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Ich war da.
Schon immer.
Bin so alt wie die Welt selbst.
Habe Reiche kommen und gehen sehen, Menschen auf die Welt kommen und sterben.
Habe Kriege gesehen und selber bluten müssen.
Wurde zurückgedrängt, geschunden.
Ich habe mir keine Gesichter derer gemerkt, die mich besuchten und meine Bewohner schätzten, doch ein Mädchen ist mir im Gedächtnis geblieben: ein armes Ding, das schon in frühen Jahren vom Leben gezeichnet wurde.
Sie kam immer zu mir, klagte mir ihr Leid. Hätte ich mit ihr sprechen können, ich hätte sie getröstet, ihr Mut zugesprochen, hätte ihr gesagt, dass das hier für sie einmal zu Ende sein und sie an einem besseren Ort kommen würde...
Ich habe sie wirklich gemocht.
Olivia, so hatte man sie drüben im Dorf genannt.
"Ich habe Angst! Bitte gewähre mir Schutz!", hatte sie gerufen, als sie mich zum ersten Mal besucht hatte. Ihr Haar war verschmutzt gewesen, ihr Gesicht aufgedunsen vom vielen Weinen und ihr Kleid vollkommen verdreckt und zerissen.
Immer öfter konnte ich ihre Gesellschaft genießen und jedes Mal war sie verzweifelter. Sie erzählte mir von einem Mann, der auch im Dorf lebte. Er hatte Weib und Kinder, was ihn nicht davon abhielt ihr nachzustellen, ihr wehzutun und sie zu erniedrigen.
Kein Mann wollte sie mehr zur Frau nehmen, eine Geschändete. Jeder wollte eine Jungfrau haben, ein unberührtes Mädchen und keine Hure.
Sie meinte auch, dass ihre Eltern sich für sie schämen würden, weil der Dorfpfaffe sie nach der Beichte öffentlich an den Pranger gestellt hatte.
Als lasterhaft hatte man sie beschimpft, als Verführerin Satans, geschickt, um der Weiber Männer zu verführen.
Damals war sie fast noch ein Kind gewesen.

Über Jahre hinweg war ich ihr stetiger Begleiter, verstand ihren Schmerz aber nicht; wie auch? Gefühle hatte ich keine. Aber ich hätte etwas fühlen wollen. Allein um des Mädchens Willen.
Eines Abends dann, als meine Bewohner langsam aus ihrem täglichen Schlaf erwachten und das Dorf sich auf die Nacht vorbereitete, hörte ich Stimmen: die eines Mannes und die Olivias!
Sie klang aufgeregt und weinte; er schrie sie immer wieder an still zu sein und, dass sie nichts daran ändern könne.
Grob stieß er sie zwischen den Bäumen hindurch. Olivia wehrte sich, schrie und keifte, versuchte sich von ihm los zu reißen. Er schlug ihr ins Gesicht, immer und immer wieder. Blut rann an ihrem Kinn hinunter. Ihr Gesicht begann anzuschwellen.
Schließlich lag sie am Boden, krümmte sich unter seinen Tritten. Schon lange hatte sie aufgehört sich zu wehren und begann nun ihn anzuflehen, sie gehen zu lassen, Mitleid mit ihr zu haben, dass kein anständiger Mann sie je haben wollen würde. Doch er lachte nur kalt und trat ihr hart ins Gesicht.
Das Knacken und Knirschen, als ihre Nase brach, schien zwischen meinen Bäumen wieder zu hallen.
Ihr Widerstand war gebrochen. Reglos lag sie auf meinem Waldboden, während ihr Blut sich mit ihren Tränen mischte.
Sie wimmerte leise. Ob vor Schmerz oder aus Angst vermochte ich damals nicht zu sagen. Ich vermutete vor Schmerzen. Ich hatte schon oft erlebt, wie Krieger bei der kleinsten Verletzung in Tränen ausbrachen.
Doch heute bin ich mir sicher: Sie wimmerte, weil sie Angst vor dem hatte, was ihr noch bevor stand.
"Braves Mädchen.", lachte er hässlich und nestelte an seiner Hose herum.
Tonlos und ohne Gefühlsregung ließ sie alles über sich ergehen. Sie tat mir Leid, denn ich wusste, dass dies alles gegen ihren Willlen geschah und dass er ihr weh tat.

Er war schon vor einer Ewigkeit wieder gegangen, doch sie lag immer noch zusammengekrümmt auf dem Boden, still weinend.
Der Wind trug ein leises Flüstern zu mir:
"Warum hast du mich nicht beschützt?"
Langsam setzte sie sich auf, strich ihr Kleid glatt und ordnete ihr Haar. Vorsichtig untersuchte sie mit spitzen Fingern ihr Gesicht. Das linke Auge hatte sich bereits bläulich gefärbt, ihre Nase war unnatürlich verformt.
Schlaff ließ sie ihre Hand wieder fallen und starrte ins Leere. In ihren Zügen bildete sich eine Grimasse des Hasses und des Schmerzes, Entschlossenheit glühte in ihren Augen.
In den langen Jahren, in denen ich die Menschen beobachtet habe, hat mich noch keiner von ihnen so erschreckt. Dieser Blick machte mir klar, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte, eine schreckliche.
Ganz ruhig stand sie auf und ging ohne einen Laut auf die offene Wiese in Richtung Dorf.

