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Der Weg von der Schule nach Hause ist für mich ein schöner Abschnitt des Tages. Ich bin einfach glücklich, wenn ich durch die Stadt gehe, und schon von der Ferne die blaue Linie des Meeres sehe. Die Gassen riechen zwar immer nach Fisch, aber das stört mich überhaupt nicht. Ich wurde im 4.Distrikt, der für die Fischerei verantwortlich ist, geboren und bin mit diesem Geruch aufgewachsen.
„Avril... Avril, warte doch!“, ich drehe mich um und sehe meinen älteren Bruder, Noel, der mich einholt. Er ist mittlerweile schon 19 – zwei Jahre älter als ich – und nachdem er die Schule vor zwei Monaten abgeschloss, arbeitet er als Fischer.
„Was ist denn?“, frage ich ihn neugierig. Er keucht und ringt nach Luft, als seie er schnell gelaufen.
„Komm, ich muss dir etwas zeigen“, murmelt er und zieht ungeduldig an meinem Ärmel.
Lachend lasse ich mich von ihm führen. Obwohl die Straßen etwas eng sind, machen sie keinen düsteren Eindruck, ganz im Gegenteil. Die Menschen reden fröhlich und verhandeln sich, die Verkäufer loben lauthals ihre Waren. Ich mag es, die verschiedensten Fische und Meeresfrüchte, die zu kaufen sind, anzuschauen, auch wenn sie nicht immer frisch sind.
Noel bleibt erst vor unserem Haus stehen. Es ist zwar nicht sehr groß und hat eine schmutzige, gelbliche Farbe, aber meine Familie ist sehr an diesen Ort gebunden. Auf den Wänden des Hauses hängen Fischnetze und Muscheln, die eine angenehme Stimmung erzeugen.
In der Küche riecht es streng nach Algen, die im Distrikt sehr verbreitet sind. Das, was mir sofort aufgefällt, ist etwas großes und glitschiges, das auf dem Tisch liegt.
„Noel“, sage ich erstaunt, „Was ist das?“
Mein Bruder schaut mich begeistert an. „Schau es dir genauer an!“, fordert er mich auf.
Ich komme etwas näher. Das seltsame Ding ist weiß, und hat mehrere Arme.
„Eine Krake!“, rufe ich überrascht. Diese Wesen findet man sehr selten, vor allem so große. Krakenfleisch ist wahnsinnig teuer, und gilt als Luxusware.
„Genau“, bestätigt stolz Noel, „Und zwar eine echt große. Ich habe sie heute in der Früh gefunden.“
„Für so ein Prachtstück bekommst du sicher ein Vermögen!“, lächele ich. Ab und zu gibt es Zeiten, an denen mein Vater und Noel mit leeren Händen nach Hause kommen, aber an manchen Tagen ist der Fischfang wirklich groß. Meine Familie – also Noel, mein Vater und meine Großmutter – veranstaltet dann, am Abend ein kleines Festmahl. Anscheinend ist das einer dieser guten Tage.

* * *

Der Wind lässt meine langen, goldroten Haare um mein Gesicht herumflattern. Vor mir erstreckt sich das Meer. Ich sitze jeden Tag am Strand und beobachte den Sonnenuntergang. Die schönsten zehn Minuten am Tag. Im Wasser spiegeln sich alle Blau, Rot - und Grüntöne die ich kenne. Das ruhige Rauschen der Wellen, ist für mich die schönste Melodie der Welt. Wenn ich könnte, würde ich stundenlang einfach hier sitzen und die salzige Luft einatmen. Noel sagt immer, dass meine Augen dieselbe Farbe, wie das Meer vor dem Sturm haben. So wie die Augen meiner Mutter.
Ich spüre einen Stich im Herzen, wenn ich an ihr liebevolles Lächeln denke, das immer auf ihrem Gesicht erschien, als sie mich anschaute.
„Schau, Mama!“, ruft ein kleines Mädchen, dass am Strand steht und auf die rotglühende, untergehende Sonne zeigt.
„Was ist das?“, fragt es neugierig ihre Mutter. Die beiden sind sich zum Verwechseln ähnlich.
„Nun...“, die Frau beugt sich zu dem Mädchen und umarmt es, „Wenn man der alten Sage der Fischer glaubt, ist es das Auge des Roten Karpfens, der über uns wacht. Wenn die Nacht kommt, schläft er ein, und schließt sein Auge, das nur ein blasser Strich am dunklen Himmel wird. Mit der Zeit schläft der Karpfen immer weniger, bis er sein Auge offen hält und es in der Nacht, hell und groß am Himmel leuchtet. Danach schläft er immer tiefer und schließt es wieder. Das wiederholt sich jeden Monat.
Das Mädchen hört ihr gespannt zu. „Beobachtet er uns gerade?“ flüstert es, als ob die Sonne ihre Worte hören könnte.
„Natürlich“, lächelt die Frau, „Und er wird immer über dich wachen, Av.


