Einst lebte in einem dunklen Schloss, nur in Gesellschaft von ein paar mürrischen Dienstboten, eine wunderschöne Zarentochter. Sie durfte das Schloss nicht verlassen, denn ein Bann der Baba Jaga lag über ihr. Erst, wenn ein Mann ihren Namen erriete und sie zur Frau nähme, würde sie von diesem Bann erlöst werden.
Wer aber um ihre Hand anhielt, ohne den richtigen Namen zu nennen, wurde auf der Stelle in einen Wolf verwandelt.
So war es gekommen, dass rund um das Schloss immerzu gar schaurig die Wölfe heulten und ein Hindurchkommen kaum mehr möglich war. Wer es trotzdem wagte, begab sich in höchste Lebensgefahr und wurde von den Wolfsrudeln gehetzt. Gelang es ihm dennoch, das Schloss zu erreichen, dann fand er den Namen der Prinzessin nicht und ein weiterer Wolf machte das Land noch unsicherer.
Eines Tages kam ein Kosak an den Wolfswald. Unheimlich heulte es ihm entgegen, aber der Kosak war ein tapferer Mann. Kraftvoll schwang er seinen Säbel und wehrte alle Angriffe ab, während sein starkes Pferd schnaubend vorwärts stürmte. Die Wölfe waren ihm dicht auf den Fersen, aber er erreichte das Schloss im letzten Moment, bevor die wilden Bestien sich auf ihn stürzten. Das große Tor schwang auf, und der Kosak konnte sich mit einem gewaltigen Satz in Sicherheit bringen, ehe es vor den gefletschten Wolfsgebissen wieder zuschlug.
Der Schlosshof lag dunkel und verlassen zwischen den hohen, efeubewachsenen Mauern da, über das großkopfige Pflaster schlurfte der Kastellan dem Kosaken voran zu dem Eichenholztor, das in das Innere des Schlosses führte. Die Eingangshalle machte denselben dunklen, verlassenen Eindruck wie der Hof, wie das ganze Schloss. Die Schritte des Kosaken hallten laut auf dem blanken Steinboden. Er ging immer langsamer und blieb schließlich stehen. Fragend sah er den alten Mann an. „Wo bin ich hier?“
„Ihr seid im Schloss der namenlosen Zarentochter. Sie ist verflucht, in diesem Schloss zu leben, bis ein Freier kommt, der ihren Namen errät. Wenn er aber ihren Namen nicht errät, muss er für alle Zeiten als Wolf durch diese Wälder streifen.“ Die Stimme des Alten war rau, nuschelnd und feindselig, doch der Kosak horchte auf. Eine Zarentochter erlösen? Das war ganz nach seinem Sinn! „Was muss ich tun?“
„Setzt euch an die Tafel, speist mit der Zarentochter, und alles weitere wird sich ergeben“, erwiderte der Kastellan mürrisch, verschwand durch eine kleine Seitentür, die er sofort hinter sich schloss, und ließ den Kosaken mitten in der recht leeren Halle stehen. „An der Tafel Platz nehmen, ist gut“, dachte der hungrige Kosak, „aber wo finde ich diese Tafel?“ Er nahm all seinen Mut zusammen und öffnete die große Flügeltür gegenüber vom Eingang. Ja, hier stand eine riesige Tafel, gedeckt für mindestens hundert Personen, aber die Gedecke waren verstaubt, das Porzellan hatte Sprünge und Scharten, das Silber war angelaufen und die Servietten waren zerschlissen. In stumpfen Kristallvasen welkten Lilien und Rosen dahin. Ein unangenehm modriger Geruch lag im Raum.
Hier sollte die Zarentochter speisen? Das konnte sich der Kosak gar nicht vorstellen, aber da ging schon eine andere Tür auf, und das schönste und anmutigste junge Mädchen, das er je gesehen hatte, kam herein. Sie war so wunderschön, dass es völlig egal war, wie abgetragen ihr Brokatkleid war, wie viele Goldpailletten am Saum fehlten, wie kahl der Pelzbesatz am Kragen schon war. Der Kosak verliebte sich auf der Stelle in sie.
