Bert und trennte sich von seinem Freund, der die Suche nach einem letzten Drink noch nicht aufgegeben hatte.
Bedächting ging Bert auf das Stadtwäldchen zu. Die kiesbedeckten Wege kannte er alle in- und auswendig, er benutzte sie fast jeden Mittwoch als Abkürzung. Einhundertzweiundzwanzig Schritte vom "Geschenkten Gaul" bis zum Hauptweg des Wäldchens und vierhundertneunundvierzig, bis er am anderen Ende, in der Wiesenstraße herauskam. Zählzwang sei das, was er da mache, neckten ihn die Freunde. Er vertreibe damit nur die Langeweile beim Gehen, verteidigte sich Bert und fing an, die Schritte auf dem knirschenden Kies zu zählen.
Nach einhundertfünfzehn gingen alle Laternen aus, die den Hauptweg säumten. Wie durch Zauberei. Bert schaute auf seine Armbanduhr mit dem beleuchteten Ziffernblatt. Klar, es war Mitternacht, die Stadtverwaltung mußte sparen. Hinter dunklen Wolken schaute hin und wieder ein bleicher Mond hervor. Auch noch Vollmond heute, dachte Bert, und für einen klitzekleinen Augenblick war ihm mulmig. Das fehlte ja noch, daß ich anfange, in der Dunkelheit zu singen. Lieber weitermarschieren. Einhundertsechszehn, -siebzehn, -achtzehn ... Es war Sommer, die Nacht seidig, warm und duftend. Nur eben kohlrabenschwarz. Außer mir sind höchstens ein paar Kaninchen unterwegs, dachte er. Sind Kaninchen überhaupt nachts aktiv?
Der Gedanke erreichte noch nicht ganz Berts Gehirnwindungen, als er die Schritte hörte. Von den zahlreichen Bieren reichlich benebelt, war er nicht sofort in der Lage zu orten, aus welcher Richtung sie kamen. Auf dem Kies hörten sie sich jedenfalls bedrohlich an. Quatsch, dachte Bert, ich werde doch nicht gleich vor Angst in die Hosen machen wie ein kleiner Schuljunge. Andererseits liest man jeden Tag mindestens eine Schauergeschichte in der Zeitung über arglose Spaziergänger in dunklen Parks und so. Die Geschichten gehen meistens nicht gut aus.
Das Geräusch kam eindeutig von hinten. Bert beschleunigte seine Schritte. Die Verfolger auch. Bert lief langsamer weiter. Die Verfolger auch. Plötzlich begann er zu rennen, so schnell seine momentane Kondition es erlaubte. Ein flüchtiger Blick nach hinten bestätigte die Richtigkeit seines Handelns: Im Schein des gerade auftauchenden Mondes erkannte er zwei dunkle und massige Gestalten, die ihm schon gefährlich nahe waren. Trotz ihrer Körperfülle liefen sie mit einer Leichtigkeit, die Bert in einer anderen Situation sicher bewundert hätte.
Warum habe ich bloß nicht auf Karla gehört, dachte er, sie wollte daß ich beim Joggen richtig mitmache. Er hatte einmal ein paar müde Runden mit ihr gedreht und dann das ganze sein lassen. Seine Frau war eh schneller als er. Daß ihre Schnelligkeit vom regelmäßigen Training kam, das wurde Bert jetzt so richtig klar.
Was einem so im Kopf herumspukt, dachte er erstaunt und auch verärgert, denn es war kein einziger brauchbarer Gedanke dabei, der ihm hätte helfen können. Oder doch? Plötzlich, und für die Verfolger sicher unerwartet, wich er vom Hauptweg ab, der jeden seiner Schritte durch lautes Knirschen verriet, und schlug sich in die Büsche.
Trapp, trapp, trapp. Die Verfolger auf dem Kiesweg kamen näher, sie liefen parallel zu Berts Route. Bert mobilisierte seine letzten Reserven, um zu entkommen, und gab sich selbst das Ehrenwort, ab nächsten Sonntag brav und freiwillig mit Karla joggen zu gehen. Und das regelmäßig!