Ich muss mit Tränen kämpfen, wenn ich mich an diesen Nachmittag erinnere. Das war unser letzter gemeinsamer Sonnenuntergang. Meine Mutter hörte mir immer zu, und beantwortete geduldig alle meine Fragen. Das war wohl keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, wie neugierig ich bin. Alles änderte sich, als sie beim Fischen von einem schrecklichen Sturm überrascht wurde. Die Fischer fanden am nächsten Tag die Überreste ihres Bootes, aber ihre Leiche wurde nie gefunden. Damals war ich erst sechs Jahre alt, und verstand nicht, wieso meine Mutter mich einfach verlassen hat. Heute verstehe ich es immer noch nicht.
Es wird langsam kühl, also stehe ich auf und mache mich auf dem Weg nach Hause. Er führt an einer Umzäunung vorbei, die unseren Distrikt vom Zehner teilt.
Mit „Zehner“ ist natürlich der 10. Distrikt gemeint. Er ist für Viehzucht verantwortlich, und manchmal glaube ich tatsächlich, dass ich ein Muhen höre. Menschen sehe ich hinter der Umzäunung jedoch nie. Nur eine große, grüne Wiese, und etwas weiter weg den Wald.
Bürgermeister Clyson wiederholt jeden Monat bei der Großen Versammlung, dass das Überschreiten der Distriktgrenze unter Todesstrafe verboten ist. Bis jetzt haben es nur zwei Personen gewagt, seinen Befehl zu brechen. Beide wurden noch an demselben Tag geköpft.
Plötzlich ertönt ein gellender Schmerzensschrei in der Ferne, der mich zusammenzucken lässt. So schreit ein Mensch in Todesnot. Ich schaue mich hilflos um, aber weit und breit befindet sich niemand.
Der Schrei wiederholt sich, und ich weiß plötzlich, woher er kommt. Vom Zehner.
Ohne nachzudenken, klettere ich mühsam über die Umzäunung und erst, als ich drei Meter hoch bin, schaue ich mich um. Ich bemerke eine Frau auf der Straße, die mich geschockt anschaut und werfe ihr einen flehenden Blick zu, aber es ist zu spät.
Sie öffnet den Mund und schreit laut. Wie in der Zeitlupe sehe ich zwei Friedenswächter, die sich hinter mir hermachen. In Panik klettere ich weiter, aber plötzlich spüre ich einen festen Handgriff auf meiner Wade.
„Komm sofort runter, oder ich helfe dir dabei!“, knurrt ein großer, rothaariger Friedenswächter mir kleinen, bösartig funkelnden Augen. Der Handgriff wird immer fester und ich bekomme langsam Angst, das er mir mein Wadenbein zertrümmert.
„Lass los!“, schreie ich wütend, „Dort drüben ist ein Mensch, der Hilfe braucht!“
Der Mann zögert kurz, aber dieser Moment reicht mir vollkommen. Ich trete ihn mit voller Kraft ins Gesicht. Ein unangenehmes Krachen ertönt, und Blut strömt aus seiner gebrochenen Nase. Blitzschnell springe ich von drei Metern Höhe über die Umzäunung.
Als meine Füße den Boden berühren, spüre ich einen stechenden Schmerz im linken Knöchel, aber ich ignoriere ihn, und laufe hinkend in den Wald. Meine Hände zittern leicht und Angst durchströmt meinen Körper. Sind die Friedenswächter hinter mir her?
„Was tue ich bloß?“, murmele ich andauernd, während ich nach dem schreiendem Menschen suche. Wahrscheinlich werde ich durch ihn sterben, aber trotzdem will ich ihm helfen.
Wieso habe ich eigentlich etwas derartig dummes getan? Ich wusste doch, dass das Überschreiten der Grenze strengstens verboten war!
Aber... Es war für mich so selbstverständlich, dass ich dem Menschen helfen muss, dass ich in diesem Moment nicht nachgedacht habe. Tränen der Verzweiflung kugeln über meine Wangen und verschlechtern mir die Sicht, also wische ich sie ungeduldig weg.
Plötzlich höre ich Geräusche, nicht weit von mir entfernt. Das muss wahrscheinlich der schreiende Mann sein! Ich nehme mein Messer, dass ich immer bei mir trage zur Hand, und besiege die letzten paar Meter.
Vor mir erstreckt sich eine riesige Weide, in der Weite sehe ich kleine, dunkle Gestalten der Kühe. Angestrengt durchsuche ich die Umgebung, und plötzlich höre ich ernuet einen Schrei, direkt neben mir.
Zwei Männer erscheinen zwischen den Bäumen. Der schwarzhaarige ist anscheinend verletzt und blutet schlimm, der größere, ein blasser Mann mit steinharten Muskeln schlägt immer wieder zu und verspottet den Gegner.
„Na, glaubst du ist es genug? Oder soll ich dir vielleicht noch eine Lektion erteilen?“, verhöhnt er ihn.
Der andere jedoch wischt sich das Blut von der aufgerissenen Lippe, und spuckt verächtlich auf den Boden vor seinen Füssen.
Als der große Mann dem Gegner einen brutalen Faustschlag in den Bauch erteilt, kann ich nicht mehr zuschauen.
