Sie verdrehte die Augen, als sie eine kleine Gruppe von Jugendlichen lachend die Straße überqueren sah, direkt auf das Kino unter ihrer Wohnung zu. Es war schwer zu übersehen in welchen Film dieses Grüppchen gehen wollte, wenn man bedenkt, dass sie allesamt mit Vampiren bedruckte T-Shirts anhatten. Jarmila konnte ohnehin den ganzen Hype um Vampire und Wölfe, sowie grotesker Zauberer nicht verstehen. Diese Gestalten waren nur Einbildungen der Fantasie, wieso wurde das auch noch verfilmt? „Hörst du mir überhaupt zu?“, Reids sanft gereizte Stimme zog sie in den Alltag zurück. Er war ihr Vormund seitdem ihre Eltern am 27. August aufgrund eines Feuers umkamen und seither wie ein großer Bruder. „Nein“, gab Jarmila wahrheitsgemäß zurück, ließ den Blick aber weiter nach draußen gerichtet. Reid folgte ihren Augen, konnte aber nichts Spannendes entdecken, außer dem Schoßhündchen von Mr Rivera und Urania-Neptunia, die sich gegenseitig umzubringen schienen. Aber das war Alltag. „Gibt’s da was Besonderes?“ „Nein“, antwortete Jarmila genauso scharf gesprochen, wie beim ersten Mal. „Kannst du auch etwas anderes sagen?“, fragte er in einem ruhigen, aber verärgerten Ton. Jarmila dachte einen Moment nach und gab ein langes Mhh von sich. „Nein.“ Er schüttelte nur hilflos den Kopf und wandte sich dem Speck zu, den er gerade briet. Jarmila war schon seit Tagen sauer auf ihn. Erst letzte Woche, kurz vor Schulbeginn, wollte Reid ihr weiß machen, dass sie auf ein spezielles Internat gehen wird, wo, wie er so schön sagte ihre „Fähigkeiten“ gefördert werden sollen. Was meinte er damit? Sie war eine normale Durchschnittsschülerin, hatte fast nie Probleme, jedenfalls nicht oft welche, die dem Direktor gemeldet wurden und auch sonst keine ihr bekannten Talente. Vielleicht hatte sie eine kleine Begabung zum Skateboard-Fahren, aber ein Internat für Skateboard-Begeisterte gab es sicherlich nicht. Wer würde auch sein Ziehkind aus diesem Grund auf ein Internat schicken. Das war der Knackpunkt an der Geschichte und ließ Jarmila täglich zweifeln. Es kam ihr nur so komisch vor, von einem Tag auf den anderen… weggeschickt zu werden. Seitdem sie zwei Jahre alt war, nach dem schrecklichen 27. August, lebte sie nun bei ihm, war im selben Ort zur Schule gegangen und hatte hier all ihre Freunde. Und jetzt wollte er sie aus heiterem Himmel loswerden, sie abschieben, am besten, nie wieder sehen. Jarmila konnte es einfach nicht glauben, geschweige denn in Worte fassen. Reid ließ einen tiefen Seufzer raus. „Ok, lass es uns so regeln“, fing er an und erhaschte Jarmilas Aufmerksamkeit, sie wollte sich das allerdings nicht anmerken lassen. Er bekam einen kurzen, gleichgültigen Blick aus ihren tiefen grauen Augen, „Ich weiß, wie sehr du auf Wetten stehst.“ Reid log nicht. Egal wo, egal wann, eine Wette konnte Jarmila nicht ausschlagen. Als Erwachsene würde sie damit wahrscheinlich in eine ziemliche Spielsucht geraten. „Wenn du es bis zu den…“, er suchte nach den richtigen Worten, „bis zu den Herbstferien dort aushältst, bekommst du zwanzig Mücken.“ Seine Taktik ging auf, er hatte ihre Aufmerksamkeit. Jarmila schnaubte nur selbstgefällig, sodass ihr ihre kupferroten Haare ins Gesicht fielen. Mit einer leicht ironischen Stimme sagte sie: „Reidy-Reid, ich bin nun wirklich kein Kleinkind mehr. Zwar weiß ich, dass du bei mir umgekehrte Psychologie anwendest, aber denkst du wirklich, dass ich mich von läppischen zwanzig Mäusen ködern lasse? Machen wir… Mmh… Hundert daraus!“ „Hundert?“, er brach in ein lautes Gelächter aus, sodass seine Schultern bebten, „Willst du mich ruinieren?“ Jarmila schüttelte provokativ unschuldig den Kopf: „Nein.“ „Du weiß aber schon, dass wenn du verlierst mir genauso viel geben musst, oder? „Dazu wird es nicht kommen“, grinste sie angriffslustig und streckte ihm die Hand aus, „Abgemacht oder Abgemacht?“ „Abgemacht.“
Kapitel 2
„Und er will jetzt wirklich… hundertprozentig… Ernst machen?“ Sie hielt auf ihrem Skateboard inne und setzte sich zu ihren beiden Freundinnen Liz und Trixie. Sie hatten sich ein schattiges Plätzchen am Rande des betonierten Platzes gesucht. Umgeben von gepflegtem Gras in Mitten des Stadtparkes schob sich Trixie wie immer einen Tic Tac nach dem anderen rein. Gerne erinnerte Jarmila sie spaßeshalber, dass sie pro Tic Tac zwei Kalorien verschlang. Bei den Mengen, die sie zu sich nimmt, müsste sie eigentlich doppelt so breit sein. „Ja, er will mich wirklich auf ein Internat schicken“, antwortete Jarmila auf Trixies Frage, die mittlerweile das kleine Päckchen neben sich gestellt hatte. Entsetzt darüber, dass ihre beste Freundin wegziehen würde, zog Liz ihre Protektoren aus und warf sie gegen den harten Boden: „Das kann er doch nicht machen! Du warst dein ganzes Leben hier und wirst es auch bleiben, dafür sorge ich!“ Deutlich weniger aufgebracht, stimmte Trixie ihr zu: „Genau. Liz hat Recht. Wir müssen irgendwas machen, damit du hier bleiben kannst. Wir werden uns was einfallen lassen.“ Wenn sie so neben einander saßen, waren sie so gegensätzlich, wie die Nacht dem Tage. Trixie hatte kurzes, schwarzes Haar, das sie immer in zwei Zöpfen und einem Pony trug. Die Frisur ließ sie leicht kindlich wirken, doch ihre komplett schwarzen Sachen, mit dem Stachelarmband an ihrem linken Handgelenk, sowie sonstigen Accessoires trieben dieses Urteil schnell aus. Sie war von Natur aus ruhig, verfiel nur selten in Raserei und freundet sich mit so gut wie jedem an. Allgemein war sie sehr offen. Liz dagegen, hatte blonde Haare, die ihr bis zu den Schultern gingen und wunderschöne, blaue Augen, die Jarmila immer an das klare Wasser in Kroatien erinnerten. Nie hatte sie vergleichbar intensive Augen gesehen, wie diese. Sie hatte jenes niedliche Lächeln, das einen sofort in den Bann zog und dem man gerne ein Eis spendieren möchte. Doch auch war Liz ein bisschen schüchtern und hielt sich eher im Hintergrund, wenn sie mal nicht unter sich waren. Im Kindergarten hatte Jarmila fast einen Monat gebraucht, bevor sie ihr ihren Vornamen verraten hatte, von dem Tag an, konnte man sie nur noch im Doppelpack sehen. In der Grundschule kam dann auch die liebe Trixie dazu, damals noch im pinken Röcken mit dem gepunkteten T-Shirt. Selten kam es vor, dass eine Trio-Freundschaft hielt, vielleicht war es Schicksal. Jarmila machte zu Recht abwehrende Zeichen: „Nein, nein, nein! Vergesst es! Treibt euch den ganzen Mist mal schnell wieder aus. Wenn ihr Pläne macht dann gehen die grundsätzlich und damit mein ich immer – das ist ein Naturgesetz- schief!“ „Gar nicht wahr!“,gaben die beiden Mädchen leicht verlegen im Chor zurück. „Ach ja? Und was war beim Sportfest?“, bei dieser Erinnerung zeichnete sich auf Jarmilas Gesicht ein leichtes Lächeln ab, welches allerdings schnell wieder verflog, als sie weitersprach, „ Ich werde wohl oder übel aufs Internat gehen müssen.“ Liz sah sie so mitleidig an, dass sie sie gleich mit ihren Armen umschloss: „Wir werden dich vermissen.