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Otti liegt vor der verschlossenen Wohnungstür und langweilt sich. Nach seiner inneren Uhr müßten die Beiden längst zurück sein. Das haben sie ihm versprochen. Freilich kann sich auch ein Kater irren, besonders in den späteren Lebensjahren, wenn die Wachphasen am Tag immer ein bißchen kürzer werden und die mit Dösen verbrachte Zeit dafür etwas länger.
Nicht daß einer denkt, er liege nur noch faul herum, mal auf dem einen, mal auf dem anderen seiner Lieblingsplätze. Genau betrachtet ist die ganze Wohnung sein bevorzugter Platz und wenn jemand denn fragte, wer hier wem aus der Hand frißt, ja dann wäre die Antwort ganz klar. Oder?
Aber in diesem Augenblick fragt niemand, keiner ist da, dem Otti - nur so zur Demonstration - vorführen könnte, wie betrübt er ist. Vor Kummer soll schon manch ein Tier sogar gestorben sein ...
Otti rappelt sich auf, schlendert in die Küche, von dort ins Wohnzimmer. Wie es sich für einen ordentlichen Katzenhaushalt gehört, stehen hier alle Türen offen, auch die zum Arbeitszimmer. Von dem bequemen Stuhl aus beobachtet er eine Weile die Vögel. Die Sache gibt diesmal nicht viel her, die Piepmätze sind nur langweilig, die piepen bloß. Und flattern. Wenn die Balkontür geschlossen ist, wie jetzt, fliegen sie ganz nahe an der Scheibe vorbei. Nur um einen Kater verrückt zu machen. Naja, die Zeiten sind vorbei, da er sich von diesem lauten und aufgeregt umherflatternden Volk verrückt machen ließ.
Hatten die Beiden nicht gesagt, sie kämen heute nicht zu spät zurück? Oder war das vorgestern, als sie geschniegelt und frisch parfümiert plötzlich vor der Eingangstür standen, schuldbewußt seinen großen Kopf tätschelten und versprachen, früh zu Hause zu sein? Was ist für Menschen früh und was spät? Also, heute kann es nicht gewesen sein, weil er sich noch gut daran erinnert, daß er nach dem Tätscheln Stunden brauchte, um das übelriechende Zeug von seinem Kopf wieder loszuwerden. Nach der Prozedur schmerzte seine rechte Vorderpfote.

Die letzte Helligkeit hat sich schon in die Bäume und Sträucher im Hof zurückgezogen; wo sonst bleibt sie denn während der Nacht? Keine Lust, jetzt darüber irgendwelche Betrachtungen anzustellen. Otti plumpst nachlässig und entsprechend schwerfällig vom Stuhl. Jetzt ist eh niemand da, der einen eleganten und geschmeidigen Sprung bewundern könnte, wozu also die Anstrengung? Auch wenn er sonst so tut, als würde ihm die Bewunderung seiner beiden Menschen nichts, aber auch gar nichts ausmachen, jetzt fehlt sie ihm doch. Die beiden fehlen ihm. Und der Magen meldet sich auch.
Otti kehrt zur Eingangstür zurück, er legt sich davor. Wenn er sich ganz ausstreckt, ist er von der Nasen- bis zur Schwanzspitze so lang wie die Tür breit ist. Oder fast so lang. Wer streitet schon um Millimeter. Er liegt in seiner prachtvollen Länge vor der Tür und seufzt. Wenn die Beiden nicht bald kommen, finden sie ihren Lieblingskater steifgeworden vor. Und das nicht nur wegen der Zugluft, die ganz schön zu spüren ist. Von wegen gut abgedichtete Türen! Otti streckt sich noch ein bißchen und bleibt so liegen. Bilder von früher und die dazugehörigen Gerüche kommen ihm in den Sinn. Schönes und Schlimmes, ein wildes Durcheinander aus Erinnerungen, an ein bis jetzt recht ereignisreiches Katzenleben. Er sieht sich auch als junges Kätzchen, was bei ihm rasch vorbei war: Aus dem kleinen tapsigen Jungkater ist ein echter Riese geworden, mit großem rundem Kopf und ebensolchen Augen.
Was ist mit ihm nur los? Ist das schon das Ende? Menschen erzählen immer, daß kurz bevor einer stirbt, ihm das ganze Leben wie ein Film vor Augen ablaufe. Otti läßt einen langen schaurigen Klagelaut ertönen. Aber selbst zum Klagen ist er zu müde geworden. Alte Kamellen aus dem Gedächtnis kramen ist anstrengend. Otti schläft ein.

