Anfang des Jahres 2010.
Mein Leben ist zu Ende. Bin ich schon Tod? Oder spielte mir mein Körper einen Streich?
Ich fühlte in meinen Körper etwas, was ich nie wieder hätte fühlen können, wenn ich denn wirklich Tod gewesen wäre.
Ich bemerkte Metall und Stoff über meinem Körper. Vorsichtig schnupperte ich und ein steriler Geruch umfing den Raum. Ich lebte also noch, was für eine Schande.
Mein Körper fühlte sich starr und ganz kalt an. Ich gehörte nicht in diesen Körper.
Fremd. Genau so konnte ich es beschreiben. Was ist geschehen?
Behutsam schlug ich die Augen auf. Ganz langsam und vorsichtig lugte ich durch meine langen Wimpern.
Lag ich etwa auf einer Bahre? Bin ich im Leichenschauhaus gelandet? Oder nur im Keller des Krankenhauses hier in Flagstaff?
Meine Finger fühlten sich taub und trotzdem stark an. Ein beunruhigendes Gefühl.
Jetzt schaute ich genauer hin und bemerkte das ich ganz allein, außer den anderen Toten, hier war. Nicht lebendiges war hier anwesend. Also setzte ich mich auf und bemerkte, dass ich nichts anhatte.
So ein Mist, dass passiert auch immer nur mir!
Ich wickelte mir das weiße Tuch um meine Brust und riss mir das Schildchen von dem Fuß.
Darauf stand: Ashlee Ocean. Geboren: 23. Oktober, 1980 in Arizona, Flagstaff. Mit 17 Jahren verstorben (19. Dezember, 1997).
In welchem Jahr wir wohl sind? Sie hielten mich also für Tod? Ich suchte nach einem Spiegel. Als ich ein paar Schritte gegangen war, bemerkte ich ein ungewolltes verlangen.
Es flackerte in mir wie ein wildes, ungezähmtes Tier. Es brennte in meiner Kehle und verursachte einen stechenden Schmerz. Wie Flammen breitete es sich in meinem ganzen Körper aus.
Der Schmerz traf mich wohl immer wieder. Wie der Tod, hatte er es auf mich abgesehen?
Ich machte mich auf den Weg und tapste mich durch die Dunkelheit. Komisch ich konnte trotz der Dunkelheit alles genau sehen. Die Umrisse der Gegenstände waren genau zu erkennen.
In einem Schrank fand ich Arztklamotten. Ich wusste wie man sie anziehen sollte, damals hatte ich ein Praktikum als Schwester gemacht und mit eins abgeschlossen. Natürlich war das jetzt schon einige Jahre her, trotzdem erinnerte ich mich genau daran, wenn auch nur etwas verschwommen. Schnell zog ich die weißen Sachen über und ging aus dem toten Raum.
Ich hörte Stimmen und gleich schmerzte es wieder in meinem Hals. Ich konnte ein leises zischen nicht vermeiden. Vorsichtig schlich ich an den Schwestern vorbei. Ich konnte ihren Herzschlag spüren, merkte ihren Atem und spürte jede einzelne Bewegung von ihnen. Sie rochen einfach himmlisch.
Was denke ich denn da gerade?
Kopfschüttelnd versuchte ich weiter voranzukommen. Ich war überrascht, dass ich mich nicht gleich auf die beiden Schwestern stürzen würde. Doch ich konzentrierte mich auf meinen Fluchtweg.
Als ich endlich aus dem Sacred Memorial Hospital hinausgelangen war, bemerkte ich erst die Kälte. Doch ich zitterte nicht. Dann versuchte ich meinen Hunger zu stillen, indem ich zur nächsten Tankstelle raste. Der Tankwart blinzelte mich an. „Miss?“
Ich musterte seinen Blick und fragte mich was er wohl gerade dachte.
Plötzlich und ich wusste nicht wieso, hörte ich sie: Was macht sie wohl hier? So ein wunderschönes Mädchen sollte nicht hier alleine sein. Vielleicht gebe ich ihr etwas umsonst, sie sieht ziemlich geschwächt aus.
Schnell riss ich mich zusammen und antwortete:„ Haben sie etwas zu essen?“
Er nickte. „Oh, mist! Ich habe ganz vergessen mein Portemonnaie mitzunehmen.“ In Gedanken versunken was ich jetzt bloß machen sollte, reichte der Tankwirt mir zwei Schokoriegel.