“ Trixie gesellte sich von der anderen Seite dazu. „Leute, ihr könnt ruhig noch ein bisschen fester zudrücken, ist ja nicht so, dass ich ersticke“, gab Jarmila blau angelaufen und kichernd von sich. Wie befohlen drückten die beiden noch fester zu und kippten allesamt zur Seite auf den Boden. Sie brachen in ein großes Gelächter aus und Jarmilas Kummer war wie weggeblasen, nun freute sie sich nur noch über den schönen Tag mit ihren beiden besten Freunden. Vielleicht konnte dieser Tag ja doch noch ein schönes Ende haben. Sie redeten noch über all jenes, was in der Welt so geschah und breiteten sich unter dem Schatten der Bäume aus. Sie redeten über Joel Carter und Myra Bennett, die sich mal wieder getrennt hatten, über Ekatarina Tereschkowa, die den Debattierwettbewerb für die Schule gewann und über das nächste Schuljahr. „Glaubt ihr, Taylor steht auf mich?“, erkundigte sich Liz nach langer Stille. „Wie kommst du jetzt darauf?“, fragte Trixie verdutzt. „Er hat mich gestern Abend an gesimst, mich gefragt, ob ich mit ihm ein Eis essen gehen will.“ „Aber ich dachte, er würde Kiona Irgendwas daten?“, mischte sich Jarmila ein. Erst letzte Woche hatte sie ihn mit ihr im Kino unter ihrer Wohnung gesehen. Sie sind in Sandra Bullocks neusten Film gegangen. „Nein, nicht der Taylor. Das ist Taylor Q. Ich meine Taylor J.“, erklärte Liz, während sie mit ihren Haaren spielte. Trixie hatte da so ihre Zweifel: „Aber Taylor Q. geht doch mit Lina Mendoza aus der 9ten. Dann ist der, der mit Kiona ausgeht Taylor R.“ „Aber ich dachte Taylor R. wäre schwul“, sagte Jarmila verzweifelt. Daraufhin prusteten alle los. Nicht etwa, weil Taylor R. schwul war, sondern weil es einfach zu viele Taylors gab und diese Verwirrung nur allzu komisch war. Plötzlich sprang Liz auf und bedeutete den anderen dasselbe zu tun. Manchmal hatte sie ihre Euphorie-Anfälle: „Lasst uns doch noch eine Runde fahren, schließlich sind wir deswegen hier!“ Es war nicht anders zu erwarten, dass Trixie sich dagegen sträubte: „Nee, ich lieg grad so schön, fahr doch mit Pipi Langstrumpf.“ „He!“, entgegnete Jarmila und stand auf. Anspielungen auf ihre Haarfarbe war sie zur Genüge gewohnt. Sie streckte Trixie die Hand aus und zog sie hoch, neckend pickte sie einmal in ihren Bauch: „Ist besser für deinen Speck.“ Trixie grinste nur so vor sich her, was auch gut heißen könnte Noch ein Wort über meine Figur und du stirbst vor Kitzeln heißen könnte. Liz lief etwas unbeholfen auf den Pool zu und wich den anderen Skatern ungeschickt aus. Das zierliche Mädchen fuhr erst seit knapp zwei Wochen Skateboard und das auch nur, wenn sie ihre Knie- und Armschoner anhatte. Dies hatte sie ihrer Mutter, einer überfürsorglichen Frau namens Margret versprochen. Mrs. Vermont war eine von den Frauen, die auf keinen Fall wollten, dass ihrem kleinen Küken etwas passierte und auch nie im Leben das Risiko einging. So hatte sie überall im Haus Desinfektionsmittel stehen und alle Ecken ab gepolstert. Jarmila fand das immer übertrieben, wer auch nicht, immerhin war Liz schon dreizehn Jahre alt und kein Kleinkind mehr. Einmal hatten Liz und Jarmila versucht die Polster mit einem Akkuschrauber abzumontieren. Dieser Versuch war aber fehlgeschlagen, als Liz abrutschte und Jarmila zwischen Daumen und Zeigefinger bohrte.
Liz stellte ihren rechten Fuß auf das Skateboard und wiegte die vordere Achse immer wieder über der Rail ab. Sie wartete wahrscheinlich auf den besten Moment loszufahren oder sie zählte innerlich immer wieder bis drei, traute sich dann aber doch nicht. „Ich würde das nicht machen“, warnte Jarmila sie, „Deine Mum bringt dich um, wenn sie das erfährt.“ Trixie grinste etwas spöttisch hinein: „Du kannst nicht einmal über die kleinen Hügel im Asphalt fahren ohne dabei umzukippen.“ „Ich fahre schon ziemlich lange.“ „Zwei Wochen.“ „Ich bin mir sicher, dass ich das kann…“, das waren dann wohl die letzten Worte, die Liz von sich gab, bevor sie in einem Moment der Starre verfiel. Ihre sonst so braune Miene wurde auf einen Schlag zu einem kreidebleichen, von blauen Adern durchströmtes Gesicht. Trixie quietschte synchron mit den Rädern auf der metallenen Rampe, ein grausames Geräusch, das Jarmila zusammenzucken ließ. Liz stieß einen angsterfüllten Schrei aus, der sich durch die Trommelfälle der dreien und der im Umkreis befindenden Vögel sägte und sie wegflattern ließen. Sie fuhr oder fiel eher den Hang hinunter, mit den Armen in der Luft wedelnd, um noch ein bisschen Gleichgewicht bewahren zu können. Liz fuhr die Rampe nun hoch, sie würde auf jeden Fall in die Luft fliegen und dann mit voller Wucht an der Kante des Pools mit ihrem Kopf aufschlagen und ihr lebloser Körper würde hinunterrollen. Jarmila konnte das alles auf keinen Fall zulassen, aber was hätte sie auch schon tun können? Sie wiederholte leise und eindringlich dasselbe Mantra: Bitte, lass sie nicht fallen. Bitte, lass sie nicht fallen. Jarmila wusste nicht zu wem sie das sagte, hoffte aber inständig, dass es passierte. Liz entglitt ihr Skateboard und flog nun haltlos in der Luft herum. In weniger als einer Sekunde würde sie auf dem Boden ankommen. Jarmila konzentrierte sich auf den Boden, schaute unermüdlich auf ein und dieselbe Stelle. Sie malte sich aus, wie der Körper ihrer Freundin schlaff und leblos auf dem Boden lag, nicht ansprechbar, vielleicht sogar tot. Ihr Kopf brummte. Alles schwirrte, als würde ein Stamm Bienen in ihrem Schädel wohnen und wütend umher fliegen. Den Anblick nicht ertragend, kniff sie die Augen zusammen und konnte nur noch vage vernehmen wie Trixie aus voller Brust Liz rief.
Bitte, lass sie nicht fallen.
Kapitel 3
Jarmila blickte um sich. Sie war in einer dunklen, verlassenen Stadt. Überall roch es komisch. Ihr kam der Geruch bekannt vor, wie eine Mischung aus Minze, Thymian und Currykraut. Den Kopf in den Nacken geneigt, schaute sie in den Himmel hinauf, alles war pechschwarz, es schien als würde er niemals enden. Es waren auch keine Sterne zu sehen. Dennoch, obwohl sie nirgendwo Laternen oder sonstige Beleuchtungen sehen konnte, war es so hell, dass man alles ohne Probleme erkannte. Jarmila fiel ein altes, verkorkstes Schild ins Auge. Es war ungefähr zwei Meter von ihr entfernt. Sie trat über die gepflasterte Straße näher, wischte einmal mit dem Pulli über die verstaubten Buchstaben und las: Kara’maya, Geburtsstätte der Macht des rechtmäßigen Herrschers Kharabe. Unter seiner Hand sollen die Wesen aller schwarzen Sippen gedeihen und ersprießen und der Abschaum Sarumas geknechtet werden. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein großes Fragezeichen aus. Sie fluchte einmal vor Verwunderung. Wer zur Hölle war Kharabe? Was waren die Wesen aller schwarzen Sippen und der Abschaum Sarumas? Jarmila konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was das alles zu bedeuten hatte. Sie wusste, dass sie in Kara’maya war, wo das genau lag, konnte sie sich nicht ausmalen. Und wie war sie überhaupt hierhergekommen? Es konnte nur ein Traum gewesen sein. Jeden Moment würde sie vom Boden abheben und beginnen zu fliegen. Sie sprang einmal probeweise in die Luft, doch sie kam wieder auf den Boden zurück. Musste wohl noch nicht freigeschalten sein. Langsam lief sie umher, immer ihr Umfeld in Blick. So sehr es auch ein Traum sein mochte und ihr nichts passieren konnte, trotzdem musste sie ja nicht gleich übereifrig sein, oder? Sie konzentrierte sich darauf einen Fuß vor den anderen zu stellen und nicht in eine der unzähligen Pfützen zu treten. Jarmila lief in die Richtung, in der sie den starken Geruch vermutete. Die Häuser waren dicht an dicht aneinander gestellt, nur ab und zu trennte eine schmale Gasse dein einen Block von dem anderen. Ihr wurde mulmig zumute, als sie einen kleinen Berg zum Marktplatz hinauf ging. Überall waren Stände auf den letzten Zentimeter aneinander gereiht, doch nirgendwo war ein Verkäufer, geschweige denn etwas Lebendes. Jarmila war sich sicher, dass irgendwer gleich mit einem Messer um die Ecke kam und sie bestialisch abstechen wollte. Wie gern, würde sie doch aus diesem Traum aufwachen. Sie lief gerade aus in die Mitte des Marktes. Von hier aus ging es wie bei einer Kreuzung in vier Richtungen. Auf der einen Seite erblickte sie einen Stand mit Gemüse, Obst, Früchten und Kräuter. Aus dieser Gegend vermutete sie auch den Geruch, so schaute Jarmila sie sich genauer an. Ehe sie noch genau wusste, was sie da in der Hand hielt, steckte sie es in ihre Tasche. Dieses Kraut hatte eine komische Form war unvergleichbar. Es war glasig und änderte stets seine leuchtende Farbe von Grün zu Rot zu Blau zu Lila und wieder zu Grün. Es roch sehr intensiv. Als sie es angefasst hatte und ein paar Blätter einsteckte, war es ihr gar nicht aufgefallen. Das Kraut gab den schönen Geruch von Thymian, Currykraut und Minze ab. Neben diesem Stand war ein weiterer mit Waffen und Rüstungen. Es reihten sich die unterschiedlichsten Rüstungen ein, die einen sahen groß und schwer aus, die anderen klein und kompakt. Sie alle waren metallen und extrem dünn, so dünn, dass man sie mit einem Male zerdrücken konnte. Jarmila übte mit einem Finger leichten Druck auf die Rüstung aus, sodass sie sich nach innen verbog. Sichtlich zufrieden nahm sie den Finger weg. Ihr Lächeln war genauso schnell wieder weg, wie die Beule, denn sie hatte sich einfach wieder richtig gebogen. Ohne zu Zögern nahm sie die Herausforderung an, zog ihre Ärmel hoch und schlug dann mit einem Male im Karatestil heftig zu. Ihre Gesichtszüge verzogen sich zu einer schmerzerfüllten Miene, ihre ganze Hand schmerzte so sehr, als wäre jemand darüber gefahren. Sie hielt sich die rote und zugleich blaue Hand, während sie zischend ausatmete und dabei fluchte. Das half ihr über den Schmerz wegzukommen. Wie konnte es sein, dass dieses Ding wenn sie leicht drückte nachgab, wenn sie aber zu schlug ihr die Hand verstauchte? Vielleicht ist sie aus Maisstärke und Wasser, dachte Jarmila schmunzelnd. Oder es war einfach nur ein komischer Traum. Jarmila ging ein Stück weiter nach links. Hier lagen die ganzen Waffen auf dem Präsentierteller. Zwar verspürte Jarmila noch Schmerzen, hielt sich auch dementsprechend die Hand gegen den Bauch, wollte sich davon aber nicht abhalten lassen. Vermutlich war sie während des Schlafs vom Bett geflogen und implizierte diese Schmerzen in den Traum. Eine endlos große Palette an Schwertern, Pfeilen, Bögen und Messern breitete sich auf dem langen Tisch aus. Ihr stach ein kleiner Dolch ins Auge, natürlich nur metaphorisch, der mit zwei Drachen verziert war, die sich gegenseitig mit Feuer bekämpften. Der Dolch lag ihr gut in der Hand, er war nicht zu groß, das wusste sie irgendwie. Jarmila hatte noch nie zuvor so eine Art von Messer in der Hand gehabt. Der Dolch war extrem scharf und genauso wie die Rüstungen sehr dünn, diesmal aber robust, auch wenn sie Druck ausübte. Schulterzuckend warf sie ihn in die Luft und fing ihn auf.
Das sollte ihr mal jemand nachmachen. „Hat dir niemand beigebracht, dass man nicht mit Messern spielt, Jarmila?“ Jarmila zuckte erschrocken zusammen, fuhr dann aber blitzschnell um und hielt den Dolch auf sie gerichtet. Wie sie schon geahnt hatte, gleich würde sie bestialisch ermordet werden. Die Frau vor ihr lächelte sie mit einem warmen Strahlen an, welches ein wohliges Gefühl in ihr ausbreitete. Die alte Dame hatte graues, streng hochgestecktes Haar und tiefgraue Augen, wie ihre eigenen, die einen nur so in den Bann zogen. Sie sah nicht gefährlich aus, doch der Schein konnte trügen. „Woher wissen Sie, wer ich bin?“, fragte Jarmila misstrauisch.
Sie antwortete lächelnd: „Das ist eine viel zu lange Geschichte, die möchtest du gar nicht hören.“ „Doch, doch. Die möchte ich hören“, widersetzte sich Jarmila. Die alte Dame hatte das wohl nicht erwartet, ihre schmalen Lippen versteckten nun ihre weißen Zähne. „Jarmila, wir haben nicht viel Zeit. Wenn ich dir diese Geschichte erzähle, komme ich nicht dazu, weswegen ich eigentlich hier bin“, redete sie ihr sanft aber streng zu, „Jetzt leg erst einmal das Messer weg.“ Jarmila betrachtete sie genau. Sie stand immer noch genauso da wie zuvor. Der Rücken gerade, die Schultern zurück und der Blick aufrecht. Einzig und allein ihre Mimik änderte sich. Ihr Anblick war sehr anmutig und sie wirkte nicht so, als würde sie einen gleich umbringen wollen. Und wenn doch, würde sich Jarmila mit ein paar Karatetricks behaupten. Eigentlich hatte sie nur eine Probestunde mitgemacht und war dann nie wieder gekommen. „Nun mach schon, leg das Messer weg“, forderte sie die Dame ein weiteres Mal geduldig auf. Langsam und skeptisch legte Jarmila den Dolch zurück auf seinen Platz neben den anderen Waffen. Die Mundwinkel der Dame zogen sich zurück zu einem Lächeln zusammen, als wäre das ihre normale Haltung und ihr neutraler Blick anstrengend gewesen. Wieder strahlte ihr Lachen diese Wärme aus. „Danke“, sagte sie ruhig und schätzend, „Ich bin Varani.“ „Hi Varani“, grüßte Jarmila sie ohne der Skepsis vom Anfang. Ein bisschen kam sie sich wie in einer Selbsthilfegruppe vor, das ließ sie schmunzeln. Varani lächelte: „Komm, ich will dir was zeigen.“ Varani und Jarmila liefen einen mittelangen, steilen Weg hinauf, bis sie ganz oben auf einem Berg angekommen waren. Vor ihnen war ein großes Gebäude, wahrscheinlich das Rathaus, welches von vier Säulen getragen wurde. Jarmila blickte einmal um sich. Von hier aus konnte sie auf die gesamte, düstere und dunkle Stadt hinunter schauen. An diesen Anblick wollte sie sich nicht gewöhnen. Es war, als würde eine dicke Staubschicht auf ihr liegen, als würde sie schlafen und nie wieder aufwachen, als wäre sie aus dem Alltag gerissen. Als Jarmila kurz zu ihr aufblickte, fiel ihr Varanis trauriges Gesicht auf. Es war schwer zu glauben, dass sie etwas anderes als Glück fühlte. „Du wolltest mir etwas sagen?“, meldete sich Jarmila zu Wort. Varanis Miene sah bedrückt aus, doch sie versuchte zu lächeln. „Genau“, sie räusperte sich, eine gewisse Strenge war in ihrem Ton, „ Weißt du, es ist wichtig, dass du mir ganz genau zu hörst. Ich werde es dir nämlich nicht nochmal erklären.“ Jarmila nickte, da fiel ihr ein, dass wenn sie im Kindergarten ein Bild zu einer Geschichte malen sollten, Jarmila immer die letzte Szene nahm, damit sie sich die Szenen davor nicht merken musste. Indirekt hatte sie dann gelogen, als sie eine beliebige Szene nahm, anstatt der aufgetragenen Lieblingsstelle. Aber egal. „Du hörst mir ja gar nicht zu!