Sie aber sah ihn kühl und ohne besonderes Interesse an. „Du willst es also auch versuchen? Dann lass uns gemeinsam speisen, danach kannst du dich entscheiden. Willst du es wagen, dann wird man dir eine Schlafkammer zuweisen, und morgen wirst du meinen Namen nennen oder für immer zum Wolf werden. Überlegst du es dir aber noch, dann wirst du nach dem Mahl sofort das Schloss verlassen und niemals wiederkehren.“
Während des Essens sprach die Zarentochter kein Wort. Der Kosak aß hungrig alles auf, was ihm vorgesetzt wurde, er war nicht sonderlich verwöhnt, und er hatte ohnehin nur Augen für das schöne Mädchen, das die Speisen kaum anrührte. Schließlich wurde ihm das Schweigen unangenehm, er räusperte sich verlegen. Als sie ihn ansah, wagte er das Wort an sie zu richten. „Warum seid Ihr verwünscht worden, Herrin?“
Sie sah ihn ernst an. „Ich habe den Bannkreis der Baba Jaga übertreten, weil ich meinen Schwestern beweisen wollte, wie klug und mutig ich bin. Ich wollte eine Feder von ihrem Hühnerbeinhäuschen stehlen, aber sie hat mich erwischt und in dieses Schloss verbannt.“
„Und warum soll man ausgerechnet Euren Namen erraten? Da könnte doch einer vorher bei Euren Schwestern nachfragen, oder nicht?“
Die Zarentochter legte das Besteck nieder und beugte sich dem Kosaken entgegen, den Kopf auf die Hände gestützt. „Als nächstes wirst du mich noch fragen, wie ich heiße!“, spöttelte sie, aber ihre Augen blieben ernst. „Es geht nicht um den Namen, den meine Eltern mir gegeben haben. Die Baba Jaga hat damals gesagt, ich sei ein namenloses Nichts, das es wagt, ihr in die Quere zu kommen. Ich solle verschwinden und begreifen, was ich für ein Nichts sei. Und erst, wenn jemand diesem Nichts den richtigen Namen gäbe, würde ich wieder frei sein.“
Auch der Kosak legte sein Besteck auf den Teller, die Gedanken an Essen waren ihm nun völlig vergangen. „Nun, Ihr seid ganz sicher kein Nichts, Ihr seid das wunderschönste und unglücklichste Mädchen im ganzen Zarenreich!“
„Schönheit ist hier unwichtig, und mein Unglück wirst auch du nicht wenden. Es ist schade um dich, ich möchte nicht, dass du zum Wolf wirst. Geh weg und vergiss mich und dieses Schloss!“
Der Kosak sah in das liebliche, blasse, ernste Antlitz und wünschte sich nichts sehnlicher, als ein Lächeln darauf hervorzuzaubern. „Lasst es mich versuchen, Herrin! Wenn ich Euch hier in Eurer Verzweiflung im Stich ließe, wäre ich im Herzen schon ein Wolf, und dieser Gedanke würde mich mein Leben lang quälen. Da will ich doch lieber versuchen, Euch zu helfen, und falls ich dann ein Wolf werden muss, dann bin ich wenigstens ein ehrlicher Wolf!“
Die Zarentochter schüttelte den Kopf. „Es ist sinnlos. Wie willst du einen Namen erraten, den es nicht einmal gibt? Du hast keine Ahnung, wie viele Männer es vor dir schon versucht haben! Hör auf mich und verlasse das Schloss, bevor die Sonne ganz untergegangen ist.“
„Was für Namen haben Euch die anderen Freier gegeben? Dürft Ihr mir das sagen?“
„Es waren wunderschöne Namen: Tausendschön, Herzenszart, Honigmund, Fliedersüß, Rosenliebchen, Mandelauge, Morgenröte, Sonnenschein, Seidenlöckchen, Apfelblüte, Duft des abendstillen Tales und noch viele mehr. Ich habe sie mir nicht alle merken können. Du siehst, es ist hoffnungslos.“
