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Stille

Leise fallen Flocken auf eine weiße, unberührte Schneedecke. Sanft und lautlos setzt sie einen Schritt vor den anderen. Ihre Schwarzen Locken wiegen im Wind und umschmeicheln ihr fein gezeichnetes Gesicht. Fast scheint es in Zeitlupe. Surreal, wie in einer anderen Welt. Stille. Es ist still. Die Zeit steht.

Schneeflocken legen sich auf ihr Haar. Auf ihre seidengleiche Haut, fast schneeweiß. Sie schmelzen in der Wärme ihres Körpers, einer fragilen, zarten Erscheinung. Stille. Es ist still. Steht die Zeit?

Sie wischt sich geistesabwesend und doch anmutig durchs Gesicht. Kleine Schneeflocken haben Tränen hinterlassen. Tränen. Nein, die Tränen sind längst versiegt. Was bleibt ist Stille. Drückende, erdrückende, grauenhafte Stille. Schmerz durchzuckt ihren Körper. Sie stößt einen Angstschrei aus.

Das Blut in ihren Adern beginnt zu wallen. In ihrem Kopf rauscht es. Die Welt verschwindet, es wird laut. Bilder kommen und gehen. Durchfluten den Geist, erstürmen das Herz, erhitzen den Schmerz.

Ein kleines Mädchen bahnt sich den Weg in ihr Bewusstsein. Klein und zart, zerbrechlich anzusehen. Große, tränenüberflutete Augen. Ein Anblick, der zum Trösten, zum Heilen anmutet. Sanftmütig betrachtet sie das kleine Wesen und findet sich sogleich in ihm wieder. Groß erscheint ihr die Welt, mächtig. Sie blickt mit den Augen des Kindes in die Nacht. Erwartend und angstvoll. Stille.


Ein Schatten nähert sich. Ein Schatten, groß und furchterregend. Er legt sich über sie, scheint sie zu verschlingen. Schmerz, gewaltiger Schmerz. Die Luft zum Atmen versiegt für einen Moment, kommt in unheilvollen Schüben zurück. Die Welt beginnt sich zu drehen, Entsetzen bahnt sich seinen Weg. Stummer Schrei, verhallt im Inneren.


Mit einem Mal hat sie den kindlichen Körper verlassen. Fliegt körperlos und frei zur Decke des ergrauten Zimmers. Im Kinderbett beobachtet sie unheilvolles Treiben. Einen schwarzen Schatten, sich im Wahn eines Moments an ihr vergehend. Ein Leben zerstörend. Ein Herz zerbrechend. Ein Schicksal mit all den Menschen, die kommen und gehen mögen, verfluchend.

Stille.

Lautloses Sterben im Schein einer Kinderlampe. Sterben und doch leben müssen.

Als sie die Augen öffnet, findet sie sich im Schnee wieder. Wie war sie eigentlich hier her gekommen? Atemlos betrachtet sie ihre Hände. Zitternd. Ja, ich lebe. Ich fühle. Ich bin da. Stille. Bitte, einfach nur Stille.


Kahle Äste eines leblosen Baumes neigen sich über ihr Haupt. Fast scheint es, als wollten sie sie berühren. Sie schließt die Augen und nimmt einen tiefen Atemzug. Die Gedanken haben sich beruhigt. Die Bilder sind verschwunden, Schreie sind verstummt. Sie hört ihren Atem in der Stille der Natur. Der friedlichen Natur. Ihr Herz schlägt. Ein gebrochenes, sterbendes Herz. Sie horcht in sich hinein. Tränen. Nein, Tränen gibt es nicht. Sie fühlt sich schwach.

Beim nächsten Atemzug wird es warm. Unheimlich warm. Nicht auszuhalten warm. Sie löst sich aus ihrer Apathie und richtet sich auf. Die Welt dreht sich. Langsam und bedächtig streift sie ihre Jacke vom Körper. Zarte, durchscheinende Haut entblößt sich.

Die Wärme steigt. Mehr, noch mehr muss fallen. Bis ihr weicher, schneeweißer Körper sich nackt in die Schneedecke hüllt. Frieden. Stille.

Ein neues Gesicht erscheint. Nein. Ein bekanntes, vertrautes Gesicht. Schwer wiederzuerkennen. Es ist das Gesicht ihrer Mutter. Einer harten, kalten Frau. Sie ist plötzlich ganz weich. Und jung. Sie sieht sie zärtlich an, zum ersten Mal mit den Augen einer Mutter. "Komm, mein Kind." Eine letzte warme Woge durchflutet sie.

Stille.

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Tag der Veröffentlichung: 14.05.2010

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