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Ich wäre jetzt gern bei Dir. Wir würden spazieren gehen in Deiner Stadt oder mit den Bussen den Ku'damm rauf- und runterfahren. Ich würde oben ganz vorne sitzen und die Bäume zählen. Keiner hier wollte mir glauben, als ich erzählte, daß der Tiergarten ein Park ist, mehr ein kleiner Wald mitten in der Stadt, dessen Bäume im letzten Kriegswinter gefällt werden mußten, weil die Menschen nichts mehr zum Heizen hatten. Und daß die Bäume wieder nachgewachsen sind.

Ob die Kaninchen sich wieder erholt haben vom Lärm der letzten Love Parade? Und hast du das Affenweibchen im Zoo mal besucht, das mir den Schal gestohlen hat, während wir uns küßten? Backt Deine Mutter immer noch jeden Sonntag diese himmlischen Kuchen, mit denen ich mir regelmäßig die Figur ruiniert habe? Blüht der Hibiskus wieder, den ich noch vor meiner Abreise umgetopft habe? Vermißt der Kater mich? Hat er nach mir gesucht? Vermißt Du mich?

Wenn mir jemand prophezeit hätte, ich würde mich in Deine Stadt verlieben, hätte ich ihn ausgelacht. Ich hätte geantwortet, ich sei zum Arbeiten gekommen und nicht, um mich zu verlieben. Und um mein Deutsch zu verbessern. Du warst ein guter Coach, Basti, aber am Anfang terribly streng. Es ist doch spaßig, beide Sprachen in einem Satz zu benutzen, wenn man weiß, daß auch der Gesprächspartner beide spricht. Das war mein Argument. Du warst gänzlich anderer Meinung. Der gestrenge Herr Sebastian Mohr sagte zu mir, er müsse dafür Sorge tragen, daß ich nach sechs Monaten Aufent-halt in Deutschland mit den Kunden der Bank in N.Y. korrektes Deutsch sprechen könne und kein Kauderwelsch. Als ich fragte, was Kauderwelsch sei, wurde mein Coach verlegen. Na, ein Mischmasch eben. Und was ist Mischmasch, bitte? Etwas Ähnliches wie Kauderwelsch, wenn nicht sogar dasselbe. Du hattest recht, die Kunden bei uns haben keinen Spaß daran und ich habe auch nur ein- bis zweimal versucht, es anzubringen. Großes Ehrenwort!

Du glaubst nicht, wie sechs Monate Aufenthalt in Deiner Stadt meine Hörgewohnheiten verändert haben. Immer noch zucke ich zusammen, wenn Polizeiautos mit heulenden Sirenen an mir vorbeifahren. Kann es sein, daß ich mich nur deshalb in Deine Stadt zurücksehne, weil dort Polizei und Feuerwehr ein anderstönendes Warnsignal benutzen? Oder liegt es vielleicht an den Unmengen von Bäumen mittendrin und drumherum und den vielen Seen in ihrer Nähe und der S-Bahn, mit der wir stundenlang in alle Richtungen gefahren sind? Mein Coach deklarierte diese Streifzüge bei der Geschäftsleitung als unerläßliche Besichtigungstouren für die Mitarbeiterin aus N.Y. Auch wenn in Euren Supermärkten kein Mensch meine Sachen an der Kasse in Papiertüten packt, würde ich jetzt gerne mit Dir einkaufen gehen. Ich würde auch das dunkle Brot essen und Deinen strafenden Blick aushalten ob meiner Unkenntnis französischer Käsesorten und Weine. Und ohne Gewissensbisse würde ich mich hinsetzen wie eine Drohne und zusehen, wie Du das Essen zubereitest. Ich würde dabei den Kater kraulen und ihn davon abhalten, Fleisch und Fisch auf der Arbeitsplatte näher zu untersuchen.