„Jetzt in der Abenddämmerung durch den Wald zu reiten, wäre genauso hoffnungslos, die Wölfe würden mich zerreißen, bevor ich noch außer Sichtweite Eures Schlosses wäre. Diese Namen sind so wunderschön wie Ihr, ich wäre stolz, wenn mir einer davon eingefallen wäre! Ist einer darunter, der Euch besonders gefallen hat? Vielleicht muss es ja ein Name sein, der Euch gefällt und nicht dem Bräutigam.“
Die Zarentochter lächelte ganz leicht, fast nicht zu bemerken, aber das Herz des Kosaken machte bei diesem Anblick gleich einen Dreifachschlag. „Noch keiner hat mich gefragt, welcher Name mir gefallen würde. Du bist ganz anders als die anderen, ich möchte nicht, dass du meinetwegen zum Wolf verdammt wirst!“
„Ach, vergesst doch diese Wolf-Sache! Sagt mir, Herrin, hat Euch ein Name besonders gefallen?“
Sie dachte nach. „Ich finde sie alle sehr schön, aber sie bedeuten mir nichts. Ich wüsste nicht, wie ich dir helfen könnte, den richtigen zu finden. Es gibt keinen, den ich unbedingt haben möchte, es sind einfach nur Namen.“
„Was geschieht eigentlich, wenn Ihr das Schloss verlasst, ohne dass ein Name für Euch gefunden wurde?“
„Dann zerfalle ich mitsamt dem Schloss zu Asche, und die Diener können endlich sterben. Diese fünf alten Menschen, die noch bei mir sind, haben mich damals nicht im Stich gelassen und sind treulich bei mir geblieben. Aber die langen Jahre haben sie alt und müde gemacht, während ich jung geblieben bin. Das ist ein sehr schweres Los für sie, und nun können sie mich nicht mehr verlassen, weil sie niemals ohne Schutz den Wolfswald durchqueren könnten. Aber du könntest sie geleiten und vor den Wölfen beschützen!“ Ihr Gesicht färbte sich ganz rosig bei diesem Gedanken.
„Nein, schlagt Euch das aus dem Kopf, Herrin! Ich habe heute schon einen Kampf mit diesen Tieren durchgestanden, einen zweiten würde ich nicht gewinnen. Ich werde Euch also morgen um Eure Hand bitten müssen.“
Ein Seufzer, fast schon ein Schluchzer, antwortete ihm, und Tränen standen in den Augen der Zarentochter. „Also gut, wenn ich es nicht verhindern kann, so soll es sein. Aber wisse, wenn auch du den richtigen Namen nicht findest und zum Wolf wirst, dann gehe ich mit dir hinaus vor das Tor und mache meinem Schicksal ein Ende. Kein Mann soll mehr meinetwegen zum Wolf werden!“
Da sprang der Kosak auf, warf sich vor ihr auf die Knie und flehte sie an: „Das dürft Ihr nicht machen, Herrin! Ich weiche nicht von der Stelle, wenn Ihr mir nicht versprecht, dass Ihr nach meinem Scheitern nicht hinausgeht!“
Sie sah ihn lange an. Ihr Blick wurde weich, dann trat ein seltsames Glitzern in ihre Augen. „Ich verspreche es dir“, sagte sie dann schlicht und legte ihre Hände auf seinen Scheitel. „Du bist der Beste von allen, die gekommen sind, vielleicht gelingt dir ja, was den andern versagt war.“
Der Kosak nahm ihre Hände in die seinen und hauchte auf jede einen ehrerbietigen Kuss. „Ich werde die ganze Nacht wachen und beten, damit mir der richtige Name eingegeben wird!“
Die Zarentochter nickte zustimmend und erhob sich. Sofort trat eine alte Frau ein, als hätte sie nur darauf gewartet. „Die Beschließerin wird dir deine Kammer zeigen“ sagte die Zarentochter und neigte zum Abschied den Kopf. Der Kosak brachte kein Wort heraus, stumm sah er ihr nach, als sie den Speisesaal verließ. Dann folgte er der Beschließerin in ein karges Kämmerchen mit Ausblick auf den Schlosshof.