„Nehmen Sie. Es ist ein Geschenk, weil sie so durcheinander sind und nicht weiter wissen.“
„Oh, Danke! Ehm, da wäre noch etwas wissen Sie vielleicht welcher Tag heute ist?“
Ohne auf seine Antwort zu hören suchte ich in seinen Gedanken das genaue Datum.
Heute ist der 18.02.2010.
2010!? Ich war 13 Jahrelang bewusstlos? Wie konnte das möglich sein? Und warum brachte ich keine Luft mehr zum Atmen? Warum hörte ich meinen eigenen Herzschlag nicht, warum fühlte ich ihn nicht? Weitere Warum- Fragen schossen mir alle gleichzeitig durch den Kopf, bis ich bemerkte, dass ich von dem Tankwirt skeptisch angeschaut wurde. Ich musste nicht in seinen Gedanken lesen um das zu deuten.
Schnell antwortete ich:„ Danke, für alles. Bis dann.“ Ohne auf eine Antwort von ihm zu erwarten, ging ich davon.
Meine Gedanken waren ganz woanders. Leise schlürfte ich die Straße entlang. Die Dämmerung erschien am Horizont. Und zum ersten Mal sah ich die Sonne wieder.
Erst dachte ich, vielleicht, aber auch nur vielleicht würde sie mir etwas aus machen. Doch so war es nicht. Ich hatte eine heimliche Vermutung, dass ich vielleicht Unsterblich geworden bin. Das war wohl auch nur Schwachsinn gewesen.
Ich machte meinen ersten Schokoriegel auf und knabberte an ihm. Was zum Teufel? Mochte ich auf einmal keine Schokolade mehr oder was!
Schnell spuckte ich die Schokolade aus und schmiss die beiden Riegel weg. Ein Pärchen beobachtete mich und der Mann schaute gaffend zu mir herüber. Ich hörte in seinen Gedanken, wie er mich musterte und es widerte mich an.
Die Frau stach ihm in die Rippen und sie gingen weiter. Die Stadt hat sich so verändert. Hochhäuser überragten den ganzen Ort. Kleine Parks waren mittendrin, genau wie Shoppingstraßen und Restaurants. Die Menschen verursachten in meiner Kehle nur noch weitere Schmerzen und ich verzog mich in die Kanalisation.
Nicht gerade den Ort, den ich mir vorgestellt hätte. Hier stinkt es und sieht unappetitlich aus.
Aber egal, ich suchte nach einem Ausgang. Das stinkende Wasser reichte bei mir bis zu den Knien und ich musste durch das Wasser warten. Nachher musste ich unbedingt eine Dusche nehmen, egal wo. Das ist ja nicht mehr zum Aushalten hier!
Als ich weiter durch den dunklen Gang mit dem stinkenden Wasser und Krabbeltierchen durchschlug, entdeckte ich einen Geldbeutel. Wenigstens etwas. Schnell schaute ich nach ob Geld drin zu finden war. Und tatsächlich ein Hundertdollarschein war darin enthalten und eine seltsam schöne Kette. Ich suchte nach einem Ausweis, fand aber nichts der gleichen. Also machte ich mir die herzförmige, goldene Kette um und steckte mir das Geld in die Hosentasche. Die Dunkelheit in der Kanalisation engte mich ein, aber nicht nur sie. Sondern auch die Krabbeltiere, Mäuse und Ratten die hier rum krochen. Ekelhaft.
Ich sah eine kleine Wölbung in der Decke und eine mini Leiter. Da musste ein Ausgang sein.
Ich drückte den Deckel des Gullys hoch und krabbelte aus ihm heraus. Ich befand mich auf einer leeren Straße. Schnell schaute ich mich um und zog meine Füße aus dem Gully.
Ich richtete mich auf und klopfte meine Sachen aus.
Puh! Ich kann mich ja nicht mehr selber riechen so übel stinkt das.
Im schnell Schritt machte ich mich auf zu einem kleinen Lädchen an der Ecke. Zum Glück hatte ich etwas Geld gefunden um mir neue Anziehsachen zu kaufen.