“, Varani holte sie aus ihren Gedanken, „ Hör mal, Jarmila, ich bin nicht ohne Grund hier. Ich möchte dir etwas Wichtiges und sehr Bedeutsames erklären, da musst du mir schon zu hören.“ „Ja klar. Jetzt hör ich zu“, versicherte Jarmila. Mit einem skeptischen Blick musterte Varani sie noch einmal, bevor sie anfing. „Also meine Liebe, all das, was du hier sieht, ist Kara’maya“, dabei deutete Varani mit drei Fingern auf das düstere Terrain vor ihnen, „es ist ein sehr, sehr schreckliches Land. Hier tobt nur Unheil und Unrecht.“ Ihre Stimme klang enttäuscht und niedergeschlagen, trotzdem bewahrte sie ihre Anmut. „Und warum bin ich dann hier?“ „Du bist hier, meine Liebe, weil du etwas Besonderes bist“, ihre Stimme erheiterte sich wieder, „Kharabe, ein brutaler Mann, nein, ein abstoßendes Ungeheuer, hat aus dieser Stadt gemacht, was sie heute ist. Ein Schandfleck der Nation. Einst sah es so aus.“ Sie formte ihre Hände zu einer Kuhle, in ihr bildete sich etwas Helles, eine Art Lichtkugel. Die Lichtkugel wurde größer und greller, bis sie schließlich voll und ganz Varanis Hände ausfüllte und sie sie sanft mit einem Male aus ihrer Handinnenfläche blies. Die Lichtkugel stieg den Himmel empor, immer weiter, bis Jarmila sie fast nicht mehr sehen konnte und dann explodierte sie wie eine Feuerwerksrakete. Der Himmel öffnete sich, die Wolken verzogen und die Stadt wurde erhellt. Die kargen Bäume ersprossen und die Blumen erblühten. Die tristen Häuser bekamen einen neuen Anstrich und die Stadt entfaltete sich in ein neues Leben. Wie hatte sie das gemacht? „Wie?“, schlug Jarmila verdattert zur Frage an. „Zauberei. Alles ist Zauberei. Bis du es allerdings so hinkriegst wie ich, könnte noch einige Zeit verstreichen, meine Liebe.“ „Wieso ich?“ „Was, wieso ich? Du bist eine Zauberin!“, erklärte Varani erfreut und stupste Jarmila einmal in die Seite. „Das kann nicht sein. Ich hab davon noch gar nichts gemerkt und wenn ich eine Zauberin wäre, hätte ich es ja wohl merken müssen“, versuchte Jarmila verständlich zu machen. Varani aber schüttelte den Kopf: „Ja hör mal, denkst du ich würde dich besuchen kommen, wenn es nicht so wäre? Du hast Magie in dir, das kann ich dir versichern.“ Jarmila sah Varani noch einmal ungläubig an. Beim besten Willen konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie eine Zauberin war, dass sie mal dasselbe konnte wie Varani. Mehr als sonst hoffte sie, dass das ein doofer Traum war. „Skepsis liegt in der Familie, nicht wahr?“ „Das kann ich nicht beurteilen“, beantwortete Jarmila zerstreut und Varani räusperte sich ein weiteres Mal, als wüsste sie von ihren Eltern, um ihren strengeren Ton wieder herzustellen. „Nun wollen wir aber nicht vom Thema abgekommen. Kharabe hat dies alles mit Zorn angestellt, mit bloßer Zerstörungswut. Er handelte nicht gerecht und nahm somit vielen Leuten das letzte bisschen, was sie hatten. Er hat sie getötet, verraten und mit sich in den Abgrund genommen. Sicherlich hast du das Schild am Anfang gelesen, bei deinen guten Augen hätte ich das auch nicht übersehen“, sie lächelte einmal, bevor sie wieder Ernst wurde, „Kharabe jedenfalls, ist kein guter Mann und ich bitte dich inständig, dich vor ihm in Acht zu nehmen. Er ist über aus stark und mächtig, mächtiger, als ich es mir jemals erdenken konnte. Er wird versuchen dich umzubringen, da nur, wenn du tot bist, er das bekommen kann, was er will.“ Echt ermutigend, zu wissen, dass mich jemand umbringen will. „Jarmila, es wird ein langer und schwieriger Weg, länger und schwerer, als es für ein so junges Mädchen wie dich gut wäre, aber du musst das, was er haben will, kriegen, bevor er es kriegen kann.“ „Und was ist das?“, fragte Jarmila. „Das kann ich dir leider nicht sagen, meine Liebe, aber ich gehe fest davon aus, dass du es sehr schnell selbst herausfinden wirst. Ich weiß genau, dass du die Neugierde geerbt haben musst.“ Jarmila war verwirrt von alledem, was Varani in dieser kurzen Zeit von sich gegeben hatte. Konnte das hier überhaupt echt sein? Alles klang so plausibel und real. Sie fühlte den Wind, sie roch das Kraut, sie spürte die Wärme und sie sah Varani. Von den Sinnen her konnte es unmöglich ein Traum sein. Doch wie konnte Varani die Stadt von einem Mal auf den anderen verändern. Konnte sie auf die Zauberei vertrauen oder war sie eines von Fantasie zugeballertes Kind? Vielleicht träumte sie auch nur, dass sie die Sinne spürte. Jarmila hatte ja die Theorie, dass all die Fantasie nur echt sein konnte. Jenes was wir gefühlt, geschmeckt, gehört, gerochen und gesehen haben, wandelten wir in Fantasie um und implizierten sie in unseren Alltag. Filme entstanden aus erlebten Situationen, die wir abwandelten und neuerfanden. Manchmal mussten wir sie ja noch nicht einmal selbst erlebt haben, sondern nur von gehört haben. Und so kam es ihr unmöglich vor, dass sie diesen Ort, diese Gespräche und Varani einfach so schnurstracks im Traum hätte erfinden können. Es konnte einfach nicht anders sein. Varani meldete sich wieder zu Wort: „Hoffentlich habe ich dir alles gesagt, was gesagt werden musste. Wäre sonst ziemlich ärgerlich. Ich hoffe, wir sehen uns einmal wieder, zwar nicht an diesem Ort, aber woanders… Ach! Ehe ich es vergesse, das kannst du gut gebrauchen. Er ist schon ewig im Familienbesitz und soll dich auf deinen Wegen begleiten.“ Jarmila unterbrach sie und musterte den blauen Klumpen: „Das kann ich nicht annehmen. Geht einfach nicht.“ „Ach was, er ist besser bei dir aufgehoben und du kannst ihn auch vorteilhafter gebrauchen, als ich es hätte tun können. Bitte pass gut auf dich auf und vergesse nie, dass du etwas Besonderes bist, Jarmila.“ Varani lächelte sie noch einmal herzlich an. Auch wenn sie wusste, dass es nicht so war, kam es Jarmila so vor, als würde sie Varani schon ein Leben lang kennen und lieben. Als sie darüber nachdachte, fasste sie sich nervös an die Hand. Jarmila hatte ganz vergessen, dass sie sie sich verletzt hatte. Der ganze Schmerz breitete sich wieder sekündlich aus. Gerade konnte sie noch ein schmerzerfülltes Aua unterdrücken, doch Varani hatte schon alles bemerkt. Immerhin war ihre Hand mittlerweile angeschwollen. Varani sah sich die Hand bekümmernd an: „Die Tan’yata-Rüstung, nicht wahr? Ich hätte wissen müssen, dass du sie anfassen würdest.“ Varani sah sie tadelnd an und nahm eine kleine, blaue Phiole aus ihrer Jackentasche heraus und träufelte zwei Tropfen auf ihre Hand. Es wirkte kühlend und hemmte die Schwellungen, bis sie ganz verschwunden war und ihre Haut in ihrem gewohnten Ton war. „Das dürfte reichen“, sie tätschelte noch einmal liebevoll ihre Hand und sagte dann mit einem warmen Lächeln, „ Auf wieder sehen, meine Liebe, pass gut auf dich auf.“ Ein dichter Nebel hüllte Varani ein und zog sie wie in einem Tornado mit, bis er verblasste und sie endgültig weg war. Mit ihr verschwand auch die Schönheit der Stadt, alles wurde wieder grau und verstaubte. Kara’maya war wieder tot.
