Blau und golden leuchtete der Palast des Kalifen, grau und schmutzig waren die Gassen Bagdads, auf denen Siddiq, der Straßenjunge, sein Leben verbrachte. Gold, Seide und Fasanenbrüstchen hier, Staub, Lumpen und Hunger da.
Siddiq war noch keine zehn Jahre alt, aber die Ungerechtigkeit des Lebens kannte er genauso gut wie die Alten, die auf der Straße leben mussten, weil sie in ihrer Hilfsbedürftigkeit eine untragbare Belastung für ihre ausgemergelten Familien geworden waren. Das Elend war so groß wie die Ausschweifungen der Reichen, und die Wut Siddiqs so groß wie die Allmacht des Kalifen, der ein sehr unwürdiger Nachfolger des Propheten war.
Was immer Siddiq erbettelte, fand oder stahl, teilte er redlich mit seiner Freundin Sitareh, die gleich ihm auf der Straße leben musste. Ihre Eltern hatten die Achtjährige an einen Mädchenhändler verkauft, doch dem verängstigten Kind war die Flucht gelungen, und Siddiq war nun ihr großer Held, weil er sie versteckte und beschützte. So hart Siddiq geworden war, so liebevoll war er zu der kleinen Sitareh.
Eines Tages geschah es, dass ein Trupp Palastwächter rücksichtslos durch die Gassen sprengte und ein verwirrter, alter Mann, der verzweifelt sein Zuhause suchte, unter die Hufe kam und zu Tode getrampelt wurde. Die Palastwächter hielten nicht einmal an, und die Bettler trugen schweigend den Leichnam weg, um ihn irgendwo vor der Stadt zu verscharren. Siddiq stand dabei, das Gesicht grau vor Mitleid, Entsetzen und Hass, er war nicht fähig mitzuhelfen, aber aus seinem Herzen stieg ein gewaltiger, hasserfüllter, dunkelschwarzer Fluch, flog hinter den Reitern her dem Palast entgegen und sickerte durch die goldenen Dachschindeln hindurch in die prächtigen Gemächer des Kalifen.
„Wenn du mir zehn Jahre lang bedingungslos dienen willst, dann werde ich dir alle Macht der Erde geben, sodass du dann jeden vernichten kannst, der dich je beleidigt hat“, hörte er auf einmal eine leise, glatte Stimme hinter sich sagen. Er fuhr herum und sah einen Zauberer vor sich, schwarzer Kaftan, hoher schwarzer Turban, alles mit violetten Geheimzeichen bedeckt und funkelnd von schwarzen Diamanten.
„Wer bist du?“ fragte Siddiq.
Der Fremde lachte trocken, ohne auch nur eine Spur von Belustigung. „Mein Name ist Arif, und ich habe die Macht, dir alle deine Wünsche zu erfüllen, aber ich verlange dafür, dass du mir zehn Jahre lang dienst!“
„Ich kann dann den Kalifen stürzen und im ganzen Land Gerechtigkeit verbreiten?“
„Das kannst du, wenn es dein Wille ist!“
Siddiq zögerte noch. Der dunkle Zauberer war ihm unheimlich, und zehn Jahre waren eine lange Zeit. Und dann war da noch Sitareh, die alleingelassen auf der Straße bald zugrunde gehen würde. „Kann ich in diesen zehn Jahren weiter für meine Freundin sorgen?“ wollte er wissen, doch der Zauberer schnaubte nur verächtlich durch die Nase. „Du wirst keine Zeit haben, dich mit diesem unwichtigen Ding abzugeben, aber ich kann sie unter einen Schutzzauber stellen, bis du wieder frei bist.“
Der Junge starrte auf die Straße, wo noch das Blut des alten Mannes zwischen den Steinen gerann und brummende Fliegenschwärme anzog. Der Hass schnürte ihm das Herz ab. „Ja, ich will dir dienen und dann diese Höllenbrut vernichten!“ rief er leidenschaftlich. „Ich will mich nur noch von Sitareh verabschieden, damit sie sich nicht um mich sorgt.“
Der Zauberer machte zwar ein ungeduldiges Gesicht, ließ es aber zu, und so eilte Siddiq zu dem Bretterhaufen, hinter dem er und Sitareh die Nächte verbrachten. Arif schritt gemessen hinter ihm drein, den schwarzen Kaftan immer so weit über dem Boden gebauscht, dass er mit dem Straßenschmutz nicht in Berührung kam.