Was macht Herr Lehmann jetzt ohne mich? Eine so tüchtige Mitarbeiterin hätte er noch nie gehabt, sagte er mindestens einmal am Tag zu mir. Daß er das zu allen sagt, hatte mir seine Sekretärin gesteckt. Was für Bilder hängen jetzt im Foyer und in den Gängen? Wieso mögen Banken soviel Minimalistisches? Löst das nicht falsche Assoziationen bei Besuchern aus? Ich würde üppige Stilleben und großartige Szenen mit kostbarem Interieur an die Wände hängen. Sozusagen als Hinweis: Seht her Leute, all das könnt ihr euch leisten, wenn ihr euer Geld bei uns anlegt. Ich weiß, ich verstehe den europäischen Hang zum Understatement nicht. "Wohlstand kommuniziert man bei uns anders", sagte Herr Weiser, der die Ausstellungen organisiert. Außerdem hätte ich einen typisch amerikanischen Geschmack. Was er allerdings damit meinte, hat er mir nicht verraten. Gern hätte ich mich mit ihm über den Unterschied zwischen europäischem und amerikanischem Geschmack unterhalten. Leider war er jedesmal ganz furchtbar beschäftigt, wenn ich ihn darauf ansprach. An meinem ersten Arbeitstag in N.Y. bin ich gleich durch alle Flure gegangen, habe in alle öffentlich zugänglichen Räume einen Blick geworfen, um die Bilder dort auf mich wirken zu lassen. Herr Weiser hatte recht, sie sind anders als bei Euch. Wie anders? Na, eben typisch amerikanisch. Du mußt herkommen und Dir Deine eigene Meinung bilden.

Doch bevor Du es schaffst hierherzukommen, komme ich mindestens einmal zu Dir. Spätestens zu Weihnachten. Selbst während ich auf meinen Flieger warte, kann ich nicht anders, ich muß Dir schreiben. Nicht per E-Mail, ich will, daß Du von mir hin und wieder einen altmodischen Brief per Postzusteller bekommst. Vielleicht bin ich schon beeinflußt von Eurer Vorliebe für Dinge, die bleiben, die man in den Händen halten und anfassen kann. Ein handgeschriebener Brief hat unglaubliche Vorteile: Man kann ihn immer wieder auseinanderfalten, einzelne Stellen oder alles von vorn bis zum Schluß lesen oder nur Zeilen davon. Für handschriftliche Briefe braucht man eine Menge Bögen und ein dicker Packen ist das Resultat, wenn man viel zu sagen hat: Du fehlst mir.

Erinnerst Du Dich noch an unsere Diskussionen über die Zeit? Die vergangenen sechs Monate waren für mich am Anfang ein handliches Päckchen, das ich bei mir tragen und überall leicht unterbringen konnte. Mittlerweile hat sich der Inhalt verdichtet, aus dem Päckchen ist ein Paket geworden, das von Tag zu Tag schwerer wird und sich nicht mehr ohne Probleme irgendwo verstauen läßt: Klappe zu und das Ding ist nicht zu sehen. Zum Beispiel, wenn ich im Büro sitze und jemand mich in einer wichtigen Angelegenheit sprechen will. Dann habe ich neuerdings Mühe, mein Paket schnell zu verschließen und es für den Besucher unbemerkt unter den Schreibtisch zu schieben.

Meine Theorie, es existierten alle Zeiten übereinander und man könne, wenn man nur die Zugangsmodalitäten kennte, von einer auf die andere Zeitebene wechseln, hatte lediglich ein befremdetes Lächeln auf den sonst freundlichen Zügen meines Coachs aufscheinen lassen. Lächelst Du immer noch so, wenn ich Dir jetzt sage, daß ich mich mühelos zwischen den Ebenen der Jetztzeit und der jüngsten Vergangenheit bewege? Daß ich nur mit den Fingern zu schnippen brauche und schon bin ich hier oder dort? Dabei gelingt mir eine Intensität der Nähe, als wäre ich immer noch bei Dir. Hast Du nicht mal selber gesagt, Du hättest ähnliche Dinge auch erlebt? Letzte Woche habe ich im Vorbeigehen die Schlagzeile auf dem Titelblatt irgendeiner deutschen Zeitschrift gelesen: Gibt es Parallelwelten? Derjenige, der die Frage stellt, ist der berühmte Mr. Hawking. Wenn schon so hochkarätige Wissenschaftler über die Sache nachdenken wie er ... Was mich angeht, ziehe ich die Praxis der regelmäßigen Zeit-Grenzüberschreitungen vor. Weil sie mich trösten. Womit tröstest Du Dich über die Zeit hinweg, in der wir uns nicht sehen können? Ist Dein Paket leicht, mittelschwer oder ganz gewichtig? Liegt auch Deines meist geöffnet irgendwo dort herum, wo Du dann bei der Durchsicht seines Inhalts gestört wirst? Schaffst Du es, Deines jedesmal rechtzeitig vor Unbefugten in Sicherheit zu bringen?
Ich wäre jetzt gern bei Dir. Seitdem ich aus Deutschland zurückgekehrt bin, halte ich die Wochenenden in N.Y. allein nicht aus, lieber fahre ich zu meinen Eltern nach Boston. Den letzten Samstag habe ich mit Arbeit im Büro verbracht, dafür konnte ich den Montag freinehmen.