„Lass ihn!“, schreie ich und werfe mich mit voller Wucht gegen den Mann. Zorn pocht in meinen Adern, und ich habe Lust ihn mit blossen Händen zu erwürgen. Obwohl ich nur eine Minute lang dem Kampf zugeschaut hatte, hasse ich dieses Muskelpaket jetzt schon.
Er erwartet keinen Angriff von hinten, verliert das Gleichgewicht, und stürzt überrascht zu Boden. Lange dauert der Überraschungseffekt jedoch nicht. Sofort fixiert er meine Handgelenke und versucht mir knurrend das Messer wegzunehmen. Ich weiß, dass ich mich nicht mit seiner Stärke messen kann. Ohne zu überlegen, brülle ich so laut ich kann: „HILFE!!! Vater, Noel helft mir!“
Der Mann schaut sich unruhig um und lässt mich los. Er flucht verärgert, und erteilt mir eine brennende Ohrfeige. Dann aber ergreift die Flucht. Bald verschwindet seine große Gestalt in der Ferne.
Ich ringe nach Luft, meine Wange schmerzt nach dem Schlag. Natürlich wusste ich, dass Noel und mein Vater mir nicht helfen würden, aber der Trick funktionierte.
Ich drehe mich um und sehe, dass der junge Mann sich gegen einen Baum lehnt und mit Mühe atmet. Ich eile zu ihm und fange ihn in letzter Sekunde auf, da er plötzlich zu Boden fällt. Er blutet aus mehreren Wunden, die wahrscheinlich von einem Messer stammen.
„Alles wird gut“, beruhige ich den Verletzten, während ich mich neben ihm hinknie. Ich glaube nicht richtig an meine Worte, denn seine Verletzungen sehen für mich ziemlich schlimm aus.
Der dunkelhaarige Mann öffnet die Augen und schaut direkt auf mein Gesicht. Mein Körper erstarrt und ich versinke unerwartet in seinen klaren Augen, die grün, wie das Gras um uns herum, sind. Ich bin nicht sicher, wie lange wir uns anschauen – vielleicht eine Minute, aber vielleicht auch eine Ewigkeit. Sein Blick fesselt mich, und ich kann mich nicht bewegen, nicht einmal etwas sagen. Meine Wangen glühen, mir wird abwechselnd heiß und kalt.
Er legt seine zitternde Hand auf meine Finger, die gerade versuchen die Blutung zu stoppen.
„Es ist zu spät“, sagt er mit tiefer, heiserer Stimme und lächelt gequält. Seine Pupillen wandern bis zum oberen Augenrand. Er verliert das Bewusstsein.
Mein Kopf ist leer, ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Nur einen kühlen Verstand behalten! Zuerst... Zuerst muss ich die Blutung stoppen, dass ist mir klar. Ich schaue mich kurz um und bemerke, dass neben dem Verletzten ein Messer liegt. Ich beiße die Zähne zusammen, und schneide den zerrissenen und blutgetränkten Stoff seines Hemdes auf. Mein Magen krampft sich zusammen und mir wird etwas schlecht. Tief durchatmen, dass ist doch nur etwas Blut... Durch seine Brust läuft eine lange Wunde, die wahrscheinlich die schlimmste der Verletzungen ist .
Ich bemerke, dass die Weide von einem breiten Fluss durchschnitten ist, und fülle dort meine leere Flasche mit Wasser auf.
Vorsichtig reinige ich die Wunde, die zum Glück nicht sehr tief, aber stark blutend ist. In der Tasche trage ich immer eine Salbe und ein Sackerl mit Heilkräutern, mit denen ich jetzt die Verletzung behandele.
Am Ende zerreiße ich meinen Umhang in Streifen, und da ich keinen Verband bei mir habe, binde ich die Stoffstücke eng um die Brust des jungen Mannes.
Danach versorge ich kleinere Verletzungen, die nicht so gefährlich sind. Das Gesicht des Fremdens verzieht sich vor Schmerz und seine Muskeln spannen sich an.
„Es ist nie zu spät“, flüstere ich und stehe auf. Er sollte möglichst viel ruhen, wenn er wieder zu Kräften kommen will.
Ich beschließe, mich kurz umzuschauen, um die Umgebung kennen zu lernen. Es wird immer dünkler und kälter. Zwischen den Bäumen sehe ich etwas, das von der Gestalt her an ein kleines Häuschen erinnert. Kann es sein, dass hier jemand ganz alleine wohnt?
Vorsichtig schleiche ich mich an das Gebäude heran und schaue durch das Fenster. Drinnen ist es dunkel, aber trotzdem erkenne ich einen kleinen Raum, mit wenigen Möbeln. Ich bin ziemlich sicher, dass niemand drinnen ist, aber zur Sicherheit nehme ich mein Messer raus, und klopfe an.
Stille.
„Ist jemand zu Hause?“, rufe ich, und meine Stimme zittert etwas. Immer noch Schweigen. Ich lege die Hand auf die Klinke, und zu meiner Überraschung öffnet sich die Tür sofort. Im Häuschen riecht es nach Staub und Mäusekot, anscheinend war schon lange kein mehr Mensch mehr drinnen. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich erkenne ein schmales Bett, einen Kasten und einen Tisch in der Mitte des Zimmers.
