„Mein Kind!“ - „Vater!“ schön sein, damit mich meine Eltern ein bisschen lieb haben und nicht so enttäuscht von mir sind!“ -“Die alten Narren! Wenn du mich fragst, so sind die beiden Verbrecher, denen man Schweinsrüssel ins Gesicht hexen sollte!“ - „Bitte, Urschl, kannst du mich nicht schön machen?“ - „Na gut, du armes Ding, aber ich fürchte, es wird dir mehr schaden als nützen!“ Ein Zauberstab schwirrte durch die Luft, die Alte sang schauderhafte Reime und bohrte dann die Spitze des Zauberstabs in den Bauch des Mädchens. „So, Kleine, du wirst jetzt jeden Tag ein kleines bisschen schöner, gerade soviel, dass keiner merkt, dass da ein Zauber dahintersteckt.“
Esmeralda fühlte Unheil auf sich zukommen, während sie die tränenreiche Wiedersehensfreude zwischen Vater und Tochter beobachtete. Überdeutlich las sie das drohende Unheil aus dem Gesicht des jungen Mannes, der Schneewittchen heimgebracht hatte.
Die alte Bitterkeit stieg wieder in ihr auf, als sie die überschwängliche Freude des Königs sah und die Begeisterungsrufe des gesamten Hofes hörte. Was war an diesem Schneewittchen, dass alle sie so liebten? Sie selbst fand Schneewittchen als Person völlig bedeutungslos. Bedeutung gewann die kleine Prinzessin erst durch die närrische Liebe ihres Vaters.
Doch diese Liebe sollte ihr, Esmeralda, seiner Gattin, gehören und nicht diesem verwöhnten Abbild seiner ersten Gemahlin!
Ihr eigener Vater hätte niemals soviel Aufhebens um seine Tochter gemacht! Sie starrte auf ihre blankpolierten Fingernägel, auf denen sich düstere Bilder zu bewegen begannen.
Ängstlich und trotzig stand ein kleines Mädchen vor seinen Eltern. "Wo warst du die ganze Zeit, du undankbares Geschöpf? Es wird Zeit, dass du lernst, was deine Pflichten sind!“ Diesen unerbittlichen Worten des Vaters folgten drei Wochen im Kerker bei Wasser, Brot und Ratten.
„Wenn du doch nur nicht so hässlich wärst!“ Die Mutter schob das Kind, das bei ihr Trost suchen wollte, von sich weg. „Ich wollte ja nie ein Kind bekommen, aber der König wollte natürlich einen Erben! Warum bist du nur gar so unansehnlich? Kannst du denn nicht ein bisschen mehr aus dir machen? Lockenwickler, Schminke, andere Kleider?“
Das eigene Gesicht, blass und verzweifelt. Mitleidige oder spöttische Kammerfrauen.
Urschl Untam, die Hexe aus dem Schauerwald. „Aber Kindchen, du bist doch wirklich recht hübsch! Warte nur, bis du älter bist, die Prinzen werden sich um dich raufen!“ - „Ich will jetzt
Esmeralda vergrub die Fingernägel in den Fäusten. Die Alte hatte recht gehabt. Sie war immer schöner geworden, aber die Liebe der Eltern hatte sie damit nicht gewonnen. Sie war an den meistversprechenden Freier abgegeben worden, und das war dieser verwitwete König mit seiner verhätschelten halbwüchsigen Tochter gewesen. Wenn diese Tochter nicht gewesen wäre, hätte es sogar gutgehen können, aber dieses Schneewittchen, das nur die Augen aufzuschlagen brauchte, damit alles vor ihr kroch, war kaum auszuhalten!
„... und dann hat sie dem Jäger befohlen, Schneewittchen in den Wald zu bringen und ihr das Herz aus dem Leib zu schneiden!“ Kalt und anklagend holte die Stimme von Schneewittchens Begleiter sie aus ihren Erinnerungen. Seine Haare waren von ganz hellem Blond, Schneewittchens rabenschwarz.
„Karierte Kinder sollen sie kriegen!“ dachte Esmeralda bissig und suchte den Blick ihres Gemahls.
„Aber das ist doch lächerlich! Wer würde so etwas meinem Schneewittchen antun wollen!“ rief dieser soeben, aber lag da nicht schon der Keim des Zweifels in seiner Stimme? Esmeralda kannte das. Niemand würde ihr glauben, dass sie diesen Befehl nicht wirklich ernst gemeint hatte.
Ja, in ihrem Zorn hatte sie den erstbesten, der ihr über den Weg gelaufen war, angeherrscht: „100 000 Golddukaten dem, der mir Schneewittchens Herz auf einem Teller serviert, damit ich Gulasch daraus machen kann!“
Dass dieser Erstbeste ausgerechnet der Jäger war, der sich schon seit langem danach gesehnt hatte, ihr seine Liebe durch irgendeine Großtat zu beweisen, war Pech. Und wie groß war ihr Entsetzen gewesen, als Schneewittchen dann verschwunden war und er ihr ein frisches, blutiges Herz gebracht hatte!