„Jarmila? Verdammt, Jar!“, jemand rief die ganze Zeit ihren Namen, doch sie konnte nicht erkennen wer. Vor ihr machte sich eine dunkle Silhouette breit, die immer wieder zu einem klumpigen Ganzen verschwamm. Als sich ihr Gehirn beruhigte, konnte sie die Bäume im Hintergrund erkennen, die sie daran erinnerten, dass sie im Park war. Ihre Augen waren trocken und gereizt. Schnell schüttelte sie sich. „Ja?“, sagte sie halb fragend, halb schlafend. „Meine Güte, Jar! Du jagst mir hier den Schrecken meines Lebens ein und alles, was ich von dir dazu höre, ist ein verschlafenes „Ja“? Hast du denn gar nichts mitbekommen?“, mittlerweile entpuppte sich die Silhouette als Trixie, die schockiert vor Jarmila hockte. „Was soll ich denn mitbekommen haben?“, fragte Jarmila, während sie sich aufstellte und sich fragte, warum sie nicht mehr stand. „Hallo? Du hast wie eine Verrückte durch die Gegend gestarrt und bist dann auf den Boden geknallt“, sie wurde nur kurz leiser, „mit deinen kreideweißen Augen.“ Jarmila fühlte sich nun etwas veräppelt: „Mach dich nicht lächerlich, Trixie. Ich hab graue Augen und das weißt du auch.“ Trixie sah sie dringlich an: „ Als du… als du angefangen hast auf Liz zu gucken, da ist dieser Nebel aufgezogen und deine Augen haben sich… nun ja weiß gefärbt.“ Jarmila wollte sich nur ungern vorstellen, dass sich ihre Augen weiß färbten. Allein die Tatsache, dass es passiert war, bereitete ihr eine Gänsehaut. Liz trat wie aus dem Nichts hinter Trixie vor. Den Kopf reibend schaute sie Jarmila noch etwas verwirrt an. Es schien, als wäre sie nicht ganz bei Sinnen. Um die Drei herum war immer noch Nebel, der sich aber inzwischen zu verflüchtigen schien. „Jar, du hast mich gerettet“, säuselte Liz. Unter normalen Umständen hätte man sich wahrscheinlich im Ruhm gesonnt und sich gerne ehren lassen. Doch was war nun denn noch normal in Jarmilas Leben. In diesem kurzen Moment änderte sich für sie alles schlagartig. „Ich habe dich nicht gerettet“, gab Jarmila entschieden zurück. Denn wenn sie dies bejahte – und sie glaubte nicht, dass sie Liz gerettet hatte – würde sie ihnen auf dem Teller servieren, dass sie zaubern konnte oder zu mindestens, dass etwas mit ihr anders war. Und das wollte sie nun wirklich nicht. Klar, die beiden sind ihre besten Freunde, aber sie wusste selbst nicht alles darüber und wenn sie ihnen von Varani erzählen würde, würde man sie für komplett doof halten. Liz sah Jarmila nur leer an. Sie konnte nicht begründen, was Liz gerade dachte oder fühlte. „Retten hin oder her. Was ist genau passiert?“ Mit einem prüfenden Blick zu Liz, begann Trixie nachdem sie noch einmal Luft holte: „Ich glaube, ich bin die einzige, die das Geschehene richtig mit verfolgen konnte. Nachdem Liz fast auf geprallt ist, hast du die ganze Zeit irgendwas gemurmelt. Ich weiß auch nicht was, aber es klang echt gruselig. Wirklich gruselig. Wirklich, wirklich gruselig. Und damit mein ich wirklich gruselig!“ „Trixie! Wir haben’s kapiert!“, fauchte Jarmila und strafte sie mit einem bösen Blick. „Ja, ja. Sorry. Aber es war wirklich gruselig. Auf jeden Fall sind deine Augen weiß geworden und du bist schließlich umgekippt. Danach ist hier überall Nebel aufgetaucht. Ich konnte gerade noch Liz sehen und wollte schon die Augen zusammen kneifen. Den Anblick wollte ich mir nun wirklich nicht bieten. Man muss sich ja vorstellen, wie das aussehen könnte mit dem eventuellen Blut und…“ Liz unterbrach sie genervt: „ Dann hat der Nebel mich irgendwie aufgefangen und dann auf festen Boden gebracht. Schließlich bist du wieder wach geworden und ab da an weißt du ja, was passiert ist.“ Jarmila schluckte und wusste ehrlich gesagt nicht, was sie sagen sollte. Sie wollte nichts mehr von diesem Vorfall hören. Immerhin war sie ja einfach nur ohnmächtig geworden und hatte dann geträumt. Was soll’s? Passiert doch jedem einmal. Und das heißt noch lange nicht, dass man etwas mit dem Retten eines anderen Lebens zu tun hatte. „Ich geh jetzt nach Hause. Vielleicht ist es das Beste.“ Schnell sammelte Jarmila ihre Sachen auf und klemmte sie unter ihre Arme. In derselben Geschwindigkeit machte sie sich auf den Weg nach Hause. „Jetzt warte doch Mal“, protestierte Trixie. Beide taten es ihr gleich und folgten Jarmila mit Sack und Pack. „Wie hast du das gemacht?“, fragte Liz mit demselben, leeren Blick wie vorhin. Diese Unergründbarkeit machte Jarmila verrückt. „ Ich war das nicht und ich hab auch nichts gemacht!“, wehrte Jarmila ein weiteres Mal ab. „Und warum waren dann deine Augen weiß?“, mischte sich Trixie ein. „Wird das ein Kreuzverhör oder kommt es mir nur so vor? Ich hab keine Ahnung, was in den letzten Minuten passiert ist und wenn dann weiß ich genauso viel wie ihr. Also bitte: Nervt mich nicht!“, sie war stehen geblieben und hatte sich zu den beiden umgedreht, „Wenn ihr mich also entschuldigen würdet, Avatrix, Elizabeth.“ Mit diesen Worten ließ Jarmila sie allein. Ein bisschen fühlte sie sich schuldig, dass sie die beiden so angeschrien und schlussendlich stehen gelassen hatte. Von einem gelungenen Nachmittag konnten sie nicht sprechen. Auf dem Weg nach Hause versuchte sie einen klaren Kopf zu kriegen, die Geschehnisse zu ordnen und vielleicht mit etwas Glück auch zu verstehen. Aber das war nur ein Wunschdenken. Als sie vor der Wohnung stand, suchte sie ihren Schlüssel in ihrer Jackentasche und stoß auf das Kraut, welches sie am Stand mitnahm, kurz bevor sie die Tan’yata Rüstung anfasste. In der anderen Tasche fand sie das, was Varani ihr zum Schluss noch mitgab, das Erbstück ihrer Familie. Jarmila fühlte sich sehr geehrt es benutzen zu dürfen. Kam ja auch nicht alle Tage vor, dass sie auf einmal in einer anderen Stadt war und dort mit einer Dame sprach, die sie nicht mal kannte. Das Erbstück war ein kleiner Kompass, der aus Achat gefertigt wurde und winzige Verzierungen an den Seiten hatte. Ein Blumenkranz wurde von vereinzelten Wassertropfen unterbrochen, die die jeweiligen Himmelsrichtungen bezeichneten. Er sah besonders aus. Wunderschön und besonders. Nachdem sie ihn eine Weile anstarrte, fiel ihr wieder ein, dass sie rein wollte und so kramte sie ihren Schlüssel schnell heraus und ging in die Wohnung. Wie sie es auch erwartet hatte, war Reid arbeiten. Sie wollte Antworten von ihm. Er hatte davon gewusst, da war sie Jarmila sicher. Immerhin kannte er ihre Eltern sehr gut und sie hatten ihm bestimmt etwas davon gesagt. Sonst hätten sie Jarmila nicht in seine Obhut gegeben. Das war die einzige logische Antwort. Obwohl die überzeugendere wohl die wäre, dass Jarmila einfach bekloppt war und Warnvorstellungen hatte, die ihr einflößen wollten, dass sie eine Zauberin war. Aber selbst Jarmila, die nur so mit Fantasie blühte, hatte nicht genügend davon, um sich sowas, auch unbewusst, ausdenken zu können. Das war auch für sie unmöglich. Außerdem war da dann noch die Sache mit Liz, denn das konnte man wirklich nicht logisch erklären.
Sie schmiss sich auf die Couch, merkte dann aber schnell, dass sie nicht still sitzen konnte. Alles kam einfach zu rasch über sie, es kam ihr vor, als würde die Welt an ihr vorbei ziehen. Jarmila raffte sich wieder auf und lief diesmal ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen. Im Spiegel betrachtete sie sich lange. Die kleinen Wassertropfen kullerten über ihre Stirn zu ihren unterschiedlich dichten Augenbrauen und schlussendlich an ihren Wangen herunter. Graue Augen mit den vielen kleinen Sprengeln schauten sie durch den Spiegel an. Ihr heller Hautton und das künstliche Licht ließen sie kränklich aussehen, vielleicht war sie es auch. Es hätte gruselig aussehen müssen, Jarmila mit kreideweißen Augen zu sehen. Das Starren ohne auch nur zu blinzeln, machte es nicht besser. Man bedenke, dass dies an einem windigeren Tag weitaus erschreckender wäre, wenn ihre Augäpfel dadurch auch noch mit roten Adern durchlaufen gewesen wären. Aber diese Vorstellung wollte man nicht unbedingt weiterführen. Jarmila trocknete sich dürftig das Gesicht ab und verließ das klassisch gehaltene Bad, um ihren Weg weiter ins Arbeitszimmer fortzusetzen. Sie hatte vor sich ein Buch zu schnappen, bis Reid heim kam. So konnte sie die Zeit halbwegs sinnvoll verbringen und sich darüber hinaus ablenken und beruhigen. Im besagten Arbeitszimmer stand ein wanddeckendes Regal, von dem die letzten zwei Reihen Jarmilas waren. Auf dem Boden hockend, fuhr sie mit ihrer Hand über die nach der Größe sortierten Bücher und las innerlich jeden der einzelnen Titel vor. Ihre Hand stockte, als eines der Bücher größer war, als das vorherige. Verwundert schob sie es heraus und blickte auf den Titel, der weit mehr als nur komisch war. Aeneas Wilcox: Wie man aus drei Ziegenpelzen vier Drachenzähne macht. Jarmila öffnete das Buch und schon flog ihr ein zusammen gefalteter Zettel entgegen. Erstaunt über ihren Fund schlug sie den Zettel auf und las folgende Zeilen:
Lieber Reid,
Erinnerst du dich noch, wie wir uns damals alle kennengelernt haben? Kleine Kinder, die miteinander Verstecken gespielt haben und trällernd und pfeifend umher gerannt sind. Auf unseren Schultern lastete nicht der Hass der Völker, wir tolerierten uns, akzeptierten uns. Niemand konnte uns aufhalten. Niemand konnte uns trennen. Und doch lasten heute noch größere Dinge auf den schmalen Schultern von Jarmila, unserer kleinen Tochter. So zerbrechlich. So zart.
Solange es ging, haben wir sie bei uns gehalten. Doch die Prophezeiung hat immer das letzte Wort. Wir konnten sie nicht mehr bei uns haben. Dann warst du unsere letzte Hoffnung.
Reid, wir danken dir so sehr. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie dankbar wir dir sind. Du tust so großes für unsere Kleine. Wir hoffen, dass sie das eines Tages versteht. Uns verzeiht, dass wir so unfähig waren sie zu beschützen.
Wenn sie eines Tages soweit ist, sag ihr bitte, dass unser letzter Wunsch war, dass sie uns vergibt. Dass es uns leid tut. Dass es das schönste Geschenk wäre, wenn sie dies tut.