Als ich ins Geschäft eintrat, sah mich die Verkäuferin schief an und musterte mich. Sie war noch ganz jung, vielleicht in meinem Alter. Plötzlich bekam ich einen stechenden Schmerz in meiner Kehle. Es brennt schon wieder so höllisch. Mist!
Ein paar Sekunden später beruhigte ich mich wieder und unterdrückte das Gefühl sie anspringen zu müssen.
„Kann ich dir helfen?“ Sie duzte mich wohl, weil ich immer noch wie siebzehn Aussah.
Ich nickte und trat an den Tresen. „Ich suche nur billige Klamotten, bin gerade in den Brunnen getreten. Hab nicht gedacht, dass er so tief war. Komme gerade von meiner Krankenhausschicht.“ Ich krallte mich am Tresen fest und zerkratzte den Schreibtisch. Anscheinend merkte sie das nicht.
Hoffentlich kauft sie mir diese Lüge ab. Ich bin schon immer ein Naturtalent gewesen, wenn es um Lügen ging. Ich setzte mein lässiges Pokerface auf und verlagerte mein Gewicht.
„Schau dich um, hier findest du zwar nicht allzu billiges, aber dafür hübsche Sachen. Wenn du Hilfe brachst, ich bin immer hier.“
Ich nickte und schaue mich im kleinen Laden um. Das war wohl die Mode, die man heute trägt. Na ja, damals haben wir eher Schlaghosen getragen oder sehr kurze mini Röcke. Jetzt sind Kleider und Stiefel in und so was.
Ich kramte mir ein Trägerloses rosa Top mit Strassteinen, einen mini Rock in schwarz, eine schwarze Lederjacke und schwarze Pumps.
Ich reichte es der Verkäuferin. „Das sind Reduzierte Ware, hast du Glück gehabt, Mäuschen.“
Mäuschen? Na ja, ich muss schnell raus hier. Lange halte ich das so nicht mehr aus. Es ist wirklich besser wenn ich nicht in die Nähe von Menschen gehe.
Sie tippte die Summe ab und holte den Bon raus. „Vierzig Dollar bitte.“
Ich reichte ihr schnell das Geld, sie kramte die Sachen in eine Tüte und drückte mir das Wechselgeld in die Hand. „Viel Spaß noch. Bis bald!“
Ich winkte ihr zum Abschied und machte mich auf den Weg. Schnellstens verließ ich den Laden und drückte mich an die Hauswand. Irgendwas stimmt mit mir nicht. Ihr Geruch hat mich fast wahnsinnig gemacht, so unschuldig und süßlich. Was hat das zu bedeuten?
Als ich von Männern von der anderen Straßenseite beobachtet wurde, lief ich in die nahe liegende Gasse hinein. Meine Haare schlug ich nach hinten und zog mich schnell um.
Die zehn Zentimeterabsätze taten mir nicht mal weh, so wie sie es sonst immer getan haben.
Ich konnte sogar gut darin laufen. Als ich die Gasse hinter mir gelassen hatte, sah ich in den jetzt blauen makellosen Himmel. Wenigstens eine Sache die gleich geblieben ist. Das Wetter.
Ich warf die leere weiße Verkaufstüte in einen nahe liegenden Mülleimer. Mein Blick huschte auf die mir davor liegende Schule. Meine Schule. Die East LA. Das war sie gewesen, vor dreizehn Jahren. Jetzt nicht mehr. Es war eine Horrorzeit gewesen.
Was wohl Liana macht? Ist sie schon weggezogen? Warum machte ich mir gerade Gedanken um sie, wenn ich doch weiß, dass ich erstmal einen Platz brauchte wo ich schlafen konnte.
Aber meine Beine bewegten sich immer weiter zur Schule hin. Hier in der Nähe bin ich gestorben, ein Kilometer vor meinem Zuhause. Wie geht es wohl meiner Tante?
Ich hoffte inständig, dass sie noch lebte. Jetzt musste sie Einundvierzig sein. Und ich bin immer noch Siebzehn.
Kopfschütteln wand ich mich von der Schule ab, doch als ich gerade erst fünf Schritte gemacht hatte, sah ich ein paar Schüler heranstürmen. Jetzt musste alles schnell gehen. Ich lief auf die Schule zu schmiss die Eingangstür auf und suchte das Mädchenklo. Wieso laufe ich weg? Wieso habe ich Angst? Angst vor Blut?