Ich überlege kurz. Der junge Mann könnte sich hier viel besser erholen, als im Freien, in der Kälte. Ich überlege nicht lange, fasse einen Entschluss, und laufe zurück zum Verletzten. Ich will ihm nicht lange allein lassen, wer weiß, was in der Zeit meiner Abwesenheit passieren könnte. Der Geruch des Blutes zieht wahrscheinlich manche wilden Tiere, hoffentlich gibt es in der Gegend keine Mutationen.
Ich sehe ihm immer noch unter dem Baum liegend, blass und schwach, und spüre Mitleid in mir aufsteigen. Ein fast erwachsener, starker Mann, jetzt so hilflos wie ein Baby.
Ich spritze ihn mit Wassertropfen an, um ihn aufzuwecken. Ich hoffe, dass es mir gelingen wird... Dass es nicht zu spät ist.
Er öffnet die Augen und kräuselt die Stirn, als ob er sich an etwas erinnern würde.
„Glaubst du... In Liebe... Auf den ersten Blick?“, fragt er mich, und auf seinen Lippen erscheint ein schwaches Lächeln.
Die Frage überrascht mich.
„Ja... Eigentlich schon“, antworte ich und räuspere mich verlegen.
„Gut“, sagt er sanft, und erst jetzt schaue ich ihn etwas genauer an.
Seine Haare sind rabenschwarz und verwuschelt, die Haut gebräunt, obwohl sie nach dem Blutverlust an Farbe verlor. Er hat männliche, gleichmäßige Gesichtszüge, hohe Wangenknochen und eine schmale, helle Narbe, die durch seine linke Augenbraue verläuft. Ich bemerke unwillkürlich, dass er... außergewöhnlich hübsch ist, obwohl er etwas rebellisches an sich hat.
„Ich... Ich habe ein Hütte gefunden, wo du wieder zu Kräften kommen kannst“, sage ich stockend, und spüre, dass ich erneut rot werde. „Wir müssen dorthin gehen. Glaubst du, das schaffst du das?“
Der junge Mann nickt zustimmend. Obwohl ich ihn beim Aufstehen stütze, wird sein Gesicht kreidebleich, und er unterdrückt ein Stöhnen.
„Halte durch“, flüstere ich flehend, und lege seinen Arm um meine Schulter. Wir bewegen uns langsam voran, aber ich weiß, dass es für den Verletzten eine riesige Anstrengung ist. Im Häusschen angelangt, helfe ich ihm sich ins Bett zu legen und decke ihn sorgfältig zu. Bevor ich mich erschöpft auf dem Boden hinlege, greift er plötzlich nach meiner Hand.
„Danke“, sagt er leise, und verzieht das Gesicht vor Schmerzen.
„Es ist nie zu spät.“, flüstere ich. Diese Wörter tauchen immer wieder in meinen Gedanken auf, bevor ich auf dem harten, kalten Holzboden einschlafe.
Es ist nie zu spät.
Die ganze Nacht lang verfolgen mich Albträume. Der rothaarige Friedenswächter, mit der gebrochenen Nase, grinst gespenstisch und hebt eine riesige Axt über Noel. Er will meinen Bruder köpfen und ich kann nichts dagegen tun! Ich schreie und plötzlich verwandelt sich Noel in den verletzten Mann. Er schaut mich vorwurfsvoll mit seinen grünen Augen an.
Erschrocken öffne ich die Augen und brauche ein paar Minuten, um wieder zu mir zu kommen. Angst pocht in meinen Adern und mein Herz rast.
„Das war nur ein Traum“, sage ich leise, und spüre, dass ich Tränen in den Augen habe. Erst jetzt wird mir bewusst, welche Folgen die Überschreitung der Distriktgrenze für mich haben wird. Der Bürgermeister hat sicher die Friedenswächter des 10.Distriktes benachrichtigt, also suchen sie wahrscheinlich jetzt schon nach mir. Auch wenn ich auf irgeneine wundersame Weise, mit dem Leben davonkomme, werde ich mich für immer verstecken müssen. Ich werde meine Familie nie mehr wieder sehen.
Nie.
Ich unterdrücke ein Schluchzen und verlasse schnell die Hütte. Der Tag ist wunderschön, dass freut mich aber nicht. Ich setze mich im Gras hin, und weine wie ein kleines Kind. Dunkle Wolken des Trauers umwickeln mich, und eigentlich ist es mir im Moment egal, ob ich sterben werde oder nicht. Ich habe niemanden, für den ich leben sollte.
Ich erschrecke heftig, weil sich jemand neben mich setzt. Der junge Mann schaut mich traurig an. Er fragt nicht, wieso ich weine, wofür ich ihm sehr dankbar bin, sondern reicht mir ein Taschentuch und wartet, bis ich mich ausheule. Langsam beruhige ich mich. Beschämt wische ich die Tränen weg und bekomme einen heftigen Schluckauf.
