Ich war vier als mir klar wurde, dass ich anders war. Als mir klar wurde, dass nicht jeder den kleinen bunten Mantel um die Haut der Menschen sieht. Ein Mantel, der sich um die Haut schmiegte und alle Farben des Regenbogens wieder spiegeln konnte, ein Mantel –wie eine zweite Haut- der die Gefühle der Menschen zeigte. Wenn sie logen, zog sich der Mantel zusammen, wenn ihnen etwas auf den Herzen lag, erstarrten die sonst immer fließenden Farben. Die Aura. Die Aura der Menschen um mich herum und Wildfremder. Wann immer ich wollte, konnte ich mir ihre Gefühle angucken und in ihnen lesen wie in einem Buch, sah wenn sie traurig waren und wann wütend.
Als ich sie kennen lernte war ich drei, damals dachte ich noch, es wäre normal die Gefühle der Menschen zu sehen. Ihre Aura war stets grün in einem leichten, sanften Ton, wie die ersten Knospen eines Baumes im Frühling- genau deshalb habe ich mich mit ihr angefreundet. Damals. Nach einigen Jahren jedoch schätzte ich nicht nur ihre wunderschöne Aura, die mich jeden Tag glücklicher machte, sondern auch ihren großzügigen und ruhigen Art, wobei sie niemals viel sprach.
Ihr Lachen. Ja, das war schön. Zum Glück gingen wir auf dieselbe Schule, Getuschel und Gerüchte begleiteten uns immer: wir seien verliebt. Aber war bedeutete schon Liebe? Liebe… Liebe ist ein saftiger, leuchtender rot Ton, den ihre Aura nie zeigte. Genauso wenig wie ihre Aura den dunklen, matten rot Ton der Wut zeigte.
Wir spielten oft im Sandkasten, auch als sie eines Tages ganz anders war. Nein, nicht sie war anderes sondern nur ihre Aura- denn sie lachte und schien glücklich zu sein wie immer. Doch ihre Aura war dunkelblau, vielleicht auch etwas lila gefärbt.
Wir waren elf.
Ich habe sie natürlich gefragt, was passiert sei, doch sie hatte gelacht und gesagt es sei alles okay. Gestern haben sie und ihr neuer Stiefvater sogar zusammen gespielt, etwas was er vorher noch nie gemacht hatte, erzählte sie mir und ihre Aura zog sich fast ängstlich zusammen. Aber was bedeutete schon Angst? Angst… Angst ist ein dunkelblauer Ton, der sich manchmal mit einem dunklem Schwarz aus Schmerzen, oder einen dunklem Lila der Verzweiflung zusammen tat. Angst leuchtete nie.
Ich habe mir etwas Sorgen gemacht, denn die Aura log nie, doch warum wollte sie es mir nicht erzählen? An diesen Tag schlug sie vor, eine Welt nur für uns zu Erfinden. Eine Welt die keinen Namen hatte, denn die Leute sprachen dort nicht. Sie konnten allein durch ihre Gedanken reden. Eine Welt in der es kein Hunger und kein Leid gab. Eine Welt nur für uns. Nur für uns. Uns.
In den nächsten Wochen veränderte sich ihre Aura täglich, manchmal sah ich ein grelles orange der Entschlossenheit oder des Kämpfergeistes. Oder ich sah wie sie aufgab. Aber was bedeutete schon Aufgeben? Aufgeben… Aufgeben ist ein ganz heller grau Ton, denn er hatte keine Kraft mehr um dunkler zu werden- so erklärte ich es mir immer.
Auf der neuen Schule unternahmen wir mehr zusammen, wir gingen im Sommer schwimmen und im Winter Eis laufen. Manchmal legte ich einen Arm um sie, um sie in der Kälte zu wärmen, oder ich nahm ihre Hand, um sie beim Eis laufen zu stützen, doch immer wieder zuckte sie zurück und entschuldigte ihre Reaktion mit einen matten Lächeln.