Meine Befürchtung ist wahr geworden als ich in den Spiegel des Mädchenklos sah. Meine weißen Fangzähne schossen heraus und wurden größer.
Ich konnte sie nicht unter Kontrolle halten und schrie auf. Ich bin … Mir stockte der Gedanke. Ist so was überhaupt möglich?
Meine silbriggrünen Augen verrieten mich. Danach schaute ich mein übriges Gesicht an. Ich hatte mich verändert, sehr sogar. Ich fand mein tollpatschiges, immer errötetes Gesicht nicht wieder. Jetzt war alles bleich und kalt. Diesmal zischte ich einen lauten Fluch aus und musterte mein aggressives Gesicht. Wer bin ich? Oder eher – was bin ich geworden?
Mein Gehirn wusste es bereits. Eine Untote, eine Unsterbliche – ein Vampir. Doch mein stillgelegtes Herz sagte mir etwas anderes. Ich wollte kein Monster sein, dass andere Menschen dessen Leben aussaugte. Ein aggressives Monster, das nur durch Blutdurst handelte und den Verstand dabei verlor. Habe ich mein Menschsein verloren?
Angst breitete sich in meinem Körper aus, die schon immer in meinem Herzen ganz tief verborgen war.
Aber das Hier und Jetzt zählte nur, ich musste einen Ausweg finden wie ich weiter leben sollte. Irgendeinen Plan brauchte ich jetzt. Aber was für einen?
Sollte ich meiner Tante einen Besuch abstatten? Sie glaubte sicherlich ich sei Tod. Bestenfalls würde sie in Ohnmachtfallen, andererseits würde sie ausflippen und die Polizei rufen. Also lassen wir das erstmal. Am liebsten wüsste ich wer mir das alles angetan hatte. Rachegelüste strömten in meinen Angespannten Kiefer.
Warum war Mike nicht gekommen um mir zu helfen? Hatte er sich schon aus dem Staub gemacht? Oder hatte er mich verwandelt?
Kopfschüttelnd verließ ich vorübergehend das Mädchenklo. Ich hatte meine Zähne jetzt schon etwas mehr im Griff. Der Schulgang war überfüllt von Jugendlichen, die eilig durch die Klassenzimmer stürmten. Sie brüllten und verursachten Chaos.
Was für ein durcheinander. Auf jeden Fall besser als Krabbeltierchen und Ratten. Trotzdem machte mir der Geruch vom frischen Menschenblut zuschaffen. Ein wunder das ich es bisher ohne geschafft hatte.
Ich kam an einem großen Schild, wo drauf stand SEKRETARIAT, vorbei. Ich ging in die mir zugewiesene Richtung und erreichte schnell den kleinen stickigen Raum.
Die Sekretärin war noch nicht anwesend, also setzte ich mich auf einen der Klappstühle und wartete. Ich schlug die Beine übereinander und mein Fuß wankte in einem Takt aus einem meiner Lieblingslieder. Ehe ich mich versah stürmte ein größerer Junge in den Raum.
Seine Gesichtszüge waren Hart und alle ausgeprägt. Er wirkte nicht mehr ganz so kindlich. Seine bronzenen Haare waren wild gestylt und durch einander gewuschelt.
Und dann traf mich der Schlag, seine Augen! Pechschwarz!
Könnte es sein das der Jugendliche Kontaktlinsen benutzte?
Er musterte mich ebenso, wie ich ihn. Seine Lippen bebten. Hatte er grad etwas gesagt?
Ich höre seinen Herzschlag nicht, stellte ich verwirrt fest. Ob er meinen auch nicht hören konnte?
Er bewegte sich elegant zu einem der freien Klappstühle und setzte sich neben mich, ein bisschen auf Abstand bedacht.
Ich runzelte die Stirn und sagte verwirrt:„Hi.“
Er nickte und drehte sich nun vollkommen zu mir um. „Ich kenne dich irgendwoher. Nur weiß ich nicht genau woher. Sagst du mir deinen Namen?“
Vorsichtig legte ich meine Hüftlangen Haare nach vorne und lugte durch die Wimpern, als ob ich auf der Jagd wäre. „Wäre es verrückt dich jetzt anzulügen?“, fragte ich ihn stattdessen.
Vielleicht kannte ich ihn ja, lieber auf Nummer sicher gehen.
