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Ende des Jahres ,1997

Niemals hätte ich damit gerechnet, dass ich in ein paar Stunden nicht mehr da sein würde. Aber ich war sauer, sauer darüber das ich meinen Bus verpasst hatte und mal wieder zu spät nach Hause kommen würde.
Ich ging vorsichtig an der dunklen Straßeseite entlang, bis ich plötzlich den Halt verlor stolperte und hinfiel.
Der Schmerz durchzuckte mich und ich musste mich mal wieder aufrappeln.
Es war ein ekelhafter Tag. Der Himmel verdunkelte sich und die Sonne verschwand am Horizont. Hier in Flagstaff, einer kleinen Vorstadt von Phoenix, schien fast jeden Tag die Sonne. Ich mochte die Sonne, ja klar, aber manchmal vermisste ich den Wetterumschwung.
Die Straße verdunkelte sich weiter, es war ein gruseliger Ort.
Eigentlich würde ich jetzt schon zu Hause sein und in mein Bett eingemummelt liegen und mein Buch weiter lesen. Aber leider musste mich das Schicksal herausfordern. Meine eigentlich beste Freundin hatte mich mal wieder im Stich gelassen. Und das auch noch wegen ihrem neuen Freund. Vorher war alles anders gewesen. Sie war anders gewesen.
Doch seitdem dieser Mike sich zwischen uns gestellt hatte, war alles anders geworden. Ich war schon immer in ihn verliebt gewesen und Liana wusste das. Sie wusste es ganz genau und hat es trotzdem getan. Und somit verschloss ich mich immer weiter von der außen Welt.
Ich ertappte mich dabei ungerührt auf den grauen Beton Boden zu starren. Die Kälte brachte mir kleine Schauder auf meiner alabasta Haut ein. Sie durchzuckte mich, sodass ich keuchen musste. Langsam erinnerte ich mich wieder daran wie man läuft, also setzte ich mich in Bewegung.
Letztes Jahr, im Oktober, als ich sechzehn geworden bin, entschied meine Mutter, dass es Zeit war aus unserem Leben zu verschwinden. Daraufhin starb mein Vater und ich bleib alleine zurück. Geschwister habe ich nicht und nur meine Tante war noch für mich da.
Sie hatte mich aufgenommen. Aber auch Tante Margrit war nicht oft Zuhause. Sie blieb immer länger auf der Arbeit und ich musste für mich allein Sorgen.
Doch es gab auch Momente, in denen sie sich um mich rührend kümmerte. Wenn ich krank war oder wenn es in meinem Leben wieder überwiegend schlecht lief.
Meine Tante war ein sicherer Hafen. Doch auch sie vergaß wichtige Dinge. Zum Beispiel heute, mein Geburtstag. Nicht mal meine Freundin hatte sich die Mühe gemacht sich daran zu erinnern.
War es denn wichtig?, fragte mich meine innere Stimme.
Normalerweise würde jeder Mensch darauf antworten, dass es einem natürlich etwas ausmachte. Doch ich habe mich so dran gewöhnt, nicht zu den anderen zu passen, dass ich selber nicht mehr genau daran dachte.
Der Tag ist so normal wie jeder andere auch. Oder nicht?
Das fragte ich mich die ganze Zeit. Gab es niemanden, wirklich niemanden den ich wichtig war? Spontan würde ich auf meine Tante tippen, doch auch sie war ungezwungen.
Beängstig und mit den Gedanken woanders, tapste ich die Straße entlang. Nicht einmal Lichter waren hier und das erstaunte mich auch nicht weiter.
Die Schultage verstrichen und mein Leben wurde immer eintöniger. Meine Freundin Liana, meldete sich nicht mehr bei mir und Mike beobachtete mich. Immer wenn ich aus der Schule ging war er dort. Eines Abends rief Liana mich an. Voller Kummer schlurzte sie ins Telefon.
„Ashlee! Hilf mir. Mike hat mich verlassen! Er hat mich sitzen gelassen! Kannst du dir das vorstellen, ich meine...“
Und so redete sie einfach weiter. Das tat sie immer wenn sie etwas schwer belastete um mich am nächsten Tag wieder vollkommen zu ignorieren.