Sitareh fiel ihrem Beschützer erleichtert um den Hals, hatte sie doch schon von dem Aufruhr mit den Palastwächtern gehört. Aber als sie den schwarzen Zauberer sah, erschrak sie. „Wer ist das?“ flüsterte sie ängstlich. „Schick ihn fort, das ist ein böser Mann!“ Doch Siddiq erklärte ihr, dass er nur hier sei, um Abschied zu nehmen, und dass Arif sie schützen würde, bis er zurück käme.
„Nein!“ rief Sitareh, „Dieser Mann soll nichts mit mir zu tun haben, und mit dir auch nicht!“ Sie begann zu weinen, als sie erkannte, dass Siddiq sich nicht umstimmen ließ. Sie nahm seine Hand ganz fest in ihre Hände und wisperte unter Schluchzern: „Lässt du dein Herz bei mir, bis du wieder kommst? Wird dein Herz all diese Zeit bei mir sein? Versprichst du mir das?“
Siddiq nickte. „Ich verspreche dir bei allem, was heilig ist, dass mein Herz für immer dir gehört, und ich komme zu dir zurück, was auch geschehen mag!“
„Nun ist es genug!“ unterbrach der Zauberer den Abschied, und seine Stimme duldete keinen Widerspruch. „Die Kleine soll diesen Stein tragen, er wird ihr Schutz sein.“ Er warf dem Mädchen einen dunkelviolett glimmenden Stein an einer silbernen Kette zu. Sitareh fing ihn auf und sah ihn voll Abscheu an. Doch dann trat sie noch einmal ganz dicht zu Siddiq heran und hielt den Stein an sein Herz. „Sag, dass es deine Liebe ist, die mich beschützt, und nicht ein böser Zauber!“ bat sie ihn leise.
Siddiq drückte ihre Hände mitsamt dem violetten Stein fest und warm an seine Brust. „Meine ganze Liebe und Freundschaft soll in diesen Stein übergehen und dich behüten, bis wir uns wiedersehen!“ Da lächelte Sitareh zufrieden und legte sich die Kette um. Der Zauberer nahm Siddiq hart am Arm und zog ihn von dem Mädchen weg. „Genug! Ab jetzt bist du mein Diener und wirst für jeden Ungehorsam hart bestraft!“ Er murmelte noch einige fremd klingende Worte, und dann fand sich Siddiq von einem Augenblick auf den anderen in einer unwirtlichen, steinigen Hochgebirgslandschaft, wo nur ganz spärlich verkrüppeltes Grün aus Felsen und Geröll herauswuchs.
Von nun an war er der verlängerte Arm des Zauberers, und der Zauberer war zutiefst böse, wie Sitareh sofort gespürt hatte. Er schürte den Hass, der den Jungen erfüllte, immer mehr, bis dieser nicht mehr nur die Ungerechten hasste, sondern alles und jeden. Mit jeder bösen Tat, die er für den Zauberer ausführte, wurde das Gute in ihm weniger. Er ließ die Felder der Bauern verdorren, verhexte ihr Vieh mit Krankheiten, führte einsame Wanderer in die Irre und ins Verderben, verwandelte Menschen in Steine und fand allmählich Gefallen an diesen Dingen. Er spürte eine wachsende Macht über alles in sich und genoss sie.
Nach zehn Jahren war Siddiq ein getreues Abbild Arifs, in ihm war es nur noch dunkel und böse. Am letzten Tag seines Dienstes entließ ihn der Zauberer mit den Worten: „Du hast mir gut gedient und dafür großes Wissen erlangt. Geh jetzt zurück in die Welt und verbreite die Macht der Dunkelheit, damit wir eines Tages die Beherrscher der gesamten Erde werden!“
Siddiq nickte finster, machte eine Handbewegung und befand sich im selben Augenblick in Bagdad, genau vor dem blaugoldenen Palast. „Heute noch nicht!“ dachte er, „Ich will meine Rache auskosten, aber einen kleinen Anfang werde ich machen.“ Er stieß seinen Atem gegen den Palast aus, und ein gewaltiger Sturm erfasste die Mauern, sodass jede einzelne Fensterscheibe zerklirrte.