Er zuckte leicht mir seinen Achseln. „Ich denke verrückt nicht, nur unhöflich.“ Er lächelte ein schiefes Lächeln, das so wunderschön aussah.
Ich schluckte und antwortete darauf heiser:„ Ich bin lieber vorsichtig. Ganz ehrlich? Ich kann mich nicht genau erinnern. Das hier habe ich an meinem Fuß gefunden, als ich aufgewacht bin.“ Ich musste ihm einfach vertrauen. Ich kramte in meiner Rocktasche und fand das Kärtchen mit meinem Namen und den Daten drauf. Vorsichtig legte ich es in seine starke Hand.
Ich las seine Gedanken und merkte wie der Schock ihn durchfuhr.
Ashlee Ocean. Geboren: 23. Oktober, 1980 in Arizona, Flagstaff. Mit 17 Jahren verstorben (19. Dezember, 1997). Sie ist schon gestorben. Das kann, nein das kann unmöglich so sein.
Jetzt zitterte meine Hand und ich beobachtete ihn eindringlich. Er sah von dem Kärtchen hoch und begegnete meinem Blick.
Ich nahm das Kärtchen wieder und steckte es in meine Rockstasche zurück. Während ich das tat, redete ich wieder mir ihm. „Ich weiß, dass ist einfach schockierend. Für dich weniger. Ich bin in einem Leichenschauhaus des Krankenhauses aufgewacht. Habe mich in der Kanalisation durch gekämpft und auf dem Weg hierher immer wieder ein brennendes verlangen gespürt. Erst im Mädchenklo wurde mir bewusst, als ich meine Fangzähne sah, dass ich ein Vampir geworden bin. Ich war Dreizehn Jahre lang bewusstlos! Immer wieder kommen mir die Bilder durch den Kopf, wie das alles passierte. Ein Mann hatte mich im hinterhalt angegriffen und einfach verwandelt und ich konnte mich nicht wehren. Wahrscheinlich kamen der Rettungsdienst zu spät und fand mich auf den Asphalt. Ich hatte so sehr gehofft zu sterben und mich dem Schicksal zu überlassen. Doch jetzt sitze ich hier und spreche mit einem fremden Jungen über meine Probleme. Wie Armselig ich immer noch bin.“
Mein Nachbar schüttelte den Kopf. „Ich weiß genau wer du bist, auch wenn du mich nicht erkennst. Vielleicht erinnert dich mein Name wieder daran. Du kennst mich, ich bin’s Mike.“
Der Schock stand mir ins Gesicht geschrieben. Er achtete nicht darauf, senkte den Blick und redete weiter. „Ich habe dich eben gesehen, auf dem Schulgelände. Bin deinem Geruch gefolgt, der auf einmal so anders wirkte. Bemerkte, dass du dich im Mädchenklo eingeschlossen hattest, wo ich als Mann natürlich keinen Zutritt hatte. Also wartete ich, aber dann warst du plötzlich wieder weg, genau wie dein Geruch. Also suchte ich dich über all und jetzt habe ich dich gefunden.“
„Mike! Du hast dich vollkommen verändert!“ Ich schlang die Arme um ihn, endlich jemanden mit dem ich meinen Schmerz teilen konnte. Sein Geruch war wie damals, nur ist mir nie aufgefallen wie bleich er wirklich gewirkt hatte.
Er lachte herzhaft und umarmte mich ebenfalls. Einen kleinen Moment saßen wir einfach da und umarmten uns, bis ich mich wieder etwas aufrichtete um ihn ins Gesicht zu sehen.
„Ich muss dich was fragen, Mike. Es geht um die Nacht als wir kurz bevor ich gestorben bin. Da haben wir doch noch miteinander geredet über Liana. Na ja, als ich weiter ging wurde ich überfallen. Dann schrie ich so laut ich nur konnte, auch deinen Namen. Doch du warst spurlos verschwunden. Ich hatte solch eine Angst gehabt. Aber als er von mir abließ, empfand ich nichts mehr, nicht einmal einen richtigen Schmerz. Ich wollte nur noch den Tod, den ich mir schon so lange gewünscht hatte. Aber jetzt will ich wieder mein altes Leben wieder haben. Was bin ich egoistisch.“
Ich schüttelte den Kopf und Mike nahm seine Hand und strich sie über meine Wange.
