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„Whisky!“ bellte eine zornige raue Stimme durch den morgendämmrigen Wald, der sich eben erst leise knackend reckte und streckte und über sein schwarzes Nachtkleid den grüngoldenen Morgenmantel zog.
Die kreischende Stimme kannte kein Erbarmen, das ungeduldige „Whisky!“, das aus dem zahnlosen Mund wie „Whifky!“ klang, scheuchte alles Getier und Gewächs des Trollwaldes auf und wurde mit einer anschwellenden Woge von Zwitschern, Rauschen, Grunzen, Röhren, Plätschern und Rascheln beantwortet.
Wild wallte ein grau-schwarzer, vielfach geflickter Lodenumhang um eine kugelförmige Gestalt, die rücksichtslos einen Weg durch das Unterholz stampfte und dabei lauthals schrie.
In Midgards Wäldern trieb sich seit eh und je seltsames Volk herum, aber diese krächzende alte Hexe war einzigartig in Midgard. Natürlich gab es auch andere Hexen, Riesenweiber und dergleichen, doch Urschl Untam war keine von ihnen. Niemand wusste, woher sie gekommen war, eines Tages war sie da gewesen, hatte sämtliche Traditionen ignoriert, aus Ordnung Unordnung geschaffen und war nicht wieder loszuwerden. Immer wieder tauchte sie irgendwo auf und hinterließ ein Abbild ihrer Person: Chaos.
„Whisky!“ schrie sie nun zum drittenmal, und da wurde es im Wald mit einem Schlag still, so unheilvoll drohend grollte ihre Stimme.
Im selben Moment spürte sie winzige Krallen auf ihrer rechten Schulter, etwas Warmes, Weiches an ihrer Wange und vier scharfe Nagezähne im rechten Ohrläppchen. Gleich darauf stießen sich die Krallenfüßchen ab, und von einem Zweig gerade außerhalb ihrer Reichweite schimpfte ein aufgebrachtes Eichhörnchen zu ihr hinunter: „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mich nicht Whisky nennen sollst! Ich heiße Ratatwisker, du schäbige Vogelscheuche, und jeder Frischling im Wald kennt meinen Namen, wieso geht er nicht in dein vertrocknetes Hirn hinein, Urschl Untam?“
Es hatte eine junge Stimme, etwa wie ein Knabe im Stimmbruch, obwohl es an Jahren weit älter war als die Hexe, was diese wohl wusste - ohne sonderlich davon beeindruckt zu sein.
„Hab dich nicht so, du kleines Scheusal!“ brüllte sie zurück. „Whisky ist ein hübscher Name, er erinnert mich an fröhliche Nächte im Schauerwald, sei froh, dass ich dich nicht schon längst in eine Kröte verwandelt habe! Lach nur, einmal tue ich es bestimmt!“
„Was schreist du so herum in aller Morgenfrühe? Du schläfst doch sonst immer bis in den hellen Tag hinein!“
Urschl Untam schnaufte und ließ sich krachend ins Gehölz plumpsen. „Ich wollte nur wissen, was es Neues in Asgard gibt“, meinte sie dann ungewohnt zögerlich, während sie ein paar sich spießende Ästchen unter ihrem prallen Gesäß hervorzog.
„Von Asgard? Was interessiert dich Asgard?“ Das Eichhörnchen wirkte erstaunt. Asgard war der Sitz der Asen, der Götter von Midgard und den anderen acht Welten, aber Urschl Untam war eine Fremde, hatte andere Götter und sich noch nie auch nur im geringsten um die Asen gekümmert.
„Ich bin ja nicht blind!“ fauchte die Hexe nun den kleinen Nager an, „und ich sehe genau wie jeder andere die Veränderungen, die in Midgard vorgehen. Ich finde sie äußerst beunruhigend, und ich hätte gern gewusst, wie man in Asgard dazu steht!“
„Welche Veränderungen meinst du denn?“ fragte Ratatwisker ein wenig ausweichend.
„Verkauf mich nicht für dumm, Nagezahn! Du musst es auch sehen, und da ich annehme, dass du die ganzen alten Geschichten und Weissagungen eurer Welten besser kennst als ich, musst auch du zu dem einzig möglichen Schluss gekommen sein, dass Ragnarök sich anbahnt!“
Ragnarök!
Der Wind verstummte, kein Blatt bewegte sich mehr, kein Vogel sang, kein noch so kleines Tier raschelte im Laub. Totenstille folgte diesem Wort.
Ragnarök.
Die Götterdämmerung.
Der Schrecken über Midgard, die düstere Voraussage seines Endes.