Er träumt von einem vollen Napf mit merkwürdigen bunten Kügelchen darin, die hin- und herhüpfen. Appetitlich sehen die nicht aus, aber die Tatsache, daß sie sich bewegen, macht sie für einen Kater interessant. Er schnappt nach ihnen, erwischt ein paar. Er schluckt sie hinunter. Brrr! Schmecken die scheußlich!
Ihm ist plötzlich elend und ganz schwindlig. Im ganzen Körper kribbelt es, von den Ohren bis zu den Krallen­spitzen. Mit jedem Atemzug wird es schlim­mer. Irgendwann hört das Kribbeln auf und Otti steht wieder sicher auf vier Pfoten.
Komisch, vorhin noch war die Türklinke so hoch, jetzt kann er sie mit der Nase erreichen. Irgendwie ist der Flur kleiner geworden. Er schaut sich um. Alles um ihn herum ist kleiner geworden. Otti macht seine gewohnte Runde in der Wohnung, stößt aber überall an. Als würden die Möbelstücke ihn nicht vorbeilassen wollen. Diese blöden Kugeln. Wovon sonst soll dieses merkwürdige Gefühl kommen. Er geht zur Tür zurück und betrachtet sie aufmerksam. Der Briefschlitz, durch den er manchmal das Treppenhaus beobachtet, ist jetzt weit unten, er muß den Kopf ganz schön senken, um hinausspähen zu können. Nun begreift er, was geschehen ist: Er ist gewachsen! So groß geworden wie seine Menschen! Wenn nicht noch größer!
Otti macht ungewollt einen Sprung, ob vor Überraschung oder Freude, das weiß er nicht recht. Aber als sein jetzt so riesiger Kopf dabei gegen die Eingangstür donnert, macht ihn der Schmerz schlagartig wach.

Uff! Noch einmal glimpflich davongekommen. Stelle sich einer mal vor, was gewesen wäre, hätten seine Menschen ein Riesenmonster von Kater vorgefunden bei ihrer Heimkehr!
Otti rappelt sich hoch, sein Kopf brummt. Er schüttelt sich in der Hoffnung, das Brummen würde dadurch aufhören. Beinahe verpaßt er dabei, ins Treppenhaus zu horchen. Von dort hört er nämlich Schritte, die er gut kennt. So schnell seine Benommenheit es zuläßt, verschwindet er im Arbeitszimmer. Als der Schlüssel im Schloß umgedreht wird, liegt er schon im bequemen Lehnstuhl, für die Heimkehrenden nicht sofort sichtbar.
"Wo ist unser Lieblingskater? Wo ist unser lieber Otti?"
Otti rührt sich nicht, kein Schnurrhaar ist in Bewegung, der Schwanz nicht und auch nicht die Ohren: Den Begrüßungsspruch könnten seine Menschen bald mal gegen einen neuen austauschen.
Licht wird angeknipst, Otti blinzelt in die plötzliche Helligkeit. Er muß sich nicht einmal verstellen, das Lampenlicht trifft seine Augen unerwartet, es tut fast weh. Gut, daß Katzenpupillen eine besondere Konstruktion sind.
"Er hat uns gar nicht vermißt." Große Enttäuschung in den Stimmen der Beiden.
Wenn ihr wüßtet.
Otti erhebt sich langsam von seinem Lager, streckt mit gewohnter Eleganz die beiden Vorderpfoten vor und springt geschmeidig vom Stuhl. Die Bewunderung im Blick seiner Menschen spürt er im Rücken. Es ist wie Wärme. Er folgt den Beiden in die Küche. Erst nachdem er den halben Napf leergefressen hat, läßt er sich von ihnen kraulen.
"Unser Kater hat einen kleinen Schock", sagen die Beiden fast synchron.
Otti fängt an zu schnurren.

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Tag der Veröffentlichung: 07.07.2011

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