„Geht’s?“, fragt er mich sanft. Ich nicke schnell und putze mir die Nase.
„Es ist nur...“, ohne zu Überlegen erzähle ich ihm die ganze Geschichte. Ich erzähle auch die Wahrheit über meine Herkunft, und dass ich wahrscheinlich von Friedenswächtern gesucht werde. Er unterbricht nicht, und hört mir mit mit ernstem Gesicht zu. Nachdem ich fertig bin, herrscht Schweigen ein.
„Du bist vom Vierer“, wiederholt er ungläubig, und schüttelt den Kopf, „Du solltest mich hassen.“
Ich schaue ihn überrascht an. „Wieso sollte ich das? Das Ganze ist doch nicht deine Schuld!“
„Ganz im Gegenteil“, sagt er betroffen. „Wenn du mir nicht geholfen hättest...“
„...dann würdest du sterben“, ergänze ich.
Er mustert mich nachdenklich und berührt vorsichtig den Stoff, den ich um seine Wunde band.
„Dann solltest du mich sterben lassen“, sagt er leise.
Nein, das könnte ich nicht tun. Erst jetzt wird mir klar, dass ich ihn nicht sterben lassen kann. Nicht nachdem ich mich in ihm verliebt habe.

* * *

In der Hütte ist es heiß, ganz anders als in der vorrigen Nacht. Jetzt kommen wir zum unangehnemsten Teil der Behandlung. Wir fanden im Kästchen, dass in der Hütte war, einen sauberen Verband und ein paar andere Arzneien.
Ich schneide den Verband des Verletzten auf, und reinige erneut die Wunde.
Mein Patient beißt in ein Kissen, um nicht loszuschreien und spannt alle Muskeln an. Ich stelle fest, dass er einen recht schönen Körperbau hat, er ist relativ groß, breitschultrig und muskulös.
„Gleich bin ich fertig“, versichere ich ihn und trage etwas Salbe auf die Verletzung auf. Zufrieden stelle ich fest, dass sie besser als gestern aussieht. „Erzähl mir doch etwas über dein bisheriges Leben“, schlage ich vor, um ihn von Schmerzen abzulenken.
Der Mann atmet tief durch und schließt die Augen.
„Was willst du zuerst erfahren?“, fragt er durch zusammengebissene Zähne.
„Hm... Sag mir, wie du heißt.“
„Ich bin Lyam.“
„Und weiter...?“
Lyam überlegt kurz. „Ich habe im April meinen 19.Geburtstag gefeiert. Ich wohne in einem kleinem Haus auf der Weide, und bin ein Hirte.“
„Hast du auch eine Familie?“, frage ich, und spüre einen Stich im Herzen. Ein so hübscher, junger Mann muss wohl eine Freundin haben.
Er schüttelt aber nur finster den Kopf.
„Lyam...“, beginne ich vorsichtig, „Wer war dieser Mann, der dich töten wollte?
„Das war Mortis“, knurrt er und in seinen grünen Augen leuchtet Wut, „Er hasst mich, weil seine Verlobte sich in mich verliebte, auch wenn ich kein Interesse an ihr hatte. Unsere Väter waren befreundet, und obwohl ich und Mortis keine Freunde waren, kamen wir miteinander aus. Aber als er erfuhr, dass das unglückliche Mädchen... Mich mochte, bekam er einen Wutanfall und brachte es um. Anscheinend bin ich sein nächstes Opfer.“
Er lächelt bitter, und setzt sich auf dem Bettrand, damit ich den frischen Verband um seine Brust binden kann.
Seine Geschichte berührt mich wirklich. Ich habe Mitleid mit ihm, und dem armen Mädchen, das starb, weil es in Lyam verliebt war. Ich kann es sehr gut verstehen.
„Darf ich auch deinen Namen erfahren?“, fragt er mich.
„Avril“, antworte ich schnell, „Avril Catch.“
„Avril“, wiederholt er leise. Ich mag seine tiefe, etwas heisere Stimme. Irgendwie klingt sie verführerisch, so dass ich Gänsehaut bekomme.
Lyam geht es sehr viel besser, er kann aber immer noch nicht aufstehen, was ihn sehr iritiert. Am Nachmittag sind wir beide unglaublich hungrig, daher mache ich mich auf dem Weg zum Fluss. In meiner Tasche habe ich noch ein Fischernetz, dass mir sehr nützlich werden kann.
Entspannt setzte ich mich auf einem großen Stein, und werfe das Netz ins Wasser. Ich muss nicht lange Warten, und schon verfangen sich zwei große Karpfen in die Falle.
Lyam muss lachen, wenn ich ihn bitte, die beiden Fische zu töten. Es ist vielleicht komisch, aber obwohl ich im 4.Distrikt lebe... lebte, konnte ich die gefangenen Fische nie alleine umbringen. Dafür taten sie mir zu sehr Leid, mit ihren großen, traurigen Augen.