Es war so wie jedes Mal, nur das ich diesmal aufrichtig zuhörte. Woran das wohl liegen mag?, sagte ich sarkastisch zu mir selbst.
„Weißt du warum er das getan hat? Welchen Grund nannte er dir? Ich meine jeder Junge hat eine Ausrede.“ Ich zügelte mein Interesse etwas.
„Ach Ashlee. Es ist so Niederschmetternd! Mike sagte mir, er würde mich verlassen weil ich ihn benutzt hatte. Er meinte, er liebte jemand anderen und er könne nicht mehr so tun als ob. Dieser Scheißkerl!“
Ich musste schlucken. Tat er das wegen mir? Ach was mache ich mir denn da wieder vor! zwischen den beiden ist das doch immer so. Erst sind sie zusammen, dann streiten sie sich wieder und sind sie wieder auseinander.
Schnell verwarf ich diesen Gedanken wieder aus meinem Kopf.
„Ja das stimmt. Oh, es tut mir leid für dich meine Liebe. Du hast jemand besseren verdient.“
Liana schlurzte abermals. „Ich weiß, ich habe sogar schon jemanden gefunden. Kennst du Taylor? Er geht in die parallel Klasse und er wirft mir immer einen flirtenden Blick zu! Er ist ja SO süß!“
Das war typisch für Liana. Sie war wunderschön und scherte sich nicht um andere. Schon gar nicht um andere Mädchen. Ich war eine ganz kleine Ausnahme, weil ich sie schon seit dem Krabbelalter kannte.
„Oh ja. Das ist ja schön für dich Liana! Ich hätte nicht gedacht das du Mike so schnell vergessen kannst.“
Das klang eher als eine Frage. Ich hoffte sie bemerkte es nicht und sie tat es auch nicht.
„Hey Süße, ich bin nicht wie du, die ihr Leben wegwirft wegen eines Typen. Ich lebe schließlich im 21. Jahrhundert. Du hingegen bist im Mittelalter geboren und auch nie herausgewachsen.“
„Ich nehme mal an das war ein Kompliment“, sagte ich schnippisch.
„Denk wie du willst. Ach ja, wie sieht es bei dir in der Liebe aus? Schon über deinen Ex hinweggekommen?“
Sie wusste gar nichts über ihn. Liana wusste nicht was er getan hatte – was er mich hatte tun lassen. Sie hatte keine Ahnung und das war auch gut so. Ich wollte nicht mehr daran denken und schon gar nicht darüber reden. So was hilft mir auch nicht weiter.
„Schon lange! Was denkst du denn? Na ja, du. Ich muss auflegen. Hab meine Hausaufgaben noch nicht fertig“, wie schnell ich doch lügen konnte, um vom Thema ab zu kommen.
„Okay, mach’s gut Süße! War schön mal wieder mit dir zu reden.“
Ich legte auf. Und Morgen hast du alles wieder vergessen so wie immer.
Ich würde nie etwas vergessen. Mein Gedächtnis erinnerte mich immer Schmerzlich daran, was für ein Leben ich führte.
Als ich so da saß, alleine in der Küche. Angelehnt an der Theke, dachte ich an den Tod. Wie würde sich das wohl anfühlen, zu sterben? Einfach abtauchen und alles hinter mir lassen?
Ich würde es erst erfahren wenn es so weit war. Erst wenn ich kurz vorm Sterben wäre, wüsste ich wie sich das anfühlte. Doch irgendwie wollte ich nicht, dass mein Leben jetzt schon zu Ende ging. Schnell entschloss ich mich dazu ins Bett zu gehen und einfach zu schlafen – wenn das denn möglich war. Zu all dem war ich auch noch erkrankt. Hatte ziemlichen Husten und schnupfen. In meinem Hals brannte es, wenn ich versuchte durch den Mund zu atmen und das tat ich auch, wenn ich schlief.


