Urschl Untam war eine Hexe, lebte im Schauerwald im Land Lilaia in der Welt Lilajionaion und trieb für ihr Leben gern Schabernack mit allen, die das Pech hatten, ihr zu begegnen. Sie war meistens grantig und neigte zu wilden Wutausbrüchen.
Es war die Zeit der Raunächte, der dunkelsten und längsten Nächte des ganzen Jahres. Urschl Untam stapfte unter tief und schwer hängenden Zweigen durch den Schnee und freute sich über das Knacken und Knirschen unter ihren Stiefeln, über das leise Knistern in den Bäumen und über den weißen Atemhauch vor ihrem Mund.
Plötzlich sah sie einen Lichtschein und ging darauf zu. Auf einer dicken Wurzel kauerte ein ihr unbekanntes kleines Wesen mit goldenem Haar, flauschigen Flügelchen und weiß schimmerndem Kleidchen. „Was bist denn du“, fragte Urschl erstaunt, „eine Elfe oder ein kleines Gespenst?“
„Ich bin ein Engel!“ rief die Kleine mit einiger Empörung und fügte dann kleinlauter hinzu: „Ich glaube, ich habe mich irgendwie verirrt. Weißt du vielleicht, wie ich nach Bethlehem zurück komme?“
„Bethlehem? Keine Ahnung!“ brummte Urschl Untam. „Wie bist du denn her gekommen?“
„Das weiß ich ja auch nicht!“ jammerte das Engelchen. „Ich sollte mit den anderen auf das Christkind aufpassen und habe ihm auch aufmerksam beim Schlafen zugesehen. Dabei bin ich wohl selber eingeschlafen und hier aufgewacht. Was soll ich denn jetzt tun?“
Urschl dachte nach. „Wenn du hierher gekommen bist, muss es auch einen Weg zurück geben! Ich kann versuchen, ihn zu finden.“ Sie zog ihren Zauberstab heraus, schwang ihn in großen Bögen über dem kleinen Engel und begann mit krächzender Stimme so laut zu singen, dass das Englein erschrocken zusammen zuckte.
„Schauerwald und Abendstern,
Engelskind mit kalten Zeh'n,
hier ist nah und dort ist fern,
zeig dich, Weg nach Bethlehem!“
Da sprühte der Zauberstab goldenen Sternenstaub, der die Hexe und das erschrockene Engelchen wie eine schimmernde Kugel umschloss. Sie sahen nicht mehr, wo sie sich befanden, alles drehte sich und flimmerte. Urschl verlor den Halt unter ihren Füßen. Als dann das Drehen und Flimmern mit einem Schlag endete, plumpste sie heftig in einen großen Heuhaufen und sah direkt in die feuchten Nasenlöcher eines wiederkäuenden, sabbernden Ochsen. Daneben stand ein Esel und fuhr ihr mit seinem weichen Maul ins Gesicht. Es roch ziemlich unangenehm nach Stall.
Eine trübe Laterne warf ihr schwaches Licht auf zwei Schläfer unter einem Strohhaufen, einen bärtigen Mann, der leise schnarchte, und eine junge Frau, die ihren Kopf auf ein blaues Tuch gebettet hatte. Über der Futterkrippe schwebten viele große und kleine Engel, die ihr verirrtes Schwesterchen erleichtert begrüßten.
In der Futterkrippe bewegte sich etwas. Urschl rappelte sich mühsam aus ihrem Heuhaufen, schob den Esel beiseite und schaute hinein. Da lag ja ein Kind! Ein winzig kleiner Säugling, höchstens ein paar Tage alt, zappelte und strampelte und setzte mit kleinen Keuchern zum Schreien an. Urschl war besorgt. Wenn die Eltern aufwachten, würden sie vermutlich keine Hexe bei ihrem Kindlein sehen wollen! Das hatte man davon, wenn man fremden Leuten half, statt sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
Schnell nahm sie das strampelnde Bündel mitsamt einem Arm voll Heu und drückte es sanft an ihre üppige Brust. Sofort bewegte sich das kleine Köpfchen mit offenem Mund suchend hin und her. „Ksch, ksch, kleiner Racker! Schön brav sein, eiapoppeia, ruckediguh!“ Urschl wiegte es hin und her, aber es war schon krebsrot im Gesicht und ganz knapp vor dem Losbrüllen, weil es nicht fand, was es suchte.
Die Alte wischte sich einen Finger an ihrem Kittel ab, murmelte etwas von Zucker, Milch und Mohn und hielt dann dem Kind den Finger an die Lippen. „He, saug mir nicht den Nagel vom Finger!“ flüsterte sie erschrocken, sie hatte nicht gewusst, wie kräftig ein Neugeborenes saugen konnte.