Wir wissen, dass Jarmila bei dir gut aufgehoben ist und dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen. Reid, wir haben dir unseren größten Schatz anvertraut. Pass gut auf sie und auf dich auf.
Wir danken dir.
In Liebe,
Eleanora und Andrew
Jarmila schüttelte ungläubig den Kopf, während sie sich durch die Haare fuhr. Kurzzeitig stand sie den Tränen nahe. Immerhin war dies ein von ihren Eltern geschriebener Brief, das einzige, was sie noch von ihnen hatte. Doch mit all den aufsteigenden Gefühlen kamen ihr auch viele Fragen in den Sinn.
Vieles aus dem Brief verstand sie nicht. Was war das für eine Prophezeiung?
Dieser Tag war allgemein kein leicht verständlicher. Sie war in eine andere Welt teleportiert worden, hatte ihre Freundin gerettet und mitgeteilt bekommen, dass sie eine Zauberin war. Und jetzt kam auch noch dieser unverständliche Brief dazu.
Warum war ihr das jahrelang nicht aufgefallen? Wie konnte Jarmila das Tag für Tag übersehen?
Plötzlich krachte es gewaltig. Es klang als würde etwas in tausend Teile zerspringen. Jarmila zuckte erschrocken zusammen und erstarrte vor Schrecken. Doch der Krach hörte nicht auf, es wuselte in der ganzen Wohnung. Jarmila konnte hören, wie eine Tischlampe nach der anderen umgeworfen wurde. Sie hörte motorenartige Geräusche, die zunehmend lauter wurden. Man hätte denken können ein Flugzeug würde durch die Wohnung schwirren. Das Geräusch wurde lauter, es kam näher.
Jarmila blieb starr vor Furcht und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie nicht an diesem Ort wäre. Dieses Etwas kam immer näher und zischte schließlich durch den Spalt in das Zimmer hinein. Jarmila konnte nur etwas schnelles Silbernes im Augenwinkel erkennen, dass ziellos durch den Raum flog und alles von den Regalen holte. Ruckartig duckte sie sich unter einem Bilderrahmen her, der über ihr auf dem Schreibtisch zersprang und die Glasscherben durch die Luft fliegen ließ. Plötzlich hörte der Lärm auf und Jarmila wagte es aus ihrer Deckung zu lugen.
Und was sie dort sah, erstaunte sie auf so vielen Ebenen…
Beim ersten Mal hinsehen, wusste Jarmila nicht was es war. Man hätte es mit einem sabbernden, dicken Hund vergleichen können, der gerade die fünf Stufen bis zu seinem Körbchen heraufgestiegen und dementsprechend völlig aus der Puste war. Seine Brust hob und senkte sich röchelnd, was mit seinem ständigen Rotzhochziehen ein Geräusch ergab, dass wohl nie zuvor jemand gehört hatte.
Die aus seinem Maul hängende Sabber schleckte er entweder mit seiner Zunge auf, sodass Teile beinahe in seine Glupschaugen klatschten oder er ließ sie bis zum Boden tropfen. Mittlerweile war schon eine kleine Pfütze unter seinen mit schiefen Krallen versehenen Pfoten entstanden. Jarmila konnte wohl für alle sagen, dass das nicht gerade appetitlich war.
Dennoch auf seine verschrobene Art und Weise war er irgendwie knuffig, sodass man ihn gleich in die Arme schließen wollte, wenn man den dickflüssigen Speichel nicht beachtete.
Doch so süß man ihn auch finden konnte, so wusste Jarmila mit Sicherheit, dass dieser kleine Kerl alles andere als ein Hund war, auch wenn sie geringfügige Ähnlichkeiten hatten.
Die reptilischen Schuppen, auch wenn ein paar Fellstücke dabei waren und der gewisse Körperbau zeigten eindeutig, dass dies ein Drache war. Und wenn man ihn jetzt unter diesem Wissen anschaute, erkannte man dies auch.
Jarmila hatte keine Angst vor ihm. Das war sicherlich gar nicht möglich. Sie streckte ihre Hand dem kleinen Drachen entgegen auf die er rasch zu lief. Allerdings ging er kurz vor ihrer Hand in eine andere Richtung und um ging Jarmila bis er es sich auf ihrem Schoß bequem machte. Er kuschelte sich ungehindert an sie und schnurrte wie eine Katze. Erst wagte Jarmila es nicht ihn zu berühren, doch schließlich strich sie ihm über seine weiche und zugleich raue Fell-Schuppen-Haut.
Im Nacken hatte er eine braune Fellstelle. Er mochte es anscheinend besonders, wenn Jarmila ihn dort kraulte. Um sein linkes Fußgelenk herum erblickte sie einen goldenen Ring in dem etwas in einer anderen Sprache eingraviert war. „Achaz – Reṣaka a Khūte“
Jarmila seufzte, als ihr ein weiteres Mal klar wurde, was ihr heute alles wiederfahren war. Und sie wollte es nicht unbedingt wieder in ihrem Kopf aufzählen und erneut erleben.
Welcher normale Mensch erlebte denn ein einem Tag solche Dinge? Das war theoretisch unmöglich. Aber in der Praxis…
Achaz hopste von ihrem Schoss und hechtete ungeachtet durch die Wohnung, wobei er ein paar weitere Sachen umstoß und auf dem Boden zerscheppern ließ. Jarmila kniff die Augen zusammen, als sie den Krach hörte. Sie lief ihm nach und erkannte erst dann das unglaubliche Desaster, dass er angerichtet hatte. Überall auf dem Boden lagen Scherben von Bilderrahmen, Vasen und Lampen herum, sowie auch der Inhalt einiger Topfpflanzen.
Jarmila glaubte ihren Augen kaum. Das konnte ein so kleiner Drache anrichten? Ihr verschlug es die Sprache.
Es knackte einmal und das Türschloss drehte sich um. Reid kam endlich heim und würde sicherlich sofort einen Schreikrampf kriegen bei dem Anblick der Wohnung. Der Schlüssel klirrte unverschämt laut, als er auf den Boden fiel.
„Oh mein… Was.. Wie.. Jarmila!“
Reids Gesicht würde zu einer mit Wut verzehrten Grimasse, die auch mit Verzweiflung gefüllt war. Er hielt seine Hände hinter Kopf verschränkt und ließ seinen Blick durch die Wohnung streifen.
„Es ist nicht so wie es aussieht!“, versuchte Jarmila sich schnell zu verteidigen, während Achaz es sich auf dem Wohnzimmerteppich bequem machte.
„Ach nein? Wie sieht es denn aus, Jarmila, wie sieht es aus?“
„Es mag doof klingen, aber ich war es wirklich nicht“, erklärte Jarmila, obwohl sie wusste, dass dies nicht gerade die am besten formulierten Worte waren. Sie wollte weiter reden, doch er schnitt ihr das Wort ab. Eine Ader pochte an seiner Schläfe.
„Und wer soll es dann sonst gewesen sein, siehst du noch irgendwo jemand anderes, der dieses Desaster hätte anrichten können? Nein? Schön, ich auch nicht!“, er war mittlerweile hereingetreten und beugte sich wie ein Polizist im Verhör über den kleinen Esstisch
„Reid, ich war das wirklich nicht. Das war Achaz, so `n kleiner Drache. Er ist hier durch die Wohnung geflogen und hat alles auf den Boden geschmissen.“
Er verstummt einige Zeit und starrte sie nur an. Reid schob den Stuhl unter dem Tisch hervor und ließ sich darauf plumpsen. Er verblasste sichtlich, war unfähig etwas zu sagen. Jarmila sagte ebenfalls nichts. Völlige Stille war eingekehrt, selbst die Standuhr von Mrs. Bernard schien einige Schläge auszusetzen. Jarmila war unangenehm bei diesem Schweigen, am liebsten hätte sie geschrien, doch sie blieb, wie sie war. Erst das Knurren von Achaz durchbrach die Stille und holte auch die Zeit wieder in ihr Leben zurück. Achaz flatterte hoch und visierte sein nächstes Ziel an: Jarmilas Strickjacke.
Mit ungeheurer Geschwindigkeit flog er auf ihre Jacke zu und krallte sich an ihr fest, bevor er sich über ihre Tasche hermachte.
„He!“, wandte sie ein und lief ihm zur Garderobe nach, „Was fällt dir ein!“
Es war immer wieder schön einen Tag mit jener Aktivität abzuschließen, mit der man den Tag auch begonnen hatte. Am Tisch sitzend und aus dem Fenster blickend. Anscheinend waren Urania-Neptunia und ihr Erzrivale noch immer dabei sich gegenseitig um zu bringen. Wie es denn auch Katzen und Hunde so taten.
Auf dem Tisch machte sich Achaz derweilen weiter über ihre Jacke her. Um genau zu sein nicht über ihre Jacke, sondern über den Inhalt, nämlich das Kraut, welches sie am Stand mitgehen ließ. Reid saß ihr gegenüber und blickte auf Achaz herab.