Am nächsten Morgen wachte ich schreiend auf. Wie immer, nichts Neues für mich. Meine Tante war noch nicht nach Hause gekommen. Sie war wohl wieder bei irgendeinem Geschäftstermin sitzen geblieben und hatte sich einen Typen geangelt. Das machte sie immer, wenn sie schlecht drauf war um alles zu vergessen. Im Gegensatz zu mir ist sie ein richtiges Energiebündel. Tante Margit hat es nicht gern wenn jemand Trübsal bläst und deswegen verhielt ich mich in ihrer Gegenwart so, wie sie es gern wollte. Als ich auf die Uhr schaute, war ich völlig perplex. Heute bin ich ja später dran als sonst! Jetzt aber schnell!
In höchst Geschwindigkeit raste ich durch die Wohnung, machte mich fertig und ging zur Schule.
Die Schule erinnerte mich an ein Gefängnis. Man muss hingehen und kann erst entfliehen wenn man fertig ist. Wenn man die Schule schmeißt, kann man sich von seinem Leben verabschieden und gleich als Penner durch die Stadt laufen.
Heute hatte ich länger Schule und wie immer lehnte Mike an der Schulwand und neigte sich zu mir hin. Er hielt mir wie jeden Morgen die Tür auf und trotzdem war es immer wieder überraschend für mich. Das tat er auch wenn ich aus hatte. Immer stand er ganz Regungslos da und hielt mir strahlend die Tür auf. Aber diesmal war ich nicht allein. Nach dem Telefonat gesellte Liana sich immer zu mir. Komisch, hatte sie sich etwas doch dazu entschlossen menschlich zu werden?
Doch dann sah sie Mike, der mir lächelnd die Tür aufmachte um mich zu begleiten. Er sah Lina nicht einmal an. Und irgendwie schmeichelte mir das. Und dafür hasste ich mich umso mehr. Nur Mike kann so reglos und doch so hinreißend sein.
Lina senkte widerwillig ihren immer angehoben Kopf und rümpfte ihre Nase. „Hast du was mit ihm?“, flüsterte sie mir drohend ins Ohr.
Ich schüttelte nur den Kopf und sie lief weiter bis zu ihrem Auto. Ich setzte mich so langsam auch wieder in Bewegung. Doch diesmal bleib ich hinter der Tür stehen. Vor der Schule standen wir so lange da und sahen uns an. „Na ja, ich muss so langsam los.“, sagte ich widerwillig und er ließ mich gehen. „Bis bald“, flüsterte er mir ins Ohr.
Abermals hatte ich den Bus verpasst und musste zu Fuß laufen. Die Straße verdunkelte sich und die Angst machte sich in meinem so zierlichen Körper breit. Einige Zeit später war ich immer noch nicht zu Hause angekommen. Zu Fuß brachte ich immer doppelt solang.
Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich einige dunkle Gestalten auf der anderen Straßenseite. Erst dachte ich, es wären Schatten gewesen, doch als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass es Männer gewesen waren. Sie glucksten und lachten, schrien und schienen sich zu amüsieren, im Gegensatz zu mir. Keine Angst.
Meine innere Stimme brachte mich zum stehen und ich sah die Männer verdattert und an. Ich bemerkte, dass Mike unter diesen Männern war.
Plötzlich zuckte er zusammen. Als ob er meine Gedanken gehört hatte, sah er mich unverwandt an. Die anderen Männer schienen das nicht aufzufallen und gingen einfach lachend weiter.
Doch er blieb und verharrte in seiner Position. Langsam lief ich zu ihm hinüber.
„Hey Mike! Warum bist du nicht bei Liana?“ Damit hatte ich seinen Wundenpunkt getroffen. Mist!
Mike schüttelte den Kopf und sagte:„ Hey Ashlee. Na ja. Du weißt doch warum“, er stockte und musste schlucken, redete dann aber weiter, „Ich habe mich mit meinen Kumpels getroffen. Die kann ich ja jetzt auch abhaken.“ Sein Blick wanderte die Straße hinunter.
„Tut mir Leid. Ich meine, wegen deinen Kumpels und das mit Liana.“ Verlegen schaute ich nach unten und ließ mein langes, gelocktes, braunes Haar nach vorne fliegen.
