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An einem dieser Tage, wie sie es nur im August gibt, mit dem weichen Licht und einer Luft, die plötzlich nach Spätsommer riecht, kehrte ich von einer Kurzreise zurück. Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, wie erschrocken ich war, als ich die verdunkelten Fenster zum ersten Mal sah. Ein schwerer Stoff hing dicht hinter den Scheiben und nahm ihnen den Glanz. Neben den anderen, den blanken, wirkten die stumpfen Vierecke bedrohlich; schwarze Löcher in der hellen Fassade.

Es sei eine Nacht- und Nebel-Aktion gewesen, der Einzug des neuen Nachbarn, sagten die Leute im Hinterhaus, und sie würden sonstwas dafür geben herauszufinden, wer es nötig habe, das Licht aus seiner Wohnung gänzlich auszusperren. Doch nur jemand, der etwas verbergen wolle. Große, schwere Teppichrollen habe man in den vierten Stock getragen und auch einen Flügel, gewaltig und schwarz glänzend, so etwas sehe man nur in Konzertsälen. Man wünschte mir Spaß mit dem Geklimper über mir und den sonstigen Störungen, die sich sicher einstellen würden.

Beide Wohnungen standen mehr als ein halbes Jahr leer, seitdem das ungleiche Paar, das lange Zeit die ganze Etage bewohnte, unfreiwillig ausgezogen war. Ich war es, der eines nachts die Polizei rufen mußte. Solche Nächte hatte es oft gegeben, wenn der Mann die Frau aussperrte und sie mit beiden Fäusten gegen seine Tür hämmerte und nach ihm rief. Sie tat es solange, bis er sie irgendwann hineinließ. In jener Nacht hörte sie nicht auf zu schreien, und als ich zu ihr ging, um sie zu beruhigen, wollte sie mich die Treppe hinunterstoßen. "Er ist tot, ich bin sicher, er ist tot", rief sie immer wieder, auch noch als ein Polizist und ein Sanitäter sie die Treppe hinunterführten.
Sie konnte kaum die Füße heben vor Erschöpfung nach dem stundenlangem Schreien, doch als sie an meiner Tür vorbeikamen, riß sie sich plötztlich los und schlug mit der bloßen Faust meine Scheibe ein. Der Polizist hielt sie fest, während der Sanitäter ihre Hand zu verbinden versuchte. Da wurde der Mann hinuntergetragen, festgezurrt auf einer Trage, mit grauem Gesicht und geschlossenen Augen. Die Frau starrte immer noch mich an, aber ich hatte das Gefühl, sie nahm nichts mehr wahr. Vor meiner Tür brach sie zusammen, ihr Kopf schlug hart auf dem Boden auf. Dann wurde auch sie weggebracht.

Obwohl es zu kalt war, hatte ich alle Fenster im Treppenhaus aufgerissen, während ich die Scherben auflas und das Blut vom Boden wischte. Trotzdem hing tagelang noch ein Geruch im ganzen Haus, der sich verstärkte, je höher man nach oben stieg. Erst als die beiden Wohnungen geräumt worden waren, begriff ich, daß dieser Geruch dort noch festsaß: Eine Mischung aus Hilflosigkeit, unheilbarer Krankheit und vielleicht nahendem Tod.

Die Monate nach dem Vorfall flossen ruhig dahin, die Nächte ohne Lärm und angefüllt mit erholsamem Schlaf. Bis ich an einem Sonntag im August die schwarzen Fenster entdeckt hatte. Obwohl ich fest entschlossen war, das Gerede der Nachbarn nicht zu beachten, hatte ich eine Unruhe gespürt, ein Warten auf etwas Unbestimmtes, vielleicht auch etwas Unheilvolles, ich konnte es nicht genau sagen, was es war. Eine merkwürdige Scheu hielt mich davor zurück, die zweiundzwanzig Stufen nach oben zu steigen und an der Tür der Wohnung im vierten Stock zu klingeln. Tage vergingen, dann Wochen, und ich hatte es immer noch nicht fertiggebracht, meinen neuen Nachbarn oder die neue Nachbarin kennenzulernen. Einmal war ich nach oben geschlichen, um wenigstens den Namen des Menschen zu erfahren, der nun seit einiger Zeit dort wohnte. Auf dem einfachen Messingschild stand nur BECHER, in dünnen schwarzen Buchstaben eingraviert, sonst nichts. Ich war der Meinung, ich hätte den Zeitpunkt, mich vorzustellen, nun endgültig verpaßt.