Ein Wort, das niemals ausgesprochen wurde und das doch alle kannten und fürchteten.
Nun, da es gesagt war, lag es als tödliche Bedrohung über dem Wald.
Das Eichhörnchen hockte still und unbeweglich auf seinem Ast und musterte die Alte aus schwarzen Knopfäuglein.
„Du gebrauchst starke Worte, Urschl“, meinte es nach einer Weile, in der die Alte schon fast bereut hatte, so direkt gewesen zu sein. Aber für sie, die Fremde in Midgard, hatte dieses Wort nicht dieselbe Bedeutung wie für die hier Geborenen und Aufgewachsenen.
Sie fasste sich daher schnell wieder und versuchte, was sie heraufbeschworen, mit dem Gepolter ihrer Stimme zu bannen. „Komm, Whisky, lass uns in meine Hütte gehen, dort können wir besser reden!“
Schweigend sprang Ratatwisker auf ihre Schulter, und im Gehen sprach Urschl weiter, während der Wald sich sehr, sehr langsam von seinem Bann befreite.
„Warum tun alle so, als ob alles in Ordnung wäre? Hört denn niemand außer mir abends Fenris, den Wolf, heulen, der das nahe Ende verkündet? Sieht niemand, dass Sonne und Mond weniger hell leuchten und der Wind viel rauer ist als sonst? Und ich könnte meinen einzigen Hut verwetten, dass die Blätter eurer Weltesche langsam gelb werden!“
Ratatwisker blinzelte ein wenig. „Und wenn es so wäre? Was wolltest du dagegen tun? Was die Seherin vorhergesagt hat, wird irgendwann eintreffen :
Beilalter, Schwertalter, Schilde krachen,
Windzeit, Wolfszeit, eh’ die Welt zerstürzt.
Wenn es so ist, wie du befürchtest, dann sind die Schicksalsfäden längst geknüpft und verwoben. Warum wartest du nicht einfach ab wie alle anderen auch?“
„Ha! Jetzt hast du dich verraten! Es gibt also etwas, das abzuwarten ist! Ich hab's ja gewusst, du rotgeschwänzter Alleswisser, zumindest du musstest die Zeichen erkennen!“ rief Urschl triumphierend.
„Nichts habe ich verraten“, fauchte das Eichhörnchen, „weil ich nämlich überhaupt nichts weiß. Aber wenn du schon Worte wie Ragnarök in den Mund nimmst, dann sei dir wenigstens bewusst, dass du nichts dagegen tun kannst, wenn es soweit ist!“
Blitzschnell packte die Alte den Kleinen am Nackenfell und schüttelte ihn. „Es ist soweit, darauf kannst du deinen besten Winterpelz verwetten! - Au, verdammt, du kleiner Teufel!“ Ratatwisker hatte sie kräftig in den Daumenballen gebissen, und sie ließ ihn sofort los. „Na gut, wenn du dich blind und taub stellen willst, dann tu's! Und vergiss nicht wegzuschauen und dir nichts dabei zu denken, wenn euer Ober-Ase Odin sich allabendlich unter Walhalls Tische säuft! Die Geschicke Midgards sind ja bei ihm in den allerbesten Händen! Vergiss, wenn du kannst, dass durch das Gehirn eures allweisen Weltenlenkers inzwischen mehr Met als Blut fließt, und fühl dich so lang sicher und behütet, bis du gar keine Zeit mehr hast, dich vor etwas zu fürchten!“
Von einem Ast herab beobachtete Ratatwisker die kreischende und stampfende Alte. So wütend war selbst sie selten. Und wenn er ehrlich war, so kam ihm ihre Schlussfolgerung nicht wirklich überraschend, auch er hatte in letzter Zeit voll Besorgnis die Veränderungen beobachtet. Aber im Gegensatz zu Urschl war er nicht der Ansicht, dass sie so eindeutig waren.
„Und wenn ich geneigt bin, dir zumindest in einigen Punkten beizupflichten?“ fragte er in berechneter Sanftheit.