„Du brauchst keine Angst oder Furcht mehr haben, was da passiert ist. Ich kann es dir erklären, ich war schon weg, du glaubst nicht wie Deprimiert ich war.“
„Ich kann es mir schon denken, du hattest eine Trennung hinter dir, da fühlt sich jeder Scheiße.“ Doch er schüttelte den Kopf schon mitten im Satz.
„Nein, das war nicht der Grund. Du warst es. Ich wollte dich so sehr, deswegen habe ich mit Liana Schluss gemacht. Sie wusste nichts von meinen Gefühlen, sie hätte es dir immer vorgeworfen. Ich weiß wie sie sein kann.“
Schockiert nickte ich ihm zu. Ja, ich weiß auch wie sie sein kann – wie sie damals gewesen ist. Doch meine Erinnerungen sind verbleicht, als ob ein Vorhang meine Sicht verkürzte.
„Am liebsten würde ich alles vergessen was geschehen ist, doch wenn ich alles vergessen würde, na ja dann würde ich dich nicht mehr kennen. Das wäre dann etwas schlecht.“ Ich lachte und er stimmte ein.
„Ja, da hast du Recht. Weglaufen ist nie eine so gute Idee. Willst du mit zu mir nach Hause? Ich glaube wir müssten uns eine Weile unterhalten. Außerdem denke ich, nachdem du in der Kanalisation warst, dass du duschen willst. Hab ich nicht Recht?“
„Oh ja. Das wäre einfach himmlisch. Wohnst du hier in der Nähe?“
Er nickte. „Ja, gleich ein paar Straßen weiter. Wir müssen uns auch darüber Unterhalten wo du genau verwandelt wurdest. Ich muss das alles wissen, vielleicht ist der Täter ja noch hier irgendwo und verwandelt andere Sterbliche. Das wäre nicht gut.“
„Das können wir ja noch später tun, oder? Ich möchte mich erstmal ausruhen. Ich bin so alle!“
Seine Augen glitzerten und das dunkle schwarz, sah jetzt nicht mehr ganz so beängstigend aus. Ich musste lächeln.
„Okay, dann mal los.“
Mike zog mich mit einer Hand hoch und legte seinen Arm um meine Taille. Er brachte mich aus dem Schulgebäude und versuchte, dass uns nicht viele Menschen über den Weg liefen. Er war so nett zu mir, wie damals.
Das Wetter in Flagstaff war wie immer sehr sonnig. So schön ist es mir noch nie vor gekommen. Vielleicht habe ich damals nur nie richtig hingesehen. Ich hatte einen Schleier vor den Augen und habe nichts als Traurigkeit gesehen und Empfunden.
Aber jetzt nicht mehr. Zum Teil war ich glücklich. Und es hat vor allem mit Mike zu tun.
Zusammen gingen wir weiter bis er nach ein paar Minuten schweigen sagte:„ So hier gleich um die Ecke.“
Gespannt darauf wo er wohnte, ließ mich gleich doppelt so schnell laufen.
Als wir ankamen, erschrak ich. Wow – er wohnte nicht in einer Wohnung.
Mike besaß eine ganze Villa?
Er zuckte mit den Achseln als er mein erschrockenes Gesicht sah. „Das Haus gehörte vorher meinem Vater. Als ich verwandelt wurde und er gestorben ist, vermachte er mir das alles hier. Ich wohne alleine, ohne Butler oder sonstigen Kram, mache schließlich alles alleine. Jetzt habe ich ja vielleicht eine kleine Hilfe?“
Ich lächelte. „Darauf kannst du dich verlassen.“
Zusammen gingen wir durch den großen Vorgarten. Mike besaß das alles hier? Niemals hätte ich gedacht, dass er einmal so sein würde. Ich meine nicht nur seinen Reichtum oder seine Villa, auch seine Persönlichkeit. Mike ist immer noch derselbe wie vor ein paar Jahren, nur das er mich jetzt genauer ansieht.
Und das mit einem so intensiven, leidenschaftlichen Blick, wie ich ihn noch nie bei einem Jungen gesehen habe.