Herr oder Frau Becher ging niemals aus, nicht tagsüber und auch nicht nachts. Dafür kam regelmäßig, an jedem Mittwoch nachmittag, ein Mann mittleren Alters ins Haus. Wenn er nach oben ging, trug er schwere Einkaufstaschen in beiden Händen, kam er von oben, hatte er volle Müllbeutel bei sich.
"Sie sind sehr neugierig." Der Mann hatte einen Dreitagebart und schenkte mir ein Lächeln im Vorbeigehen, als er mich in der geöffneten Tür meiner Wohnung stehen sah.
"Ich muß schließlich wissen, wer hier ein- und ausgeht."
"Nur ich." Er lächelte immer noch. "Gehen Sie wieder schlafen, Sie sehen müde aus. Und übrigens: Die Dame über Ihnen, die wird niemanden stören."

Nachdem er gegangen war, standen die vollen Einkaufstaschen bis zum späten Abend vor der Tür der Wohnung über mir so wie die Mülltüten an jedem Mittwochmorgen. Immerhin wußte ich jetzt, daß mein neuer Nachbar eine Nachbarin war.

In jener Zeit arbeitete ich viel, in den Nachtstunden ging es am besten, ohne die Geräusche im Haus, die mich abgelenkt hätten. Und die Schritte in der Wohnung über mir, das leise Knacken der alten Holzdielen, die waren mir nach ein paar Tagen vertraut. Bald wußte ich, wann Frau Becher ihr Auf- und Abgehen beenden, sich an den Flügel setzen und ihr Konzert beginnen würde. Jedesmal dachte ich, sie spiele auch für mich. Sie spielte meisterhaft, die Klänge kamen so rein durch die Altbaudecke, daß ich beim Schreiben oft innehielt, die Finger noch auf der Tastatur, und wenn sie mit dem Stück fertig war, mußte ich seitenweise unverständliche Zeichenfolgen auf dem Bildschirm meines Schreibcomputers löschen. Warum meine Nachbarin schwarze Vorhänge brauchte, danach mochte ich den freundlichen Mann, der an jedem Mittwoch kam, nicht fragen. Lieber dachte ich mir selbst immer neue Gründe aus für die Verdunkelung und ihre Notwendigkeit.

Die Zettel, die irgendwann auf dem Briefkasten von Frau Becher klebten, hielt ich für einen derben und dummen, aber harmlosen Scherz, sonst nichts; ich hatte sie jedesmal abgerissen und in den Müll geworfen.

Eines Tages aber kam mir der Mann zuvor, der für meine neue Nachbarin die Einkäufe erledigte. Er würde dem, der solche Dinge mache, den Hals umdrehen, brüllte er. Seine Stimme war im ganzen Haus und im Hof zu hören. Den Zettel steckte er ein, vorher aber sollte ich einen Blick darauf werfen. Es stand dasselbe darauf wie auf den anderen, die ich alle weggeworfen hatte.
"Wieviele?" fragte er.
"Vielleicht neun. Oder zehn."
"Geben Sie sie mir, wenn Sie neue entdecken?"
"Ja", sagte ich. Danach gab es aber keine Zettel mehr, auf denen stand: Finsteres Gesindel wollen wir hier nicht haben! Oder: Ratten gehören vergiftet!

Ich frage mich immer noch, warum ich nicht bemerkt hatte, daß nach dem Einzug von Frau Becher die Leute im Haus mir aus dem Weg gingen. Daß die sonst so neugierige Hauswirtin nach einem einzigen Gespräch über die neue Nachbarin niemals wieder versuchte, mich auszufragen. Dabei warnte sie mich vor "finsterem Gesindel" und gab mir den dringenden Rat, meine Tür stets gut verschlossen zu halten. "Ratten gibts überall, und die kommen nachts, wenn Sie verstehen, was ich meine."
Ich weiß noch, daß ich gelacht hatte und antwortete, meine neue Nachbarin sei eine begnadete Pianistin und ich froh, daß sie hier wohne. Die Hauswirtin sah mich nachdenklich an, schüttelte den Kopf und sagte, sie wisse es anders.

Wieder kam ich von einer Reise zurück, als meine Nachbarin aus dem Haus getragen wurde. Sie lag auf einer Trage und war mit einer dicken schwarzen Kunststoffplane zugedeckt. Der Mann mit dem Dreitagebart ging weinend neben den Polizisten und nickte kurz, als er mich erkannte.

Im Lokalteil meiner Tageszeitung fand ich zwei Tage später die kurze Nachricht: "Die bekannte Pianistin, Dorothea Becher, starb hilflos in ihrer Wohnung. Sie litt seit Jahren an einer seltenen Lichtallergie, die aber nachweislich nicht die Todesursache war. Es ist nicht auszuschließen, daß sie vergiftet wurde. Die polizeilichen Ermittlungen dauern an."


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Texte: Alle Rechte bei der Autorin Umschlagbild: Rainer Sturm / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2011

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