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Poitiers, Frankenreich, August 587
Die Mauern von Sainte-Croix saugen die Kälte der Novembernacht auf wie trockenes Moos den Morgentau. Der Westwind rüttelt an den derben Holzläden, die sich in den Fensternischen breitmachen. Ab und zu stiehlt sich ein Regentropfen unter dem Holz hindurch und versickert in den Fugen zwischen den behauenen Steinen.
Die alte Frau am Feuer fröstelt, doch es macht ihr nichts aus. Die Unbehaglichkeit der Klostermauern gehört zu ihrem Leben.
Hinter ihr knarrt der Türriegel. Eine Novizin tritt ein und verneigt sich schüchtern. Sie stellt einen Krug mit heißem Bier auf den Tisch, bevor sie wortlos wieder verschwindet.
Eine kräftige Böe fährt in den Kamin und drückt beißenden Rauch in den Raum. Das ordentlich verschnürte Päckchen Briefe auf ihrem Schoß verschwimmt vor brennenden Augen. Zitternd streicht ihr Finger über das Siegel des obersten Pergaments. Es ist brüchig geworden im Laufe der Jahre und seine Farbe, die einst an geronnenes Blut erinnerte, ist verblasst.
Sie wird die Briefe nicht öffnen. Sie kennt all die Worte, die in steiler Schrift eine Geschichte erzählen, die Geschichte eines wechselvollen Lebens und einer großen Liebe. Die Flammen werfen Schatten auf das müde Gesicht, sie tanzen auf der Haut, die so dünn ist wie das Pergament in ihrer Hand. Der Blick unter dem schwarzen Schleier geht ins Leere und ihre Gedanken wandern den ausgetretenen Pfad der Erinnerungen.
1. Buch: Die Prinzessin
Nackten Fußes die Gattin schritt im Blute des Gatten, über des Bruders Leib stieg da die Schwester hinweg.
Aus der Mutter Umarmung gerissen am Auge nur hing ihr lautlos, ohne Erguss schmerzlicher Tränen der Sohn.
Alles was jene geschmerzt, war mein persönliches Leid. Glücklich die Männer, die tödlich die Waffe des Feindes getroffen.
Ich allein nur blieb, sie zu beweinen, zurück …
(Venantius Fortunatus: Der Untergang des Thüringer Reiches)
Hof des Königs Bertachar im Harz, 529
„Reiter in Sicht! Reiter!“ Der Ruf drang vom westlichen Wehrgang herüber. Die Knechte und Mägde auf dem Hof ließen ihre Arbeit liegen und reckten neugierig die Köpfe.
„Hast du gehört?“ Radegunde sprang auf und drückte Besa den Kleinen in den Arm. „Halt ihn, ich muss nachsehen!“ Sie rannte los.
„Warte!“ Die Dienerin blieb ihr dicht auf den Fersen. Erst als das Mädchen eine der Leitern erklomm, blieb Besa schwer atmend stehen. Ihre Beine waren zu kurz für die derben Sprossen.
„Sag mir wenigstens, was du siehst!“
„Ich sehe zwei Äpfelchen, die würden mir wohl schmecken!“
Ein hagerer Waffenknecht starrte anzüglich grinsend von der Palisade auf sie herab.
„Gleich geb ich dir was zum Kosten!“, fauchte die Zwergin und bückte sich nach einem Korb mit Pferdeäpfeln. Das Kind auf ihrem Arm krähte vergnügt. Der Mann lachte laut und warf ihr eine Kusshand zu, bevor er sich umdrehte und die Hand an den Schwertgriff legte.
„Vaters Farben!“ Radegunde winkte und hüpfte auf und ab, dass der schmale Wehrgang unter ihren Füßen zitterte.
„Das sind die Unseren! Öffnet das Tor!“
„Komm runter, Kind! Bevor was passiert.“
Besa schien den unverschämten Kerl vergessen zu haben.
„Komm sofort runter! Wann das Tor geöffnet wird, bestimmt immer noch der Hauptmann!“
Die Männer lachten, selbst Hauptmann Germar wandte sich mit einer angedeuteten Verbeugung um.
„Vielleicht machen wir heute eine Ausnahme, Prinzessin. Aber erst, wenn wir sicher sein können, dass es nicht doch die Franken sind!“
Er richtete den Blick wieder auf die sich nähernde Reiter- schar.
„Radegunde!“ Besas Stimme kämpfte gegen das an- schwellende Donnern der Pferdehufe.
Sie drehte sich kurz um. Die Zwergin stand noch immer am Fuße der Leiter. Der kleine Bertafrid streckte jammernd die Ärmchen nach oben.
„Ich komme gleich!“
Worauf wartete Germar? Radegunde sah sich um. Alle waffenfähigen Männer hatten den Wehrgang dicht besetzt. Die Frauen verkrochen sich in den zahlreichen Hütten. In der Zisterne unter dem Wehrgang kräuselte sich das Wasser an der sonst spiegelglatten Oberfläche. Über den hölzernen Schutzwall drang der beißende Geruch schwitzender Pferde, den die Reiter vor sich her trieben.
„Prinzessin, es ist besser, du gehst nach unten!“ Germars Ton verbot jede Widerrede, und sie stieg die Leiter hinunter.
Besa zog sie zu sich herab. „Hörst du das?“, flüsterte sie.
Die heranpreschenden Pferde wieherten. Sie rochen den vertrauten Stall. Das Horn ertönte mit dem vereinbarten Zeichen. Alles schien wie immer, aber Besa zitterte neben ihr.
„Es ist so – still“, sagte sie. Ihre Stimme klang heiser.
Still? Und da wusste Radegunde, was falsch war. „Sie jubeln nicht!“, sagte sie, und Besa nickte.
Copyright © Amicus Verlag
Texte: erschienen im Amicus Verlag
ISBN: 978-3939465355
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2010
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