Urschl Untam stellte sofort ihr Toben ein. „Na also,“ knurrte sie befriedigt, „ich wusste ja, dass du trotz allem ein helles Köpfchen bist. Was sagst du also zu meiner Theorie?“
„Zu welcher Theorie? Bis jetzt habe ich nur krauses Zeug und wüste Beschimpfungen gehört!“
Mühsam holte Urschl Luft. „Zu meiner Theorie, dass Ragnarök vor der Tür steht und dass diese Tür sperrangelweit offen ist, du mit mehr Schwanz als Hirn ausgestatteter Asthüpfer!“
Ratatwisker kicherte. „Du hattest schon von jeher diese besondere Art von herbem Charme, der dich in ganz Midgard so beliebt gemacht hat! - Aber lassen wir das jetzt“, lenkte er ab, als er die Zeichen in Urschls Gesicht auf Gewittersturm stehen sah, „ein bisschen hast du ja recht. Ich glaube zwar nicht, dass man schon von Ragnarök sprechen könnte, aber es ist offensichtlich, dass sich die Dinge seit Balders Tod in allen Welten zum Schlechteren gewandelt haben, und ganz besonders trifft das auf Asgard zu. Mit Balder ist aller Glanz aus Asgard geschwunden, das Leben ist drückend und dunkel geworden, auch wenn alle so tun, als ob sie es nicht bemerkten. Es gibt keine strahlenden Heldentaten mehr, keinen Edelmut, und Walhall klingt nicht mehr wider vom Gesang und Gelächter siegreicher Helden. Sie streiten nicht mehr für Licht und Gerechtigkeit, sondern um den bequemsten Platz beim Gelage.“
„Na, siehst du!“ triumphierte Urschl. „Heißt es nicht schon in den uralten Liedern, dass Balders Tod der Anfang vom Ende ist?“
Der Ermordung Balders, des lichten Asen, durch Loki war tatsächlich ein Schicksalsschlag, dessen Folgen nicht abzusehen waren. Und es war geweissagt worden, dass nach Balders Tod die Welten untergehen würden um dann völlig erneut und unschuldig wieder zu erstehen – natürlich ohne alle ihre derzeitigen Bewohner. Und Loki, der dunkle Asenbruder, würde der Urheber Ragnaröks, des allgemeinen Unterganges, sein, so stand es auf uralten Tafeln geschrieben und so wurde es von Generation zu Generation überliefert.
Ratatwisker seufzte bedrückt. „Vielleicht hast du ja recht, und es kündigt sich wirklich das Ende an. Aber dann ist sowieso alles zu spät, das lässt sich nicht aufhalten.“
„Ratatwisker!“ Strafend dröhnte Urschls Stimme in seine schweifenden Gedanken, und das Eichhörnchen war einigermaßen erstaunt, da es von ihr so gut wie nie mit seinem vollen Namen angeredet wurde. „Du kannst doch nicht einfach die Augen verschließen vor etwas, das dir nicht passt! Außerdem, wer sagt, dass alles zu spät ist? Nichts ist endgültig, solange es nicht vorbei ist! Wir müssen etwas unternehmen, wir können doch nicht einfach hier herumsitzen und zuschauen, wie hier alles dem Untergang entgegengeht! Es geht immerhin um neun Welten!“
Es war richtig, was Urschl sagte, neun Welten und ihre Bewohner würden in Ragnarök untergehen: die Asen in Asgard, die Menschen in Midgard, die Lichtelfen in Alfheim, die Schwarzalben in Schwarzalbenheim, die Reifriesen und Nebelgeister in Niflheim, die Feuersöhne in Muspelheim, die Schatten in Helheim, die Zauberer in Vanaheim und die Riesen in Jötunheim.
„Und was in etwa stellst du dir vor? Es gibt keine Möglichkeit, Ragnarök aufzuhalten, wenn es einmal begonnen hat!“
„Vielleicht doch!“ rief Urschl hitzig. „Die Nornen am Urdbrunnen könnten uns helfen!“
„Du stures und unwissendes Geschöpf!“ Ratatwisker wurde ernsthaft zornig. „Du hast keine Ahnung von den Nornen! Man macht dort nicht einfach einen Nachmittagsbesuch! Um zu ihnen zu gelangen, müsstest du erst die Weißen Berge überwinden, und ich bezweifle sehr, ob dir das möglich ist! Und selbst danach ist es noch mehr als fraglich, ob du den Urdbrunnen finden würdest!“
„Warum sollte es mir nicht möglich sein? Du warst ja auch oft genug bei den Nornen!“
„Ich bin aber auch nie über die Weißen Berge geklettert. Ich benütze unterirdische Verbindungen, für die du viel zu groß und dick bist! Und ich habe die Nornen nie von selber aufgesucht, ich wurde von ihnen gerufen!“
„Und wenn schon - lass uns erst einmal bei den Weißen Bergen sein, dann werden wir schon weitersehen!“
„Du bist wirklich ziemlich halsstarrig und unbelehrbar! Dann geh halt los, aber auf mich brauchst du nicht zu zählen, ich muss mir jetzt meinen Wintervorrat an Nüssen anlegen.“
Urschl Untam lachte. „Gefräßiger Nagezahn! Warte, bis wir in meinem Haus sind, dann sollst du einmal sehen, was eine wahre Hexe zuwegebringt!“
Das „Haus“, das im Herzen des Trollwaldes stand, also in seinem verwachsensten, finstersten Winkel, der von jedem anständigen Sonnenstrahl gemieden wurde, sah von außen wie eine zufällig auf einen Haufen geworfene Ansammlung von morschen Brettern aus.