Die einzige brennende Laterne weit und breit, am Ende des Wäldchens in der Wiesenstraße, kam mit jedem Schritt erfreulich näher. Bert schöpfte Hoffnung, doch noch ungeschoren davonzukommen und beschleunigte das Tempo. Dann fiel er hin.
Der Schmerz im linken Bein und Schrecken lähmten ihn, an Aufstehen und Weiterlaufen war nicht mehr zu denken. Das einzige, woran er noch denken konnte war: Hilfe! Rettung! Egal von wem und um welchen Preis! Den beiden finsteren Gestalten wollte er auf keinen Fall in die Hände fallen.
Schon hörte er das Keuchen der Männer, sah sie im schwachen Gegenlicht. Vom gespenstischen Mond beleuchtet sahen die Verfolger aus wie Riesen. Korrektur: Zwei keulenschwingende Riesen. Baseballschläger, dachte Bert und wiederholte stumm den verzweifelten Hilferuf von vorhin an einen unbekannten Retter. Um jeden Preis, schickte er noch flugs den Gedanken hinterher.
"Ja, ja. Immer wieder dasselbe", kicherte das winzige Männlein vor Berts Nase. Es roch nach feuchter Erde und Laub. Es konnte aber auch sein, daß dies das einzige Odeur war, das Bert auf dem weichen Waldboden liegend wahrnehmen konnte.
"Steh schon auf, du Held, ich will dir wirklich helfen." Das Männlein rieb sich die Hände, seine Stimme klang zufrieden. So hörte sich das für Bert jedenfalls an.
"Wer und wo sind die finsteren Kerle, die eben noch hinter mir her waren?" keuchte Bert und hielt seinen schmerzenden Knöchel.
"Du hast um Hilfe gebeten, oder?" fragte das Männlein.
Bert war erleichtert, obwohl ihm der Zwerg und die ganze Situation merkwürdig vorkamen.
"Und was bekommst du für meine Rettung?"
"Was in solchen Fällen so üblich ist", sagte der Zwerg.
"Doch nicht etwa meine Seele?" Bert lachte, aber es war kein heiteres Lachen.
"Die will ich", sagte der Zwerg seelenruhig, "deine Seele."
"Bin wohl im falschen Film", murmelte Bert, "wenn ich die Augen zu- und schnell wieder aufmache, ist alles wie vorher."
"Genau", sagte der Zwerg lakonisch. "Auch die beiden Typen sind genauso hinter dir her wie vorher. Mit Baseballschlägern."
Bert zuckte zusammen. Das Vorher war nicht nach seinem Geschmack, den Zustand wollte er auf keinen Fall wiederhaben.
"Was nun?" drängelte der Zwerg, "kriege ich, was ich will oder wollen wir hier Wurzeln schlagen?"
"Und was passiert mit mir, wenn ich dir meine Seele überlasse?" fragte Bert.
"Das mußt du noch aus den Märchen deiner Kinderzeit kennen", antwortete der Zwerg ausweichend.
"Ich kenne keine Märchen, habe nie welche gelesen. Mir hat auch nie jemand vorgelesen. Überflüssiger Quatsch, haben meine Eltern gesagt."
"Pech für dich. Daß du keine Märchen kennst, meine ich. Also werde ich dich aufklären", sagte der Zwerg gönnerhaft. "Ohne Seele hast du für immer und ewig deine Ruhe. Keine Schuldgefühle, Mitleid, Gewissensbisse und Gefühlsduselei. Du bist frei. So einfach ist das."
"Kann ich die denn wiederkriegen, meine Seele, meine ich?" wollte Bert wissen.
"Wenn du meinen Namen errätst", sagte der Zwerg. Und in seinen langen Bart murmelte er leise: "So ein Schnösel, der nicht mal ein paar Märchen kennt. Daß es so etwas gibt, hätte ich nie gedacht. Für mich allerdings eine fette Beute. Der wird meinen Namen nie im Leben herausbekommen." Er rieb sich wieder die Hände.
"Und wie finde ich dich, wenn ich deinen Namen weiß?" fragte Bert. "Nur so, für alle Fälle?"
"Du kommst einfach hierher und rufst mich beim Namen. Alles klar?"