Immer wenn ich sie berührte wurde ihre Aura und schrecklich blau vor Angst. Dunkelblau. Kein leuchtendes grün mehr, so wie ich sie kennen gelernt habe. Nein sie wirkte bedrückt und ihre Farben flossen nicht mehr. Wenn ich sie darauf ansprach, meinte sie nur, sie sei nicht bedrückt, sie dächte über unsere Welt nach- in der kein Mensch sprechen musste und es kein Leid gab.
Mit vierzehn vielen mir dann zum ersten Mal die kleinen Risse in ihrer Aura auf. Als hätte man ein Messer genommen und den Mantel zerschnitten, hier und da gab es keine Aura mehr. Keine Seele. Mit all meiner Macht versuchte ich die Löcher zu heilen, unternahm noch mehr mit ihr und versuchte ihr all meine Glücklichkeit zu schenken. Doch sie wurden jeden Tag stiller und ihrer Aura zerrissener.
Nach den Osterferien erkannte ich sie nicht wieder, denn sie wirkte so erschöpft und kraftlos, dass ich erst gar nicht bemerkte, dass sie gebrochen war. Sie war kaputt. Ihre Seele, ihre Aura. Sie war gebrochen, jemand hatte sie gebrochen! Angst und Schmerzen wurden ihr ständiger Begleiter und meiner auch, denn all meine Versuche sie aufzumuntern wirkten nicht. Niemals wieder sah ich das satte Grün, was mich so bezaubert hatte.
Als ich dann bei ihr übernachtete verstand ich endlich, was passiert war und er sie gebrochen hatte. Ihr Stiefvater. Es war nicht wie er sie anschaute, oder über sie sprach- es waren seine Gefühle, seine Aura die ihn verriet. Gier und Lust. Aber was bedeutete Lust? Lust… Lust ist ein heller lila Ton der sich mit roter Liebe mischt. Doch es war keine richtige Liebe, es war nur körperlich, eine abscheuliche Farbe. Was hatte er ihr angetan?
Als ich endlich verstand, glaubte ich, ich könnte es verhindern. Ich sorgte dafür, dass wir lange draußen waren, sie oft bei mir übernachtete und eine abends sprachen wir miteinander. Ein ernstes und bedrückendes Gespräch, wobei es uns beiden gleichzeitig gut tat, über unsere Probleme zu sprechen. Ihr Problem war eindeutig. Mein Problem war, dass sie eins hatte und ich es nicht ändern konnte. Einen kurzen Moment erhaschte ich einen Blick auf ihre Aura, die sich grün Färbe, vor Erleichterung und Freude. Aber was bedeutete schon Glück? Glück… Glück ist ein heller grün Ton- klar und leuchtend, so wie ich sie kennen gelernt habe. Glück leuchtete immer und für einen Moment war sie wie ein Stern. Nur für einen Moment. Leider.
Im nächsten Jahr, war es fast schmerzlich ihre Aura zu sehen, denn es wurde jeden Tag schlimmer und ich flehte sie an mit jemand zu reden. Ihrer Mutter. Der Polizei. Aber ein Nein war immer die Antwort und sie brauchte nicht mehr sagen.
Fünfzehn. Ein Jahr noch und wir würden unser Abitur machen. Danach könnte ich mir vielleicht eine Wohnung leisten und wir könnten zusammen ziehen. Vielleicht würde ich auch sofort nach der Schule mit einer Ausbildung anfangen, hatte ich mir überlegt- aber dazu kam es nie. Sie zog um. In eine große Stadt, wo niemand seinen Nachbarn kannte. Dort würde es nicht so sein wie hier. Ich würde nicht da sein, nicht bei ihr und sie würde nicht bei mir sein. Was sollte ich nur ohne sie machen, mein Leben lang war sie meine beste Freundin gewesen- sogar viel mehr!
An dem Tag, an dem sie umzog, umarmte ich sie das erste Mal, ohne dass sie zurück zuckte. Wie weinten, Arm im Arm und versprachen einander in Kontakt zubleiben.