Ich war beim Arzt. Er versprach, mir noch vor meiner Abreise das Ergebnis mitzuteilen. In aller Frühe rief er heute an.
Wann genau beginnt menschliches Leben? Manche meinen, es sei der Moment der Zeugung, für andere ist es die erste spürbare Bewegung des Embryos im Mutterleib. Ich stelle einen neuen Ansatz zur Diskussion: Es ist der Augenblick, in dem eine Frau mit Sicherheit weiß, daß sie neues Leben in sich trägt. Und sich darauf freut. Dieses Datum möchte ich ganz groß und in Leuchtschrift schreiben, am besten in Worten, dann ist es eine lange Zeile, ein langer Schriftzug mit viel Bedeutung: ELFTER SEPTEMBER ZWEITAUSENDUNDEINS. Ob die Leute in der Bank in vier bis fünf Monaten immer noch einen Zusammenhang zwischen meiner Körperfülle und Mummy Mohrs verführerischen Süßspeisen herstellen werden, von denen ich so ausführlich erzählt habe?

Ohne Frühstück bin ich zum Flughafen gefahren. Mum und Dad habe ich nicht geweckt, nur einen kurzen Brief hinter­lassen. Du hast sicher nichts dagegen, daß sie es schon wissen.
Auch wenn ich noch so ungeduldig bin, wirst Du diese Nachricht nicht auf einem flimmernden Bildschirm lesen. Du wirst warten müssen, bis mein Brief bei Dir ankommt. Ich werfe ihn noch hier in den Briefkasten.
Basti, es wird gut. Stell Dir vor, ES wird alles Gute und Schöne von uns erben! Hoffentlich auch ein paar Schrullen. Ein gänzlich pflegeleichtes Menschlein wäre mir suspekt.
Die letzten Tage waren hektisch und teilweise chaotisch, meine Wiedereingewöhnung gestaltet sich ausgesprochen problematisch: Ich bin nicht mehr dort, aber noch nicht ganz hier. Liegt es vielleicht daran, daß ich viel lieber dort wäre, bei Dir? Die Freude über das Neue und Unbekannte mischt sich mit Sehnsucht nach Dir. Wird der Kater ein schreiendes Baby mögen?

Weißt Du, was links, hinter der Eingangstür meines Büros hängt? Ein Maßband. Ich fand es im Abschiedspäckchen von Mummy Mohr. Am Tag meiner Rückkehr habe ich es auf 146 gekürzt, auf die Anzahl der Tage bis zum 24. Dezember. Seitdem schneide ich jeden Tag einen Zentimeter ab. Eine anschauliche Art, Zeit kürzer werden zu sehen.
Mein Flug wurde eben aufgerufen. Basti, es tut mir so leid, daß ich jetzt aufhören muß zu schreiben. Nur dafür bleibt mir noch Zeit: Ich umarme Dich. Deine Leslie

Der Brief traf am 20. September bei Sebastian Mohr ein. Am selben Tag erhielt er die amtliche Mitteilung, daß Leslie White eine der Passagiere der Maschine gewesen sei, die in den Morgenstunden des 11. September 2001 in Boston entführt wurde und den ersten Turm des World Trade Centers zum Einsturz brachte. Sebastians Anschrift habe man, unter den Papieren von Leslie, in der unversehrt gebliebenen Handtasche gefunden.


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Texte: Alle Rechte bei der Autorin Umschlagbild: LWThiele / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2011

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