Gerade als Siddiq sich an der Aufregung erfreuen wollte, die hinter den Fensterlöchern lostobte, erschien vor ihm eine blendend weiße Gestalt, ein leuchtender Krieger mit Waffen aus Gold, in denen sich die Sonne spiegelte, und einem Schild aus reinem Diamant.
„Siddiq, was tust du?“ fragte er sanft, und seine Stimme war rein und tief wie eine kostbare Glocke und genauso weithin hallend.
Siddiq empfand ein seltsames Unbehagen, hörte aber zugleich in sich die Stimmer Arifs: „Das ist der Feind, ihn musst du bekämpfen. Wenn er gefallen ist, gehört uns alles!“ Schon hielt der junge Mann ein schwarz funkelndes Schwert in der Hand und drang damit in blinder Wut auf den lichten Krieger ein, doch der lächelte und war mit einem Male verschwunden. Siddiq fuchtelte noch einige Male mit seinem Schwert durch die Luft, aber da kein Feind mehr da war, fühlte er sich bald lächerlich und schob die Waffe in seinen Gürtel.
Wen sollte er nun zuerst vernichten, den Kalifen und seinen ganzen Hof oder diesen neuen Feind? Besser den Kalifen, dachte er, darauf hatte er schon so lange gewartet, und danach konnte er sich mit ganzer Kraft dem Unbekannten widmen.
Er übernachtete in einer öffentlichen Herberge, wo ihm die Menschen scheu aus dem Weg gingen und den Blick vor ihm senkten. Hochmütig sah er über sie hinweg, Kriecher, die seiner Aufmerksamkeit nicht wert waren.
Am nächsten Tag stand er wieder vor dem Palast. Der Wind wehte in seinem dunklen Kaftan und bauschte seine weiten Seidenärmel. Mit mächtiger Gebärde hob er beide Arme, streckte die Handflächen gegen den Palast und begann aus der Tiefe seines hasserfüllten Herzens Flüche auszustoßen. Da fasste ihn eine sanfte Hand am Arm und bog ihn mit Leichtigkeit herunter. „Siddiq! Bist du das, der hier so wütet? Wer bist du, Siddiq? Wer bist du?“
„Ich bin Siddiq, der Rächer, der Vernichter, der Arm der Finsternis, und ich werde dich genauso vernichten wie den Kalifen und seine Meute!“ Er zog sein schwarzes Schwert und hieb auf den leuchtenden Krieger ein, der vor ihm stand. Der wich jedem Hieb mit einer Leichtigkeit aus, als ob er schwebte.
„Bist du nicht Siddiq, der Straßenjunge, der Mitleid mit einem alten Mann hatte?“
Siddiq hieb mit aller Gewalt gegen den Kopf des Unbekannten, traf aber wieder nicht.
„Bist du nicht Siddiq, der Beschützer der kleinen Sitareh?“
Wie ein Feuer durchfuhr Siddiq dieser Name, und blind vor Zorn rammte er das Schwert gegen den Bauch des weißgekleideten Kriegers. Doch das Schwert fand seinen Weg nicht und glitt irgendwie an dem Fremden vorbei. Siddiq brach der Schweiß aus.