Die Hexe trat herabhängendes Moos- und Wurzelgeflecht zur Seite, bückte sich und kroch in das nun sichtbar gewordene Loch. Ratatwisker, der schon öfters hier zu Besuch gewesen war, huschte ohne Zögern hinterher.
Von innen sah es allerdings ganz anders aus, eben so, wie man sich ein richtig gemütliches Hexenhäuschen vorstellt: ein riesiger, uralter Herd, über dem ein dampfender Kessel hing und wohlig-nahrhafte Düfte verströmte, ein schwerer rußgebeizter Holztisch mit vier klobigen Hockern rundherum, eine auf Hochglanz abgesessene Bank um den Herd, eine bunte Flickendecke auf einem enormen Strohsackhügel, einige ziemlich überladene und unaufgeräumte Regale an den Wänden und rot-grün karierte Vorhänge an kleinen bunten Glasfenstern mit rotgestrichenen Rahmen. Die Decke war mit verschiedensten Lebkuchen äußerst kunstvoll verziert. „Manche bringen die Täfelung außen an“, pflegte Urschl ihren Besuchern verachtungsvoll zu erklären, „aber erstens finde ich das protzig, und zweitens mag ich es nicht, wenn mein Frühstück angeregnet wird.“
In einer der nicht ganz rechtwinkeligen Ecken lehnte ein unansehnlicher Besen. Er musste schon sehr alt sein, denn sein Stiel war reichlich abgegriffen und die meisten seiner Strohborsten waren abgebrochen, zersplissen oder zumindest geknickt.
Urschl Untam musterte ihn missbilligend. „Loddfafnir! Hör auf zu schlafen, wir haben Besuch!“
Der Besen knackte ein wenig, raschelte ein bisschen mit seinen Borsten, ließ sich aber ansonsten nicht aus der Ruhe bringen.
„Es ist ein Jammer!“ seufzte die Alte. „Früher sind die Besen strammgestanden, wenn die Meisterin gekommen ist!“
Aus Loddfafnirs Ecke war so etwas wie ein halbunterdrückter Schnaufer zu hören, das war aber auch schon seine ganze Reaktion.
„Na gut, Whisky, du willst also deine Verpflegung gesichert haben. Warte einen Augenblick!“ Urschls Hand irrte eine Weile durch die unzähligen Baumwollfalten, die sich um ihren rundlichen Körper bauschten, und ihr Gesicht umwölkte sich in beunruhigender Weise - doch dann entspannte sie sich auf einmal, grunzte befriedigt auf und durchlöcherte die Luft mit einem splittrigen Zauberstab, den sie aus den unergründlichen Tiefen ihres überaus farbenfrohen Flickenrocks gezogen hatte.
„Zwicke, zwacke, Schrumpelrunzel,
knicke, knacke, Nussölfunzel!“
fistelte sie ohne Vorwarnung und entfaltete ihre leistungsstarken Lungen zu voller Lautstärke, bis das erschrockene Eichhörnchen vom obersten Dachbalken herabzeterte: „Bist du wahnsinnig?! Weißt du nicht, wie empfindlich meine Ohren sind? Außerdem mag ich keine Zaubernüsse, ich will richtige Nüsse von einem ehrlichen Nussbaum!“ Ein verächtlicher Blick streifte den Nusshaufen, der unter dem Zauberstab aufwuchs. „Und deine Zaubersprüche werden auch immer kindischer! Ich will ja nicht von Dichtkunst reden, aber könntest du sie nicht wenigstens ein bisschen geheimnisvoller und düsterer machen, damit man als Zuhörer auch auf seine Kosten kommt? So was erwartet man von einer ordentlichen Hexe, auch hier in Midgard! ‚Zwicke, zwacke, Schrumpelrunzel!’ Das beeindruckt ja nicht einmal deinen Besen!“
„Jetzt hör mal zu, du kleines Ungeziefer!“ Urschls Stimme schwoll bedrohlich, „ich habe dir einen Haufen Nüsse besorgt! Wenn du sie nicht willst, dann lass die Pfoten davon, aber mit unangemessener Kritik an meinen Zaubersprüchen halt dich gefälligst zurück! Ich erkläre dir ja auch nicht, wie man auf Bäume klettert, und ich habe nicht den geringsten Wunsch, Fragen der Hexenkunst mit einem Eichhörnchen zu erörtern, hast du mich verstanden?“
Ratatwisker knirschte nur beleidigt mit den Nagezähnen, während Urschl ihre Tirade fortsetzte: „Wenn wirklich Ragnarök kommt, wird der nächste Winter der Fimbulwinter sein, und der dauert drei Jahre, soweit ich mich erinnere. So viele Nüsse könntest du dir selber gar nicht sammeln, dass du in dieser Zeit nicht jämmerlich verhungern müsstest! Also sei dankbar, dass ich mir so viel Mühe mit dir mache, und hilf mir, das Zeug einzupacken!“
Sie ging zu ihrem Bettgestell, schüttete den Inhalt des Strohsacks auf den Boden und schaufelte mit beiden Händen die Nüsse in den Sack, während ihn Ratatwisker, auf einer Sessellehne hockend, offen hielt. Zuletzt berührte sie den Sack mit dem Zauberstab, spuckte ihn dreimal an, und ehe Ratatwisker seinen empörten Protest anbringen konnte, war der ganze Sack auf die Größe einer einzigen Nuss geschrumpft und verschwand in einem von den bunten Beutelchen, die ringsum an Urschls Gürtel hingen.