„Reid, was läuft hier eigentlich?“, fragte Jarmila aus der Ermüdung des Tages heraus. Sie war es Leid umgeben von Fragen zu leben, die sie selbst nicht beantworten konnte. Die Verzweiflung war ihr buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
Reid antwortete mit einer anderen Frage: „Was ist dir heute alles passiert?“
Jarmila seufzte einmal kurz auf, bevor sie sich an die Zusammenfassung des Tages ranmachte. Es wäre eigentlich ein guter Zeitpunkt ein Tagebuch anzufangen, jetzt wo so viel passierte.
Sie erzählte ihm von Liz` Beinahe-Unfall, davon, dass sie auf einmal weg war, dass sie den Brief ihrer Eltern gefunden hatte und von ihrer Begegnung mit Achaz. Von ihrem Treffen mit Varani erzählte sie nicht. Das empfand sie irgendwie als zu persönlich. Reid verzerrte einmal das Gesicht, als sie den Brief erwähnte. Er wollte nicht wirklich, dass sie ihn las.
„Ok, Jarmila. Ich hab dieses Gespräch viel zu lange vor mir hergeschoben“, setzte Reid an.
Jarmila stellte sich vor, wie er aufsprang und ihr die Kameras zeigte und dann Liz und Trixie sich die Bäuche haltend vor Lachen reinkamen.
Doch das tat er nicht: „ Als das heute mir Liz passiert ist, hast du gezaubert. Du bist nämlich eine Zauberin, Jarmila.“
Obwohl Jarmila dieselben Worte von Varani gehört hatte, war es gut, es noch einmal gehört zu haben, von einer Person, die Jarmila etwas länger als zehn Minuten kannte. Die Bestätigung tat gut.
„Dieses Internat, auf das du mich schicken willst, ist das eine Art Zauberschule. Hokuspokus und sowas?“, fragte Jarmila scherzhaft, doch Reid antwortete todernst: „Ja, es ist ein Zauberinternat. Übrigens das Beste im ganzen Land.“
Sie schluckte schwer: „Und wann hattest du vor mir das zu sagen?“
„Um ehrlich zu sein: vor den Toren des Internates.“
Jarmila musste innerlich lachen vor Enttäuschung. Sie fühlte sich ein wenig verraten, dass er ihr es bis auf den letzten Drücker verheimlichen wollte. Doch sie biss sich nur auf ihre Lippe und Achaz kaute auf dem Kraut herum. Sie entschloss sich dazu nicht darauf zu reagieren. Die beiden hatten sich in letzter Zeit schon genug gegenseitig angekeift.
Sie nickte nur lange: „Meine Eltern, was ist mit ihnen? Sind sie… waren sie auch Zauberer?“
„Ja, sie waren auch welche. Sogar echt gute“, antwortete er wahrheitsgemäß.
„Und was ist mit dir? Ich hab dich nie zaubern sehen.“
Reid wartete einige Zeit, bevor er antwortete. Naja, es war keine wirkliche Antwort: „Das erzähle ich dir, wenn die Zeit dazu gekommen ist.“
Jarmila sah ihn lange an, doch dann fuhr sie innerlich ihre Fragen durch. Sie wollte diese Gelegenheit unbedingt ausnutzen und alle ihre missverständlichen Fragen klären, solange sie noch die Möglichkeit dazu hatte. Ihr kam wieder der Brief ihrer Eltern in den Sinn. Sie verstand nicht wirklich, was sie meinten. In Wirklichkeit verstand sie gar nichts. Jedenfalls nicht wirklich.
„Was ist das für eine Prophezeiung von der meine Eltern gesprochen haben? In dem Brief.“
Reid mochte es wirklich nicht gerne, wenn man seine Sachen durchließ, aber auf Jarmila konnte er nicht lange böse sein, also war sein Ärger darüber weg.
„Kennst du die Filme, in denen die Protagonisten ihre Zukunft erfahren und dann alles tun, damit sie nicht in Kraft tritt? Letzten endlich erfüllen sie genau mit diesem Verhalten ihre Zukunft.“
Jarmila grinste: „Du wirst mir nichts davon erzählen, oder?“
„Genau“, er lächelte ebenfalls über beide Ohren, „Noch irgendwelche Fragen?“
„Sind sie wirklich tot?“
Er schwieg.
Das war Antwort genug. Nachdem er sich räusperte fing er an über Achaz zu sprechen. Dass Achaz ein Silberfleckendrache ist, auch wenn Jarmila seiner Rasse lieber einen passenderen Namen geben würde, wie: Silberfleckenbulldoggenkatzenmischlingsdrache, aber das war eine andere Sache. Sogar einige Adelige aus Spanien sollen einen Drachen gehabt haben, die sie dann für Botengänge einsetzten. Reid erzählte noch eine ganze Menge über die verschiedenen Drachenrassen und ihren Nutzen, sowie ihre Magie. Außerdem gab er Jarmila noch Bescheid, dass sie am nächsten Tag ein paar Sachen für die Schule kaufen würden.
Kapitel 4
Vor dem hohen Gebäude, mitten in der Stadt machten Jarmila und Reid halt. Sie warf den Kopf in den Nacken, um bis nach ganz oben sehen zu können.
Die Menschen, die sich vor ihnen über den ganzen Platz bewegten, schauten nicht selten gestresst aus. Eine Frau begann hysterisch in ihr Telefon zu schreien und die Arbeitsmoral des anderen zu bemängeln. Ein anderer sprach über die letzten Verkaufszahlen und dass, wenn sie so weiter machen würden die Firma bald schließen könne.
„Reid, ich will ja nichts sagen, aber das sieht nicht sehr…“, sie suchte nach den richtigen Worten, „magisch aus.“
Er schmunzelte vielversprechend und schob sie gerade aus, an den Menschen vorbei die Treppen hoch in die Lobby. Zielsicher bahnte er sich einen Weg zu den Fahrstühlen und drückte auf den Knopf für den vorletzten Stock des Bürogebäudes. Sie fragte nicht weiter was sie dort wollten. Immerhin liefen da noch die Renovierungsarbeiten und außerdem hätte man es merken müssen, wenn sich dort oben ein magischer Markt befindet. So dumm schätze Jarmila die Menschheit nun doch nicht ein. Nach den wenigen Sekunden, die sie im Aufzug verbracht hatten und dem komischen Kribbeln in Jarmilas Bauch liefen die beiden direkt in Planen und Leitern hinein.
Wie Jarmila schon sagte, hier liefen noch die Renovierungsarbeiten, außerdem war es sehr leise. Es klang dementsprechend nicht im Geringsten nach einem magischen Ort. Selbst in Kara’maya war das Tosen des Windes lauter gewesen. Wieder wollte Jarmila protestieren und bemängeln, dass dies wenig zauberhaft aussah, doch sie beließ es dabei, da sie von Reid sowieso wieder eines anderen belehrt werden würde. Also wanderten sie durch die halbrenovierten Räume, bis sie schließlich vor einer milchigen Plane Halt machten, die ihnen die Sicht versperrte. Reid schob diese nach einem kurzen Blick zu Jarmila bei Seite und sie malte sich ein weiteres Mal die schönsten Sachen aus. Ähnlich wundervoll wie in Kara’maya sollte alles sein, auch wenn Jarmila schon gelernt hatte, dass man mit Kara’maya nichts Gutes verbinden sollte.
Jarmila öffnete die Augen und sah nichts von alledem. Da war nur ein labbriges, gläsernes Büro. Wahrscheinlich war es das einzig fertiggestellte in der ganzen Etage. Durch die zwei Glaswände konnte man ins Innere schauen, wo ein Wartezimmer mit Rezeption war. Nichts wirklich Spektakuläres. Nein, es war einfach nur stinknormal.
„Im hinteren Teil wird’s eigentlich erst spannend“, warf Reid in den Raum, bevor Jarmila wieder zweifeln konnte. Er fasste festentschlossen an die Klinke und drückte sie runter.
Doch nichts passierte… Er bekam sie einfach nicht auf.
„Normalerweise sollte die immer offen sein.“
Jarmila schaute durch die Glastür hinein. Wie erwähnt, war dort eine Rezeption und ein kleines Wartezimmer mit Kaffemaschine und kleinen Tischen, die mit Zeitschriften und Zeitungen vollgestopft waren. Das wahrscheinlich normalste Büro der Welt.
„Reingucken hilft dir nichts.“
„Warum?“, gab Jarmila zurück, „Hilft jedenfalls mehr, als dein Gezappel an der Tür. Es ist nämlich niemand drinnen.“
Er versuchte noch einmal die Tür zu öffnen, diesmal aber schien er gedanklich darum bitten, dass sie auf ging. Ohne Erfolg.
„Du kannst nicht wissen, ob jemand drin ist. Das ist eine Illusion. Dahinter ist kein Büro, sondern ein Portal und irgendjemand hat es geschlossen.“
Sie öffnete die Tür zum Wagen und schob sich hinein: „Was soll das heißen, es ist geschlossen? Und wie sollen wir dann darein?“
Reid schaute konfuser, als es die meisten konnten. Vermutlich war es für ihn das erste Mal, dass ein Portal geschlossen war. Jarmila konnte seine Reaktion nicht ganz nachvollziehen. Wenn es geschlossen war, war es eben zu. War ja sonntags bei auch Geschäften so, warum dann auch nicht bei Portalen?