Meine Frisur war einfach geschnitten. Ich hatte einen Pony der meine Stirn verdeckte und mein gelocktes Haar hing bis zu meinen Hüften.
Ich wusste, dass er nicht an mir interessiert war, deswegen musste ich Mut zeigen und normal wirken. Also schoss ich schnell wieder hoch und sah, dass er mich musterte.
„Was ist?“, fragte ich plötzlich.
„Was ist los? Hat dich jemand verletzt?“, er schaute mir prüfend ins Gesicht und ich musste schlucken.
„Wie kommst du darauf? Also, es ist wie jeder andere Tag auch. Ganz normal.“
Jeder einzelne Tag ist aussichtslos. Grau. Auch er kann das nicht ändern, säuselte friedlich meine innere Stimme.
„Du machst so ein trauriges Gesicht. Jeden Tag verlierst du an Fröhlichkeit. Ich frag mich, warum.“ Das letzte war eher an ihn selber gerichtet. Ganz in Gedanken versunken streichelte er meine rot gewordene Wange.
„Ehm, Mike. Ich muss schnell nach Hause. Meine Tante wartet und sonst kriege ich wieder einen Mords Stress. Du weißt ja wie sie ist.“ Mit gespielten Augen verdrehen ging ich
an ihm vorbei und rief ihm, ohne mich umzudrehen hinterher:„ Wir sehen uns Morgen in der Schule. Viel Spaß noch was immer du auch tust!“
Meine Schritte wurden schneller und die Angst verzog sich in mein Herz zurück. Dort bleib sie immer und würde es auch für immer bleiben.
Meine Seele ist verloren. Vor vielen Jahren schon, auch als mein Leben noch ganz normal wirkte. Was macht es da einen Unterschied, jetzt nicht aufzugeben?
Die Gedanken streiften mich wie ein Windspiel. Ich schaute nun in den Himmel, der schon ganz Sternen überfüllt war.
Wunderschön.
Trotzdem es ändert nichts, mein inneres Gesicht bleckte die Zähne.
Behutsam ging ich weiter bis ich plötzlich unerwartet eine Hand auf meiner Schulter spürte. „Du solltest nicht hier alleine sein.“ Als ich mich umdrehen wollte, bemerkte ich einen stechenden Schmerz der sich in meinem Hals befand. Es war eine Männerstimme gewesen. Aber ich kannte sie nicht.
Ich fühlte Hände die meinen Körper streiften. Doch ich bemerkte, dass etwas an meinem Hals saugte. Es war nicht sehr schmerzlich, aber trotzdem der Schrei blieb in meiner Kehle hängen.
Ich versuchte mich los zumachen doch ich schaffte es nicht. Langsam wurde mir schwindelig.
Stöhnend gab ich auf. Nach ein paar Minuten ließ er von mir ab und verschwand.
Ich sackte auf dem Boden zusammen und berührte automatisch meine pochende Halswunde.
Was passiert hier mit mir? Wer war das?
Als ich versuchte aufzustehen, passierte etwas Unerwartetes. Mein Kopf schmerzte und meine Wunde fing an zu pochen.
Ich schrie. Schrie so laut, dass meine Ohren ganz taub wurden. Ich verbrenne!
Mein Herzschlag ging schneller und ich bekam Atemnot.
Warum kommt Mike nicht und hilft mir? Warum bin ich immer alleine?
Mit diesen Fragen verbrannte mein Körper noch mehr und ich schlug hart mit dem Kopf auf den Asphalt.
Das war’s wohl. Wie eintönig mein Leben doch gewesen war. Wenigstens bin ich jetzt frei.
Frei von Seelenqualen. Die Schmerzen werden mich vergessen lassen und bald werde ich Tod sein. Was für ein befreiender Gedanke. Nie hätte ich es für möglich gehalten so frei über mein Tod zu denken. Aber ich wusste, dass mich keiner vermissen würde. Nicht mal mehr meine Freundin. Sie war es lang genug gewesen. Mit meinem letzten Atemzug fühlte ich mich so leicht und Schmerzfrei, wie nie zuvor in meinem Leben.
Sterben ist einfacher als Leben.

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Tag der Veröffentlichung: 08.05.2010

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