„Wer bist du, Siddiq?“ Die Stimme war wie eine kühlende Hand auf heißer Stirn. Mit einem Mal brach Siddiq zusammen und kauerte nun auf dem Boden, das Schwert klirrte fallengelassen neben ihn hin. Ja, wer war er? Wer war er wirklich? Er war doch nur das Werkzeug eines bösen Zauberers! Und dieser helle Krieger hier war alles, was er selber in seinen frühen Träumen gern gewesen wäre. Scham erfasste ihn. Dennoch sah er auf zu dem Fremden, sah in ein sanftes Gesicht mit goldbraunen Augen, die ihn mitfühlend ansahen. „Komm zurück, Siddiq! Es ist nur ein Schritt! Gib mir deine Hand!“
Der Fremde hielt ihm die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen. Doch Siddiq brachte es nicht über sich, sie zu ergreifen. Überhastet sprang er auf und lief stolpernd davon, immer weiter und weiter, ohne darauf zu achten, wohin. Als er völlig außer Atem war, hielt er inne. Der Blick des Fremden brannte in seiner Seele, brannte Löcher in seinen Hass. Ihm wurde bewusst, welch schreckliche Dinge er im Dienste des Zauberers getan hatte, und siedende Reue und Scham überkamen ihn.
Verstört blickte er um sich und erkannte die kleine Gasse, in der er einst gewohnt hatte. Wie von selbst hatten seine Füße den Weg hierher gefunden, hier war der alte Mann gestorben, und dort hatte er von Sitareh Abschied genommen. Wo sie wohl sein mochte? Ob es ihr gut ging? Lange hatte er nicht mehr an sie gedacht trotz seinem Versprechen damals.
Auf einmal stand wieder der strahlende Krieger vor ihm. „Siddiq! Bist du nun heim gekommen? Sieh mich an, erkennst du mich?“
Lächelnd nahm der Fremde seinen weißen Turban ab, und lange, dunkle Locken fielen über seine Schultern. „Sitareh!“ stammelte Siddiq und wünschte sich weit, weit fort von hier, weg von diesen wissenden Augen, diesem verstehenden Lächeln.
„Ich bin nicht nur Sitareh, ich bin auch du! Erinnerst du dich an den Stein, den mir der Zauberer gab? Ich habe dein Herz darinnen bewahrt, du selbst hast es mir damals anvertraut, weißt du noch? Und alle deine guten Eigenschaften sind darinnen aufgefangen, jedes bisschen Mitleid, das du mit jenen hattest, die du verfolgtest, jede Regung von Erbarmen und Freundlichkeit, die dir abhanden gekommen ist, ist hier aufbewahrt und der Zauberer hatte keine Macht darüber! Mit der Kraft dieser vielen Liebe, die in dir war, habe ich alles Böse, das du getan hast, wieder gut gemacht, die Felder neu erblühen lassen, das Vieh gesund gemacht, die Verzauberten erlöst. Dieser leuchtende Krieger, den du in mir siehst, das bist in Wirklichkeit du selber! Nimm diesen Stein an dich, er enthält dein wahres Herz.“
Sie hielt ihm den Stein hin, der nun nicht mehr düster violett aussah wie damals, sondern ein reiner, leuchtender Diamant war. Scheu streckte Siddiq die Hand danach aus. In dem Moment, als seine Finger den Stein umschlossen, fühlte er einen heftigen Schmerz in der Brust. Und dann war er auf einmal so leicht und frei wie nicht einmal in seinen Kindertagen.
„Ach, Sitareh, du Liebe, Gute!“ flüsterte er überwältigt. Verlegen streckte er seine Hand nach ihr aus, da fiel sie ihm auch schon um den Hals. Glücklich und schluchzend hielten sie einander umschlungen, und über beiden leuchtete ein helles Licht. Sitareh sah nun nicht mehr wie ein Krieger aus, sondern wie eine strahlende, liebliche Braut, und Siddiq war nun umgeben von der hellen Aura des Lichtkriegers, die Sitareh für ihn bewahrt hatte.
Unter der Führung Siddiqs erhob sich das Volk gegen den unwürdigen Kalifen und wählte einstimmig einen sehr frommen und weisen Mann zum neuen Kalifen. Siddiq wurde sein Großwesir, und beiden gelang es in kurzer Zeit, im ganzen Land Gerechtigkeit walten zu lassen. Alle hatten genug zu essen, die Kinder gingen in Schulen und die Alten durften ihr Leben friedlich im Kreis ihrer Familie beschließen.
All dies geschah und geschieht in jenem Bagdad, das wir in unseren Herzen tragen.
Texte: Alle Rechte bei Elisabeth Schwaha
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Beitrag zum Schreibwettbewerb "Märchen aus 1001 Nacht"