„Wenn du Hunger hast, kriegst du etwas. Ich würde ja ausschauen wie ein Kinderschreck, wenn ich mit so einem klappernden Sack auf dem Rücken daherkäme!“
Ratatwisker musste insgeheim zugeben, dass der riesige Sack sehr unhandlich gewesen wäre, und da er auf die Nüsse nun doch nicht mehr verzichten wollte, enthielt er sich jeglicher abschätzigen Bemerkung über Urschls Erscheinung und den Missbrauch, der mit seinem Mundvorrat getrieben wurde.
Die Hexe klemmte sich den schwach protestierenden Besen unter den Arm, warf einen letzten prüfenden Blick durch den Raum und löschte mit einem Zungenschnalzer das Herdfeuer.
„Wenigstens hat sie nicht gesungen!“ murmelte der Besen, allerdings so leise, dass es keiner hörte, nicht einmal das spitzohrige Eichhörnchen.
Als sie die Hütte verlassen hatten, war wiederum nur der dahinmodernde Bretterhaufen zu sehen (ein Zauberstück, auf das Urschl ganz besonders stolz war), und nach ein paar gekrächzten Zaubersprüchen wurde auch dieser morsche Haufen noch unsichtbar.
„Man kann nie wissen!“ brummte sie, „Es treibt sich allerlei Gelichter in den Wäldern herum.“
„Nicht, wenn du weg bist, liebste Urschl!“ konnte sich Ratatwisker nicht verkneifen, aber Urschls Aufmerksamkeit galt schon ihrem dösigen Besen. „Loddfafnir! Jetzt ist nicht die Zeit zum Schlafen, wir brechen auf!“
„Schon wieder? Wir sind doch gerade erst zurückgekommen!“ Loddfafnir erinnerte sich schaudernd an den letzten Ausflug zur Midgardschlange. „Wohin soll's denn gehen, große Meisterin?“
„Zum Urdbrunnen!“
Bevor der unwillige Besen noch etwas dagegen sagen konnte, hatte ihn die Hexe schon mit beiden Händen geschnappt und sich rittlings auf seinen Stiel gesetzt. „Na, was ist, Whisky, kommst du jetzt mit oder nicht?!“
Das Eichhörnchen zögerte kurz, doch dann hüpfte es leise seufzend in elegantem Schwung auf ihre Schulter, und der Besen flog endlich schwankend los, noch immer im ungewissen, ob er sich mit dieser Reise nicht etwas übernahm.
Ratatwisker, der sich auch ein wenig von Urschl Untam überrumpelt fühlte, wollte ihn aufmuntern und meinte freundlich: „Allein würde ich für diese Strecke eine ganzen Mondwechsel brauchen, aber du schaffst es sicher in der halben Zeit.“
„In der halben Zeit!“ Jetzt war der Besen erst recht eingeschnappt. „Was bildest du hüpfender Nussknacker dir eigentlich ein? Willst du deine possierlichen Pfötchen etwa mit der Flugkraft eines Hexenbesens vergleichen? Morgen sind wir dort, und da fliege ich noch gemütlich!“
Das war Loddfafnirs letztes Wort in dieser Angelegenheit, und auch Ratatwisker hüllte sich in Schweigen, da ihm die große Höhe und der starke Flugwind mehr zusetzten, als er zugeben wollte.
Texte: © Alle Rechte von Cover und Text bei Elisabeth Schwaha
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2011
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