Als Bert sich vom Boden aufrappelte, war schon der erste helle Streifen am Horizont zu sehen. Dann kam ihm das nächtliche Intermezzo mit dem langbärtigen Männlein in den Sinn. Er habe alles geträumt, weil er nach dem Sturz auf dem weichen Waldboden eingeschlafen sei, dachte er. War doch klar.
Er humpelte nach Hause, bemühte sich, leise zu sein, um Karla nicht zu wecken. Als der Wecker klingelte, rief er gleich im Büro an und sagte, er käme später, er hätte sich auf dem Nachhauseweg den Knöchel verstaucht. Er würde auch bis zum späten Abend bleiben, um die Arbeit, die auf seinem Tisch liege, zu erledigen. Die spöttische Bemerkung seines Chefs, es müsse wohl eine kurze Nacht gewesen sein, überhörte er und legte auf.
Die Ereignisse der letzten Nacht gingen Bert nicht aus dem Sinn. Er habe alles nur geträumt, versuchte er seine Gedanken zu beschwichtigen. Alles Unsinn, was der Zwerg gefaselt habe von wegen keine Gewissensbisse und Gefühle mehr. Vorhin, als er im Büro anrief, war das schlechte Gewissen da, genauso wie sonst. Oder fühlte es sich diesmal doch anders an? Es könnte allerdings nicht schaden, in Märchenbüchern zu stöbern, vielleicht stieße er auf etwas Brauchbares.
Auf dem Weg zum Büro ging er wieder durch das Wäldchen. Er versuchte sich an die Stelle zu erinnern, wo er wohl ein Weilchen gelegen hatte. Er fand sie, die Spuren bestätigten seine Erinnerung, daß er über eine Baumwurzel gestolpert und hingefallen war. Nichts anderes als ein kleiner Unfall nach einem durchzechten Abend, dachte Bert und wollte schon gehen, als er etwas entdeckte. Es waren zwei lange, silbrig schimmernde weiße Haare, die in den Büschen hingen. Und die Abdrücke von sehr kleinen Füßen.
Es war schon fast Mittag, als Bert schließlich im Büro ankam. Karl und Paul grinsten zwar, aber sie sahen auch nicht weniger zerknautscht aus als er.
"Nun, erzähl schon, wo warst du noch?" drängte ihn Karl.
"Im Wald", sagte Bert.
"Die ganze Zeit?"
"Die ganze Zeit."
"Und was hast du gemacht?"
"Nichts." Vom Hinfallen, der Knöchelverletzung, die sich als nicht schlimm herausgestellt hatte, wollte er nicht erzählen. Und von dem Männlein schon gar nicht.
"Was heißt, nichts?" bohrte Paul nach.
"Nichts heißt nichts. 'ne Weile nur dagestanden und ..."
"Wie Rumpelstilzchen, was? Das kannst du jemand anderem weismachen", maulte Karl.
"Ein Rumpelstilzchen?" fragte Bert.
"Kennst du wieder nicht, wie? Rumpelstilzchen kommt aus einem Märchen. Das geht ungefähr so: Die schöne Königstochter muß dem kleinen Männchen aus dem Wald ihre noch gar nicht geborenen Kinder geben, wenn sie seinen Namen nicht errät. Oder so ähnlich."
Berts vorher noch bleiches Gesicht sah plötzlich sehr lebendig aus. "Ich muß mal kurz weg", sagte er, "Bin in zehn Minuten wieder zurück."
"Und wohin, wenn wir fragen dürfen?"
"Ihr dürft. In den Wald", antwortete Bert, steckte sein Handy in die Tasche und verschwand.
Die Anwohner um das Stadtwäldchen herum erzählten noch Monate später übereinstimmend, daß im Sommer, als die Fenster wegen der Hitze offenstanden, sie viele Nächte lang einen ungewöhnlichen Lärm gehört hätten. Und der sei eindeutig aus dem letzten Stück des Wäldchens gekommen. Die Meinungen gingen auseinander, ob es sich um Jammern und Wehklagen oder wütendes Geschrei gehandelt habe. Manche wollen sogar ein winziges Männlein mit langem weißen Bart gesehen haben, das sich die Haare raufte und dabei entsetzlich schrie.
Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Umschlagbild: Aira / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2011
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