Das Kind saugte herzhaft, schien aber nicht recht zufrieden mit dem Ergebnis, denn es öffnete die Augen und sah der Alten mit dem unbestimmten Blick des Neugeborenen ins Gesicht. Große dunkelgraue Augen sahen sie an. „Du bist aber ein süßer Racker!“ flüsterte Urschl Untam, entzückt kichernd, und sie fand selten etwas süß oder entzückend.
Aber der süße Racker wollte schon wieder schreien. Die Hexe legte ihn an ihre Schulter, klopfte ihm leicht auf den Po und summte ihre Version eines Wiegenliedes:
„Eiderdaun und Honigmilch,
schlafe süß, du kleiner Knilch!
Träum von Urschl, Mami, Papi,
süßem Milchi-Happi-Happi!“
„Ack!“ machte das Baby, hinterließ einen säuerlich riechenden feuchten Fleck auf Urschls Schulter und schlummerte ein.
Ganz vorsichtig legte Urschl das Kind wieder in die Krippe, wickelte es in seine Windeln und deckte noch einen wärmenden Heuhaufen über das winzige Körperchen, fein säuberlich, damit das Gesicht frei blieb. Am Schluss fuhr sie dem Kleinen noch zärtlich mit einem rauen Finger über das seidenweiche Bäckchen. Das Kind zuckte mit dem Mundwinkel, als ob es im Schlaf lächelte.
Einer der großen Engel flog zu Urschl hernieder und sagte freundlich: „Du hast dem Kinde ein großes Geschenk gemacht!“ Urschl Untam sah ihn misstrauisch an. „Was für ein Geschenk? Ich habe nichts, ich gebe nichts und ich will jetzt schnellstens nach Hause!“
Der Engel lächelte. „Viele sind gekommen, um dem Kind Geschenke zu bringen, vom Schafkäse bis zu Gold und Weihrauch. Aber keiner hat es auf den Arm genommen und ihm geholfen, sein Bäuerchen zu machen! Du hast ihm wirklich das kostbarste Geschenk von allen gemacht!“
„Toll! Fein! Darf ich jetzt gehen?“ Urschl fühlte sich nicht besonders wohl unter diesen großen, ernsten Engeln. Das Lächeln des Engels vertiefte sich. „Dieses Kind ist der Sohn Gottes, der König der Könige, es gibt keinen Größeren auf Erden als ihn, aber er hat sich von dir helfen lassen! Dafür soll von nun an in deiner Welt Weihnachten genauso gefeiert werden wie in der wirklichen Welt. Dieses Kind ist gekommen, die Menschen zu erlösen und damit auch ihre Träume, Gedanken, Fantasien, also Lilaijonaion, das Reich der Fantasie und Märchen. Wenn die Träume der Menschen rein und erlöst sind, dann sind es auch die Menschen selbst!“
Urschl Untam verstand nicht recht, was der Engel meinte, sagte aber: „Danke, das ist sehr schön. Und jetzt möchte ich mich wirklich verabschieden!“ Das war für Urschls Verhältnisse eine unüberbietbare und noch nie da gewesene Meisterleistung an Höflichkeit.
Das Engelchen, dem Urschl zurück geholfen hatte, kam eifrig herbei geflattert. „Und jetzt helfe ich dir!“ flüsterte es, pflückte ein winziges Glitzersternchen aus seinem Kleid und steckte es auf die Spitze von Urschls Zauberstab. „Damit wird dir kein guter Zauber mehr misslingen, und du wirst gut nach Hause kommen!“
Urschl blinzelte ein bisschen verlegen, schwang ihren Stab und befand sich auch schon wieder in ihrer alten Hütte im Schauerwald. Ob sie das alles nur geträumt hatte? Nein, da war dieser säuerliche Milchfleck auf ihrem Umhang. Misslaunig wusch sie ihn aus, schüttete das Wasser vor die Haustür und ging schlafen.
Als sie am nächsten Morgen vor ihre Tür trat, waren alle Bäume, die etwas von dem Wasser abbekommen hatten, dicht geschmückt mit bunten Glaskugeln, goldenen Nüssen, roten Schleifen und warm leuchtenden Kerzen. Von der Spitze des höchsten Baumes aber lachte, eingerahmt von einem goldenen Stern, das Bild des kleinen Engels. Es war Weihnachten im Schauerwald.
Texte: Alle Rechte bei Elisabeth Schwaha
Tag der Veröffentlichung: 17.01.2011
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