Gegen Abend zünden wir vor der Hütte ein kleines Lagerfeuer an und Lyam zeigt mir, welche Pflanzen essbar sind und dem Fleisch besseren Geschmack verleihen. Wir sitzen im Gras, reden und genießen das späte Mahl. Ich habe sicher schon besser zubereiteten Fisch gegessen, aber trotzdem schmecken die Karpfen himmlisch. Solange wir in der Nähe des Flusses bleiben, werden wir sicher nicht verhungern.
Schließlich stellt Lyam die Frage, die ich unbedingt vermeiden wollte.
„Avril, was wirst du machen, wenn... Wir uns trennen?“
Ich schaue ihn nicht an und zucke mit den Schultern.
„Ich weiß nicht“, antworte ich und meine Stimme zittert leicht, „Vielleicht... Werde ich einfach hier, in der Hütte bleiben, und mich vor der Welt verstecken.“
Allein die Vorstellung ist schon schrecklich. Einsamkeit ist ein Gefühl, das ich sehr schlecht vertrage. Genauso gut könnte ich sterben.
Der Schwarzhaarige schaut mich schweigend an.
„Und was hast du vor?“, frage ich ihn.
Er seufzt. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder Mortis tötet mich, oder ich ihn. Es ist nicht seine Art nachzulassen, oder zu verzeihen.“
Unsere Zufriedenheit verschwindet spurlos, und nach diesem düsteren Gespräch gehen wir schnell schlafen. Lyam besteht darauf, dass ich sein Bett übernehme, aber ich einige mich nicht darauf. Müde wickele ich mich in eine Decke ein, und lege mich auf dem Boden hin. In dieser Nacht sind meine Träume etwas besser als in der vorrigen.
Die nächsten Tage verlaufen eher ruhig. Lyams Wunde heilt sehr schnell und wir freunden uns immer mehr an. Ich muss zugeben, dass ich mich auch immer mehr in ihn verliebe, obwohl es eigentlich keinen Sinn hat. Bald schon werden wir uns trennen, und jeder wird seinen eigenen Weg gehen.
Der Tag des Abschiedes ist für uns beide schwer. Wir stehen uns gegenüber und wissen nicht, was wir sagen sollen.
Schließlich räuspere ich mich verlegen und sage: „Ich glaube...Wir sollten uns jetzt verabschieden.“
Lyams Gesicht hellt sich plötzlich auf. „Av, soll ich dir mein Haus zeigen?“
„Ist es nicht gefährlich für uns beide?“, antworte ich unsicher, „Wenn uns jemand ertappt...“
„Niemand wird uns ertappen“, er lächelt munter, und greift nach meiner Hand. Mein Herz macht einen plötzlichen Sprung, und glücklich laufe ich hinter ihm her.
Lachend überqueren wir die Weide, und kommen schließlich zu einem nicht sehr großen, aber hübschen Haus. Um es herum grasen Kühe, Schafe und Ziegen. Begeistert bleibe ich stehen.
„Wer hat sich um die Tiere in der Zeit deiner Abwesenheit gekümmert?“, frage ich.
„Jenna“, antwortet fröhlich Lyam, und deutet auf eine kleine, junge Frau, die gerade aus dem Haus läuft und schnell auf uns zukommt.
„Ich wusste, dass du nicht von Isabella gefressen wurdest!“, ruft sie und schaut vorwurfsvoll auf eine Ziege, die gerade vorbeigeht und sie ohne Interesse ansieht, „Sie schaute aber recht verdächtig drein!“
Die Frau hat kleine, dunkle Löckchen, die in alle Richtungen abstehen und eine Menge Sommersprossen. Sie sieht etwas eigenartig, aber ziemlich nett aus. Sie drückt Lyam fest an sich, und der Mann stöhnt vor Schmerzen, denn seine Verletzung ist immer moch nicht vollständig verheilt.
Jenna lässt ihn los und kräuselt die Stirn. „Bist du verletzt?“, jetzt fällt ihr Blick auf mich, „Und wer ist dieses Mädchen?“
„Ich erzähle dir alles später“, sagt Lyam und schaut mich an. „Avril – das ist meine Cousine, Jenna.“
„Hallo, fremdes Mädchen, das mich komisch anschaut“, begrüßt mich Jenna freundlich und schüttelt kräftig meine Hand. Danach verschwindet sie wieder im Haus.
Lyam verdreht die Augen. „Tut mir Leid. Jenna ist manchmal etwas...Seltsam.“
„Ich finde sie echt klasse.“
Vorsichtig strecke ich die Hand aus und streichele eine gescheckte Kuh, die gerade vorbeigeht. Sie schaut mich sanft mit ihren großen, dunklen Augen an, und ich muss schmunzeln.
„Es ist echt schön hier“, sage ich leise. Lyam scheint sehr zufrieden zu sein. Ich liebe es ihn anzuschauen, wenn er lächelt.
Am Abend essen wir endlich einmal etwas anderes als Fisch – Brot, Milch, verschiedene Käsesorten, Gemüse und Schinken. Ich bin von dieser Vielfalt überwältigt – Bei uns im Distrikt essen wir meistens nur alle möglichen Meeresfrüchte, und grünen, salzigen Brot.
Diese Nacht verbringe ich im bequemen Bett.