Er legte sich in seinen Kleidern aufs Bett, um ein wenig auszuruhen. Er wusste, dass er diese Nacht keinen Schlaf finden würde. Stunden über Stunden grübelte er über einen passenden Namen nach. Er hätte die Zarentochter fragen sollen, was sie gern tat, was sie sich wünschte, wie sie gern sein wollte – vielleicht hätte sich daraus ein Name ergeben, der Name dessen, was sie sich im tiefsten Herzen ersehnte. Ja, das war gut, der Kosak atmete erleichtert auf. So würde er es machen, er würde sie fragen, was sie zutiefst ersehnte, und dann würde ihm schon ein passender Name dazu einfallen!
Mit einem tiefen Seufzer stand er auf und trat ans Fenster. Es wurde schon hell draußen, der lichte Tag hob sich vom dunklen Boden und strich golden über die Baumwipfel. Unten im Hof bewegte sich etwas. Dem Kosaken stockte der Atem. Die Zarentochter! Sie ging auf das Tor zu! Im Hof standen drei alte Männer und zwei alte Frauen, die dem Mädchen regungslos nachsahen. Sie will hinausgehen! Sie will meinen Versuch nicht abwarten!
Mit diesen Gedanken war er schon auf der Treppe, stürzte hinunter, immer vier Stufen auf einmal, fiel mehr, als er lief, hinunter, stolperte in den Schlosshof, fiel zu Boden, sah sie, die Hand an der Pforte, und schrie: „Nein! Geht nicht hinaus! Bleibt im Schloss!“
Doch sie ließ sich nicht beirren. Schon war das Tor offen, ihr Fuß in der Öffnung. „Nein! Geht nicht! Liebste!“ Beim letzten Wort stand sie schon draußen.
Zuerst geschah gar nicht.
Dann zuckte ein greller, blendender Blitz auf, zugleich mit einem gewaltigen Sturmstoß, der dem Kosaken den Atem aus der Brust riss, und einem ohrenbetäubenden Donnerkrachen. Als der Kosak benommen den Kopf hob, lag er in einem blumenbepflanzten Schlosshof, alles war kostbar und gepflegt, Dutzende von edel livrierten Bediensteten gingen ihren Arbeiten nach. Am Tor standen mit dem Ausdruck eines alles übersteigenden Verwunderns drei junge Männer und zwei junge Frauen in den Livreen des Schlosses, und vor dem Tor stand sie!
Jung und schön wie zuvor, aber angetan mit kostbarstem Gewand aus Seide, Samt, Gold und Perlen stand sie da und sah ihn ungläubig an.
Dann noch ein Donner, aber ohne Blitz und Sturm. Ein klappriges Häuschen scharrte auf Hühnerbeinen vor dem Wald, der jetzt etwas weiter vom Schloss entfernt war als gerade noch zuvor. Heraus sah eine alte Frau und kreischte: „Liebste hat er zu sagen gewagt! Das ist der einzige Name, der alle Verwünschungen aufhebt und jeden Bann löst! Es ist nun alles, wie es zuvor war, nur die Zarentochter und ihre fünf Diener wissen, was geschehen ist. Aber seht euch alle vor, dass mir keiner von euch mehr unter die Augen kommt. Ein zweites Mal entkommt ihr mir nicht!“ Sie knallte das Fenster zu, und die Hühnerbeine trugen die Hütte schwankenden Schritts in den Wald.
Der noch immer auf dem Boden liegende Kosak rappelte sich ein bisschen mühsam auf und ging unsicher auf die Zarentochter zu, deren Gesichtsausdruck von langsamem Begreifen zu unendlicher Glückseligkeit wechselte. „Es ist dir gelungen!“ Glücklich lief sie ihm entgegen. „Oh, und Liebste ist der wundervollste Name auf der ganzen Welt! Nenne mich nur ja niemals anders!“ flüsterte sie in sein Lederwams hinein, nachdem sie ihn mit ihrer Umarmung fast wieder umgeworfen hätte.
Dann kam noch einmal Bewegung in den Wald. Unzählige junge Männer traten heraus, schwangen grüßend ihre Hüte und kehrten dann dem Schlosse mit schnell fortstrebenden Schritten den Rücken.
Im Schloss aber wurde ein prunkvolles Hochzeitsfest gefeiert, und der Kosak und seine Liebste waren miteinander glücklich bis an ihr Lebensende.
Texte: Alle Rechte bei Elisabeth Schwaha (Foto + Text)
Tag der Veröffentlichung: 18.07.2011
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