Sie hatte gelogen. Doch mit Tränen im Gesicht hatte ich ihre Aura nicht ganz erkennen können.
Meine Anrufe blieben unbeachtet, meine Briefe unbeantwortet und meine Gefühle unerhört. Jahre vergingen, ich beendete mein Abitur und begann zu arbeiten. Keinen Tag vergaß ich sie, keinen Tag dachte ich nicht zurück an sie und ihre zerstörte Seele, die früher so wunderschön war.
Ich hörte auf, mir die Aura von anderen Menschen anzugucken, zu sehr fürchtete ich etwas Erschreckendes zu sehen. Doch bei kleinen Kindern konnte ich nicht widerstehen und schaute, ob sie auch irgendwann zerbrechen würden. Nein, die Meisten hatten eine schöne Kindheit. Manchmal sah ich Männer an Spielplätzen stehen, die lila leuchteten und Wut stieg in mir hoch. Ich verabscheute sie! Sie alle! Sie waren wir der Stiefvater von ihr.
Dreiundzwanzig war ich, als ich eines Morgens in den Spiegel schaute und zum ersten Mal mir meine eigene Aura anschaute. Warum hätte ich es denn auch tun sollen, ich wusste wie ich mich fühlte. Das dachte ich, doch als ich in den Spiegel sah, sah ich keine Grün mit etwas blauer Trauer. Nein ich sah eine gebrochene Seele, schwarz voller Schmerz und ein helles, aber nicht mehr leuchtendes Rot der Liebe- die niemals erwidert wurde.
Sie. Ich vermisste sie. Ich konnte ihr nicht helfen und sie so zu sehen hatte mich zerstört. Vorwürfe konnte ich ihr trotzdem keine machen, denn ich liebte sie ja. Aber was bedeutete schon Liebe? Liebe war genau dieses unbeschreibliche Gefühl, was ich verspürte wenn ich an sie dachte.
Seit diesem Tag konnte ich nicht mehr glücklich werden. Aber was bedeutete schon Glück? Glück war genau das, was ich verspürt hatte, hatte ich sie in meinen Armen halten können.
Ich besuchte ihre Großmutter und fragte nach einer Adresse, eine Telefonnummer- irgendwas. Doch die Frau erklärte mir, dass sie vor ein paar Jahren –nach ihren Abitur- untergetaucht sei. Einmal hatte sie sich gemeldet, nach drei Monaten, und gesagt sie hätte eine schöne Wohnung gefunden und sei nun glücklich. Als ihre Großmutter nach der Stadt gefragt hatte, meinte sie nur lachend, die Stadt hätte keinen Namen. Ihre Großmutter, war verärgert über die Antwort und legte auf, doch ich lächelte nur. Es war ein schwaches, verzweifeltes Lächeln. Ich gab auf. Aber was bedeutete schon Aufgeben? Aufgeben war genau der Beschluss den ich nach diesen Satz traf.
Genau deshalb saß ich an einem Sommertag, drei Tage nach dem Besuch bei ihrer Großmutter, auf einer Brücke über einer Autobahn. Sie hatte immer Angst. Aber was bedeutete schon Angst? Angst war genau das, was ich fühlte als ich die vorbei rasenden Autos unter mir sah. Ich hätte sie früher suchen sollen, ich hätte ihr früher helfen sollen.
Während ich den sanften Wind in meinen Haar spürte, dachte ich noch mal an sie. Ihre grüne Aura. Ihre zerbrochene Aura. Ihr Lachen. Ihre Umarmung.
Ich wünschte ich könnte sie finden, dachte ich auf der Brücke und schaute in den Sonnenuntergang. Eine Stadt ohne Namen, in einer Welt ohne Namen, denn die Menschen mussten nicht sprechen. Ich lächelte und schloss die Augen.
Und fand sie
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Texte: Die Rechte des Textes liegen alleine bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 16.03.2012
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