Heftig schüttelte ich meinen Kopf. Nein! Ich darf mich nicht wieder darauf einlassen. Ich muss mich erstmal um mich selber kümmern…
Gedankenverloren sah ich trotzdem im Augenwinkel, dass mich Mike mit einem prüfenden Blick ansah. Schließlich fragte er:„ An was denkst du gerade so heftig nach?“
Ich blickte auf und antwortete wahrheitsgemäß:„ Na ja, über so ziemlich alles. Was alles passiert ist. Auch über dich und Liana. Weißt du irgendwas darüber? Weißt du ob es ihr gut geht?“
Es folgte eine lange Pause. Inzwischen waren wir am Haus angekommen und er schloss ungeduldig die Tür auf. Schnell öffnete er sie und ließ uns ein.
Es war ein sehr geräumiger Flur. Alles aus weißen Marmor und geschliffenem Stein.
Ich sah meine erste Sitzmöglichkeit und zog Mike gleich hinterher auf die schwarze Ledercouch. „Und?“, fragte ich nervös.
Er schluckte. „Über Liana weiß ich nicht viel. Nach deinem Unfall ist viel passiert weißt du. In der Nacht hat sich keiner Sorgen um dich gemacht. Als du dann am nächsten Morgen nicht in die Schule kamst, wusste ich, dass etwas passiert war. Liana machte sich keine großen Sorgen und meinte nur, du seiest mal wieder krank. Nur ich war mich nicht so ganz sicher bei der Sache, also machte ich mich, nach der Schule, auf den Weg zu deiner Wohnung.“
Jetzt sah er mich grimmig an. Oh mist! Liana und Mike wussten gar nicht das ich bei meiner Tante lebte. Sie wussten gar nichts über mich, nicht das meine Mutter abgehauen ist und auch nicht das mein Vater verstorben war.
„Warum hast du mir nie gesagt wie es dir wirklich geht?“
Jetzt war ich wütend. Was hat euch das denn interessiert…
„Ganz einfach! Wir hatten nie Zeit darüber zu reden und so ein gutes Verhältnis hatte ich auch nicht zu dir, dass ich dir so was hätte anvertrauen können. Liana interessiert sich einen Scheißdreck um mich und das war auch schon immer so. Jetzt mach mir mal keine Vorwürfe es ist immerhin mein Leben und ich darf entscheiden wie ich es führe!“
Grimmig schaute ich zu Boden. Meine Arme verschränkte ich vor meiner Brust und ich schlug dramatisch die Beine übereinander.
Einige Sekunden vergingen, bis er seufzte. „Na gut, da hast du vielleicht recht. Trotzdem, wir waren damals deine Freunde und du hattest ja sonst niemanden.“ Jetzt fasste er mir unters Kinn, sodass ich ihn ansehen musste.
„Bitte weich nicht meinem Blick aus. Ich habe dich schon einmal verloren geglaubt. Ich möchte, dass du glücklich bist und ein Leben führst das dich glücklich macht. Auch damals wollte ich das schon, nur wusste ich nicht wie.
Bitte gib mir und dir selber die Chance an deinem Leben teil zu haben und verschließ dich nicht weiter vor ihm oder mir.“
Darauf wusste ich nichts zu antworten. Wie hatte er mich damals gesehen? Als ich ein Wrack war?
Am liebsten wäre ich jetzt in den Boden versunken.
Plötzlich nahm Mike seine Hand, die erst an meinem Kinn gelegen hatte, und strich sie über meine Lippen. „Bitte lass mich an deinem Leben teil haben…“, flüsterte er leise und sah mich mit einem so intensiven Blick an, dass ich eigentlich hätte wegschauen müssen.
Doch ich konnte mich nicht bewegen und eigentlich wollte ich es auch gar nicht. Dann nahm Mike beide Hände und legte sie mir an meine rot gewordenen Wangen.
So langsam begriff ich was er vorhatte, schreckte aber nicht zurück. Er kam näher und schätze in meinem Gesicht ab, ob ich es denn wollte. Er muss etwas in meinen Augen gesehen haben, dass ihn zögern ließ.
Doch dann presste er seinen Mund auf meinen und wir verschmolzen miteinander.
Dieser Kuss, hatte so was inniges, wie ich es noch nie gespührt hatte.
Es fühlte sich an, als ob wir auf einer beblühmten Wiese stünden, wo es nur uns beide gab.
Wir. Ganz allein, für immer.
Tag der Veröffentlichung: 09.05.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Das Buch widme ich an alle Vampir-Geschichten-Leser ;) Ihr seid die besten!