Geraume Zeit sah und hörte ich nichts mehr von ihr. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Nicht einmal ihre Stimme wehte vom Dorf herüber.
Schade eigentlich, ich hatte ihre Gesellschaft immer genossen.
Doch eines Morgens, gerade hatte Mutter Erde ihr weißes Kleid übergestreift, als sich weiter hinten am Waldrand etwas rührte.
Leise ungeschickte Schritte, schon fast hastig. Ich hörte genauer hin: Ja, da rannte jemand!
Olivia rannte, als wäre der Teufel höchst persönlich hinter ihr her. Noch jemand kam. Dieser Mann, ich erkannte ihn an seinen plumpen, ungeschickten Schritten.
"Bleib stehen, du Miststück!"
Sie rannte weiter durch den harten Schnee. Ihr Kleid blieb an meinen Dornen hängen. Sie zogen an ihren Haaren, zerschnitten ihr schönes Gesicht.
Ihr Lauf kreuzte einen kleinen Weg, der sich wie eine Schneise durch das Dornengebüsch fraß. Abrupt blieb sie stehen. Der Schnee reichte ihr hier bis zu den Knöcheln.
Wie ein zu klein geratener Troll brach ihr Verfolger aus dem Gestrüpp. Fragend blieb er stehen, fasste sich aber gleich wieder und ein gehässiges, gieriges Grinsen legte sich auf sein Gesicht. Langsam und selbstsicher ging er auf sie zu. Die drohende Haltung seines Opfers schien ihm nicht aufzufallen.
Er streckte seine Hand nach ihr aus, um sie an den Haaren zu sich zu ziehen.
Blitzschnell zog Olivia einen Dolch aus ihrer Kleidtasche und hieb damit nach der ausgestreckten Hand. Sie trennte beim ersten Hieb einen Teil eines Fingers von der Hand. Entsetzt schrie er auf und drückte seine blutende Hand an die Brust.
"Was zum...?!"
Eine Art Kampfschrei schnitt ihm das Wort ab. Mit erhobener Klinge stürtzte sich das Mädchen auf den viel größeren und kräftigeren Gegner, rammte ihm die Waffe in die Brust und brachte ihn zu Fall. Wie in Trance ließ sie es immer wieder durch die Luft fahren. Und jedes mal fand sie ihr Ziel.
Warmes rotes Blut tränkte den weißen Schnee und breitete sich rasch aus. Olivia keifte und schrie immer noch vor Wut, aus Trauer oder aus beiden Gründen und stach immer weiter und weiter...

Etwas weiter ritten gerade zwei Edelleute den Waldweg entlang, als sie das Geschrei hörten. Sich fragende Blicke zuwerfend zogen sie die Schwerter und trieben ihre Pferde an. Wenige Augenblicke nur und sie hatten den Schauplatz des Schreckens erreicht. Entsetzt über das, was sie sahen zügelten sie ihre Pferde: Eine junge Frau, über und über beschmiert mit Blut, mit verklebten Haaren, einem Blick, aus dem der pure Wahnsinn sprach und einem Dolch, mit welchem sie auf den vermutlich schon toten Mann einstach.
Wohl in der Hoffnung, ihr Opfer sei wie durch ein Wunder noch am Leben, preschte einer der Ritter los, sein Schwert in der Rechten, um diesem Grauen ein Ende zu machen.

Im Blutrausch, in den Olivia verfallen war, bemerkte sie die heranpreschende Gefahr nicht. Sie saß auf dem Toten, bohrte mit ihrem Messer in der Bauchgegend und riss auch mit der freien Hand an der Wunde. Wie ein Tier wühlte sie darin herum, versuchte an die Eingeweide zu kommen.
Seiner Kehle hatte sie sich bereits angenommen, sie herausgerissen und den Kehlkopf in ihren Schoß gelegt.

Der Ritter preschte auf die fleischgewordene Furie zu, zielte im vollen Galopp das Mädchen an, hob das Schwert über seinen Kopf und ließ es im richtigen Moment nach unten sausen...
Sirrend fuhr die Klinge durch die Luft, fuhr ohne nennenswerten Widerstand durch Sehnen, Knochen und Fleisch.
Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Mitten in der Bewegung erschlaffte Olivia. Das blutige Messer fiel aus den kraftlosen Fingern, ihr Körper von dem des Toten, der schöne Kopf von den Schultern.

Der zweite Reiter kam heran, stieß Olivias enthaupteten Körper achtlos mit dem Fuß bei Seite und machte sich daran den schon fast ausgebluteten Mann auf sein Pfed zu hiefen.
Ohne sie eines zweiten Blickes zu würdigen machten sie sich wieder auf den Weg, um jetzt zuerst den Leichnam zurück ins Dorf zu bringen und sich dann wieder dem eigentlichen Ziel zuzuwenden.

Da lag sie nun, dieses vor einigen Wochen noch gute und hübsche Mädchen, enthauptet und in den letzten Augenblicken ihres Lebens verachtet und dann abgeschlachtet, wie ein wildes Tier.
Und wieder wünschte ich fühlen zu können, um dieses arme Geschöpf, vom Leben verachtet, zu trauern. Es gab nur noch eines, was ich für sie tun konnte.
Unter dem roten Schnee begann es zu bröckeln und sich zu regen. Wurzeln schoben sich aus dem Boden, schlängelten sich langsam zu den sterblichen Überresten des Mädchens.
Sanft hoben sie sich, krochen über und unter das geschundene Fleisch, die verklebten Haare.
Vorsichtig und mit größtem Bedacht holte ich Olivia zu mir, nahm sie in mir auf, gewährte ihr einen Platz in der Ewigkeit.

Die Menschheit wird es nicht interessieren, was sie dazu bewegt hatte, auch nicht, was dann mit ihr geschehen war. Die Menschen aus dem Dorf hatten sie bald vergessen. Ihre Identität verdrängt. Doch ich, der ich ewig sein werde, werde mich Zeit meines Daseins an sie erinnern und sie so im Gedächtnis behalten, wie sie wirklich war...

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Tag der Veröffentlichung: 25.09.2010

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