* * *

„An was erinnert dich diese Wolke, Av?“, fragt mich Lyam. Wir liegen nebeneinander im hochen Gras und beobachten sorgenlos den blauen Himmel.
„Lass mich überlegen... An Isabella.“
Wir müssen lachen, wenn wir an die weiße Ziege denken.
Jenna ging vor lurzer Zeit in die Stadt, und wir verbrachten die Zeit, indem wir einfach faul auf die Wolken schauten.
„Lyam...“, ich stütze mich an meinem Ellbogen und werde ernst, „Was ist mit deiner Familie passiert?“
Er schaut immer noch auf den Himmel, aber Fröhlichkeit verschwindet aus seinem Gesicht.
Nach kurzer Zeit steht er auf. „Komm mit, Av. Ich zeige dir etwas.“
Ich folge ihm, bis wir zu einer großen Buche am Waldrand kommen. Unter dem Baum befinden sich...Drei Gräber aus Marmor.
Lyam schaut auf sie hinab, und sein Gesicht ist unendlich traurig.
Ich lese die Namen auf den Gräbern. Mina, Thal...und Naya. Der letzte Name steht auf dem kleinsten Grabstein, und mir kommen die Tränen hoch.
„Ist es...?“
„Meine kleine Schwester“, Lyams Stimme ist gedämpft und zittert leicht, „Sie starb, als sie acht Jahre alt war. Kannst du dir das vorstellen, Av? Sie war nur ein kleines Kind...“
Tränen laufen über seine Wangen.
„Vor einem halben Jahr bin ich in die Stadt gegangen um etwas zu kaufen. Meine Eltern und Naya sind zu Hause geblieben, aber sie wurden von einem unerwarteten Brand überrascht. Bis heute weiß ich nicht, woher das Feuer kam. Sie versuchten aus dem Haus zu entkommen, aber Flammen versperrten ihnen alle Auswege. Sie sind verbrannt.“
In meinen Augen glänzen Tränen.
„Es tut mir so unendlich Leid“, flüstere ich und umarme ihn. Wir stehen eine Weile da und schweigen.
„Wir können gehen“, sagt er und versucht zu lächeln.
Die Sonne geht unter und der Himmel färbt sich orange.
„Der Sonnenuntergang“, sage ich und spüre Hoffnung in mir aufsteigen. Obwohl ich weit von meinem Zuhause, und dem Meer entfernt bin, ist er immer noch derselbe.
„Bis jetzt dachte ich, dass er Sonnenuntergang, das schönste auf der Welt ist“, sagt Lyam und in seinen Augen sehe ich ein eigenartiges Funkeln, „Aber dann traf ich dich.“
Ich halte den Atem an, und etwas bewegt sich in meinem Bauch.
„Avril...Kannst du dich noch erinnern, als ich dich gefragt habe, ob du in Liebe auf den ersten Blick glaubst?“
„Ja“, antworte ich sofort. Diesen Satz werde ich nie vergessen.
„Und jetzt frage ich dich wieder: Glaubst du in Liebe auf den ersten Blick?“, fragt er ernst.
Ich versinke in seinen grünen, strahlenden Augen.
„Ja“, flüstere ich.
Ein Lächeln huscht durch sein Gesicht, und er beugt sich zu mir. Er ist immer näher...
Lyam küsst mich. Mein Herz rast wild, und Aufregung strömt durch meine Adern. Die ganze Welt ist wie versteinert, im Moment gibt es nur uns zwei. Ich wünsche, diese wenigen Sekunden würden nie vergehen...
„Störe ich?“, ertönt eine ironische Stimme hinter uns. Überrascht drehen wir uns um, und sehen Mortis, der uns spöttisch anschaut.
„Du...“, knurrt Lyam und seine Augen verengen sich zu Schlitzen.
„Ich dachte, du wirst nicht in der Lage sein, ein Mädchen abzuknutschen, nachdem du mein Messer besser kennengelernt hast“, führt Mortis gelangweilt fort, „Tja, leider lag ich da falsch.“
Er nimmt ein langes Messer raus und schaut es fast zärtlich an.
„Nein!“, schreie ich, „Bitte, tue ihm nichts an!“
Ich habe schreckliche Angst um Lyam. Einmal wäre er schon fast von Mortis getötet worden.
Der Mann mustert mich kurz.
„Hübsches Mädchen. Lyam, hast du etwas dagegen, wenn ich sie mir, nachdem du schon tot bist, nehme?
Lyam wirft sich auf Mortis und verpasst ihm einen kräftigen Faustschlag in den Kiefer. Sein Gegner versucht ihn mit dem Messer zu erstechen, aber Lyam hält seine Hand fest.
„Wenn du ihr irgendetwas antust...“, zischt er drohend. Die Männer kämpfen schweigend und ich bin völlig hilflos. Ich weiß nicht, wie ich Lyam helfen sollte. Dazu bemerke ich noch, dass Lyam und Mortis immer näher an einen riesigen Abgrund kommen, der die Erde spaltet.
Ich versuche Mortis sein Messer wegzunehmen, aber er hält es fest. Plötzlich stolpert Lyam und fällt zu Boden. Sein Gegner grinst und tretet ihn mehrmals.