„Du verstehst das alles nicht, Jarmila“, antwortete er abwesend, während er die Autoschlüssel suchte. Jarmila drehte die schon im Schloss hängenden Schlüssel um und startete damit den Wagen: „Ich würde es ja verstehen, wenn du mir wenigstens etwas erklären würdest.“
Jarmila wusste fast nichts über die Welt, in der sie zukünftig leben würde. Dementsprechend hatte sie auch keine Ahnung, was mit den Portalen los war. Reid fuhr los: „Du hast ja Recht. Es tut mir Leid. Nur, du musst verstehen, dass die ganze Sache für mich nicht gerade einfach ist. Für dich ja auch nicht.“
Jarmila musste zugeben, dass sie diese Antwort von ihm nicht erwartet hatte, vielmehr sah sie einer unfreundlichen Diskussion der beiden entgegen. Diese gefiel ihr aber mehr, war ja auch verständlich.
„Kein Problem“, sagte sie, um ihm auf halbem Wege zu kommen. Wenn auch ein bisschen mager, „Also was ist nun los? Es kann ja nicht der Weltuntergang sein, wenn es geschlossen ist, oder?“
Reid schaute etwas skeptisch: „Naja…“
Ein verschlossenes Portal konnte also ein Weltuntergang sein? Klang interessant.
„Reid, wie wär’s, wenn du einfach mal mit der Sprache herausrücken könntest? Dann müsste ich nicht ständig nachfragen.“
Er grinste einmal in ihre Richtung. Erst schweigsam sein und sie dann wegen ihrer Neugierde auslachen? Typisch. Jarmila sah ihn überlegen an und machte ihm klar, dass er endlich mit dem Reden beginnen sollte, sonst würde sie platzen.
Sie bogen einmal scharf rechts ab und fuhren damit nach außerhalb der Stadt, zum Naturschutzpark. Früher waren die beiden oft da, um sich die Geysire anzusehen. Das wurde nie langweilig.
„Es entspricht nicht der Normalität, dass das Portal geschlossen wird. Eigentlich wird nie eins geschlossen. Das letzte Mal ist schon einige Zeit her“, erklärte der wieder ernst gewordene Reid, „Sie werden in der Regel nur verschlossen, wenn es einen triftigen Grund dafür gibt.“
„Kriege oder andere Gefahren“, sagte Jarmila und stellte sich eine grauenvolle Schlacht vor. Reid nickte bedrohlich. Es schien ihm schwer zufallen an so etwas zu denken, dass seine Heimat in Not war, vielleicht auch seine Familie. Da fiel Jarmila ein, dass sie nicht viel über Reids Herkunft wusste. Sie kannte nicht mal die Namen seiner Eltern oder ob er Geschwister hatte.
„Allerdings sollten wir nicht allzu voreilig sein, denn ab und an Mal muss auch das Portal gewartet werden. Passiert zwar nicht oft, aber…“
„Aber wenn es ein Krieg oder sowas ist, ist es da nicht unklug hineinzuplatzen?“
Reid lächelte angestrengt aufmunternd: „Es ist schon nichts, da bin ich mir sicher.“
Dieser Optimismus.
Den restlichen Weg lang lauschten sie der lieblichen Stimme von Mindy Henderson, einem Teenie-Popstar aus Toronto, bis sie schließlich kurz vor dem Eingang des Parks abbogen und im totalen Nirgendwo landeten. Beide stiegen aus und Jarmila konnte nicht nachvollziehen was sie hier wollten. Hier gab es kein Büro oder mindestens eine Hütte. Nur Pflanzen und Tiere und nicht zu vergessen auch Pilze, die bekanntlich weder zum einen noch zum anderen gehören.
„Um deinen neugierigen Fragen entgegen zu wirken: Ja, Jarmila, hier gibt es einen Eingang. Keine Sorge“, grinste er sie an und ging mit ihr durch einen Laubmischwald, bis sie schließlich am Rand ankamen und sich eine riesige Schlucht vor ihnen erstreckte. Das erste Gestein bröckelte schon ab und fiel endlos weit in den Abgrund.
„Aber wo, Reid? Vielleicht hinter einem der Bäume. Oder unter einem Stein? Oder vielleicht doch in der Schlucht?“, sagte sie herausfordernd. Doch als sie seinen Blick sah, als sie die Schlucht erwähnte, wurde ihr schlagartig kalt und ihr stiegen die Haare zu Berge. Das konnte doch beim besten Willen nicht sein Ernst sein!
Als er dann noch hinzufügte: „Weißt du Jar, du solltest nicht immer alles glauben was du siehst. Manchmal können dir deine Augen Streiche spielen.“
Das war’s. Jarmila hatte den Glauben an die Menschheit verloren, es war ein für alle Male aus. Wer konnte so schizophren sein und eine Schlucht, als Streich seiner Augen bezeichnen?
„Reid, ich bitte dich. Das kann doch nie und nimmer ernst meinen, oder? Das ist reiner Selbstmord und das weißt du auch.“
„Mit Selbstmord hast du da im Normalfall schon Recht, aber das ist nicht normal. Du wirst ganz schnell wieder am Boden sein, keine Sorge.“
Jarmila sah ihn geschockt an: „Natürlich werde ich schnell am Boden sein, wenn ich mich hier runter stürze und dann sind wir beide tot!“
Sie blickte ihn an und er nickte einsichtig: „Das war vielleicht ein wenig doof formuliert, aber ich meine es ernst. Du wirst lebend und unversehrt ganz schnell wieder auf festem Boden sein und zwar in einer anderen Welt.“
„Und mit anderer Welt meinst du die Welt nach dem Tod. Nein danke, Reid. Ich hab noch so einiges vor“, sagte sie und machte Anstalten zu gehen, doch er hielt sie zurück und drehte sie ihn Richtung Schlucht und schob sie immer weiter darauf zu. Jarmila hielt dagegen und verlor die Fassung, die sie bis gerade eben noch bewahren konnte. Sie begann hysterisch zu schreien und sich mit aller Kraft gegen ihren sicheren Tod zu wehren. Eines war sicher: Sie wollte so nicht sterben. Nicht hier, nicht an diesem Tag und nicht auf diese Art und Weise. Als sie begriff, dass sie nicht gegen ihn ankam, krallte sie sich an ihm fest.
„Reid, sei vernünftig. Wir können doch über alles reden. Komm schon, überleg es dir anders. Das ist doch nicht dein Ernst. Bitte, Reid. Wir sind doch beide noch so jung. Der Tod hat uns nicht verdient. Reid!“
Sie fiebste vor Angst, als sie an der Kante abrutschte. Der Moment, als ihr die Furcht ins Gesicht geschrieben war und sie dem Tod entgegenblickte, war erschütternd. Nie war Jarmila so ängstlich gewesen, wie in diesem Moment, als sich ihre schlimmsten Träume erfüllten und sie grausig auf dem Grund aufschlagen und sterben würde. Sie schloss die Augen, das letzte, was sie sah, war Reid, der sich die aufgekratzten Arme anschaute und nur den Kopf schüttelte.
Jarmilas Herz raste und genau in diesem Moment kam ihr Stayin‘ Alive von den Bee Gees in den Sinn und ihr wurde ein weiteres Mal klar, wie ironisch ihr Leben doch war.
Ihrem Schicksal gefügt, wartete sie auf den erschütternden Aufprall, der ihr die Lichter ausblies.
„Du kannst die Augen wieder aufmachen.“
Das war Reids Stimme. Sie konnte ihn hören, das war erstaunlich. Nicht so erstaunlich war das Lachen, dass er dann schließlich von sich gab, als Jarmila sich immer noch nicht rührte. War ihm ja auch nicht übel anzurechnen, wenn man bedenkt, dass Jarmila mit gedrückten Daumen und zusammen gekniffenen Augen vor ihm stand. „Ich sagte, du kannst die Augen öffnen“, sagte er lachend, „Du bist nicht tot und mal ehrlich, du solltest mir mal mehr vertrauen.“
Sie linste mit einem Auge und erblickte Reids sanftes Gesicht, die braunen Haare und die dunklen, großen Augen. Nun öffnete sie ihre Augen ganz und erblickte hinter Reid eine wundervolle Szenerie. Der Himmel war wolkenlos in ein königsblau gehüllt, die Sonne schien munter und der Rasen erspross in einem saftigen Grün. Man konnte vereinzelnd Kinder die Früchte von Bäumen pflücken sehen, die nach Flaschen aussahen. Ein Mann ärgerte sich über die Kinder, da es sein Baum und seine Früchte waren, die sie da ungefragt nahmen. Jarmila musste darüber schmunzeln. Sie konnte ebenfalls eine Ziege mit Flügeln erkennen, die seelenruhig neben einem gepunkteten Schaf graste. Jarmila fand diese Welt mehr als aufregend und faszinierend.
„Das ist wunderschön“, staunte Jarmila enthusiastisch.
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2013
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