„Lyam!!!“, schreie ich laut. Ich schlage mit den Fäusten gegen Mortis’ Rücken, aber er bemerkt es fast kaum. Wütend beiße ich in seinen ungeschützten Daumen.
Der Mann brüllt vor Schmerzen, und ich lasse nicht nach. Meine Zähne sind vielleicht meine einzige Waffe, denn mein Messer ließ ich in Lyams Küche.
Plötzlich erhalte ich einen kräftigen Kopfschlag, und lande auf dem Boden. Schmerz explodiert in meiner linken Schläfe, und mir wird schwarz vor den Augen.
Ich sehe, wie durch Nebel, dass sich Mortis über Lyam beugt.
„Jetzt wirst du sterben“, flüstert er, „Und mir für alles bezahlen.
Lyam antwortet nicht, sondern schaut in hasserfüllt an.
„Dann werde ich glücklich sterben“, antwortet er und sein Blick fällt auf mich.
Mortis verzieht das Gesicht. „Meinst du? Und was, wenn ich das Mädchen auch umbringe, so wie ich deine Familie umgebracht habe?“
Lyams Gesicht wird kreidebleich.
„Ja, Lyam“, führt Mortis genüsslich fort, „Das Feuer kann doch nicht einfach aus dem Nichts auftauchen. Jemand muss es legen, und in diesem Fall war ich es. Du solltest hören, wie deine kleine Schwester nach dir geschrien hat...“
Plötzlich tretet ihn Lyam mit voller Kraft in den Bauch, und steht auf. Er verpasst ihm einen Schlag nach dem anderen, so dass Mortis sich nicht einmal wehren kann.
Ich sehe brennenden Hass in seinen Augen, und plötzlich wird mir klar, dass er Mortis umbringen will. Schließlich gelingt es ihm, das Messer zu bekommen.
„Lyam!“, rufe ich flehend, „Tue das nicht!“
Lyam dreht sich um und schaut mich an. Er lässt das Messer fallen und kommt auf mich zu.
Hinter ihm sehe ich, dass Mortis aufsteht, und Lyam von hinten angreifen will.
„Pass auf!“, rufe ich, und Lyam springt auf die Seite.
Mortis hat nicht so viel Glück. Er verliert das Gleichgewicht, und stürzt mit einem furchterregendem Schrei in die Tiefe.
Ich spüre, wie mir die Tränen hochkommen. Mortis hat es zwar verdient, aber das alles ist zu viel für mich. Lyam umarmt mich schweigend.
Wir kommen nach Hause, aber dort erwartet uns eine neue böse Überraschung.
Fünf Friedenswächter stehen vor der Tür.
„Laut kapitolischen Gesetzen, sind verpflichtet, Avril aus dem 4. Distrikt zu verhaften“, sagt einer von ihnen. Seine Worte sind für mich irgendwie unrealistisch.
„Mich... Verhaften?“, wiederhole ich langsam. Lyam ist zu geschockt, um etwas zu sagen. Die Friedenswächter fesseln mir die Hände mit Handschellen und ich verstehe die Welt nicht mehr. Nach allem, was ich erlebt habe...
Plötzlich aber hören wir eine laute, offiziele Frauenstimme. Ich kenne sie, es ist die Stimme aus den Lautsprechern, die in jedem Distrikt sind.
„Kapitol existiert nicht mehr“, sagt die Stimme, „Präsident Snow ist tot, und ab sofort gelten seine Gesetze nicht mehr. Das Überschreiten der Distriktgrenze ist jetzt offiziel erlaubt. Nähere Informationen werden in den nächsten Stunden bekannt gegeben.“
Danach kommt Stille.
„Ich glaube, wir werden die Handschellen nicht mehr brauchen“, sagt Lyam ruhig, und befreit meine Handgelenke.
Die Friedenswächter schauen sich unsicher an, aber schließlich kehren sie wieder um und gehen zurück in die Stadt.
„Ich bin frei“, flüstere ich ungläubig. Lyam strahlt über das ganze Gesicht und küsst mich erneut, gefühlvoll und sanft.
Ich bin frei.

* * *

„Wo gehst du hin, Avril?“, fragt mich Noel.
„Ich treffe mich heute mit Lyam“, antworte ich fröhlich. Mein Bruder verdreht die Augen, und droht mir mit einem Fisch.
„Aber versuch nicht später als in drei Stunden zu kommen“, erinnert er mich und verschwindet in der Küche.
Glücklich gehe ich durch die Straße meines Distriktes und treffe unerwartet den rothaarigen Friedenswächter.
Seine Nase ist mittlerweile wieder normal, aber ein wenig schief. Wir nicken uns kurz zu, aber sagen nichts. Wir werden zwar nie Freunde sein, dennoch zeigen wir uns gegenseitig Respekt.

Die Sonne geht langsam unter. Das Auge des roten Karpfens.

„Und er wird immer über dich wachen, Av.“


ENDE

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.01.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Kurzgeschichte den Lesern :) Habt Spaß!

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