Sie hatte ihn damals mit den 100 000 Golddukaten außer Landes geschickt, aber jetzt stand er da, mitgebracht von diesem blonden Prinzen, und bezeugte ihre Schuld.
Nein, da war nichts zu sagen. Wer würde ihren Hass auf diese unschuldige Schönheit verstehen, der sie zu jenem unseligen Befehl hingerissen hatte? Und wer würde ihr danach noch glauben, dass sie nicht im Traum daran gedacht hatte, der Befehl könnte ausgeführt werden!
Esmeralda schwieg, der blonde Jüngling sprach weiter. „Wenn sie nicht bei den sieben Zwergen Unterschlupf gefunden hätte, wäre sie in dem Wald elendiglich umgekommen!“
Esmeraldas scharlachrote Fingernägel glänzten. Sie hatte bei Urschl Untam noch anderes bekommen als Schönheit: einen Menschen, mit dem sie reden konnte, und einen soliden Grundstock in Zauberei.
Der Zauberspiegel hatte es ihr verraten: Schneewittchen lebte noch. Esmeralda war unendlich erleichtert. Sie beobachtete mit Vergnügen die Stieftochter im Spiegel, wie sie das Zwergenhaus putzte und für die gefräßigen Kerle kochte und ihre Socken stopfte. Ja, das war genau das, was sie der Kleinen von Herzen gönnte! Und jetzt würde wohl die Liebe ihres Gatten ihr allein gehören.
Doch der Gatte grämte sich um seine Tochter, und zwar so sehr, dass Esmeralda es für besser hielt, sie zurückzuholen, denn mit einem anwesenden Schneewittchen wurde sie besser fertig als mit einem abwesenden.
Rasch ein kleiner goldener Kamm gefertigt, der für immer den schwarzen Glanz aus Schneewittchens Haar nehmen sollte, damit sie nicht mehr gar so wunderlieblich und bezaubernd war, vielleicht war sie dann besser auszuhalten.
Schneewittchen aber hantierte so ungeschickt mit dem verzauberten Kamm, dass sie sich die Kopfhaut ritzte und von dem Zaubermittel bewusstlos wurde.
„Wenn die Zwerge sie nicht so schnell gefunden hätten, wäre sie am Gift der Königin gestorben!“ klagte der blonde Prinz an. „Danach hat sie es noch mit einem verzauberten Mieder versucht und letztendlich mit einem vergifteten Apfel!“
Das Mieder war keine sehr gute Idee gewesen. Esmeralda hatte sich vorgestellt, wenn das Mieder beim Tragen enger wurde und Schneewittchen langsam die Luft wegblieb, würde sie sich nicht mehr so anmutig bewegen können und sich außerdem bald zurückziehen müssen, um sich Luft zu verschaffen. Dass das Mädchen in seiner aufsteigenden Panik nicht mehr imstande war, die Bänder zu öffnen, konnte man doch wirklich nicht ihr, Esmeralda, zur Last legen! Der Apfel war schon besser gewesen, sein Gift hätte Schneewittchens berühmte weiße Haut schrumpeln lassen wie altes Obst, aber dieses zarte Geschöpf war selbst zum Essen zu dumm, sie verkutzte sich und erstickte an dem Apfelstück!
Esmeralda war am Ende ihrer Weisheit gewesen. Sie hatte Urschl Untam um Rat gefragt, aber die Alte hatte auch nicht helfen können. Vom Tode könne nur die Liebe retten, hatte sie gemeint, und Esmeralda hatte resigniert. Sie hätte viel darum gegeben, das Mädchen wieder lebendig zu machen, aber Liebe konnte sie beim besten Willen nicht für die verwöhnte Stieftochter aufbringen.
Und dann war dieser Prinz aufgetaucht.
„...Einzig meine Liebe konnte Schneewittchen retten vor den Nachstellungen dieser bösen Hexe! Ich fordere, dass man sie mit dem Tode bestraft, damit dieses arme unschuldige Kind nicht weiter gefährdet ist!“
Der Hof murrte. Sie hatten sie nie gemocht, diese fremde, schöne Prinzessin, die sich der König da geholt hatte. Sie war ihnen zu stolz und abweisend gewesen. Und dass sie nun gar das liebliche Schneewittchen so misshandelt hatte! Esmeralda konnte das Todesurteil auf allen Gesichtern lesen.
Auch der König war auf der Seite der Ankläger. Das schmerzte am meisten, aber Esmeralda hatte es immer gewusst, dass der König sie nie wirklich geliebt, sondern nur wegen ihrer großen Schönheit geheiratet hatte, als Prunkstück für seinen Thronsaal gewissermaßen.
„Bist du all dieser Dinge schuldig, Esmeralda?“ Der König fragte es hart und streng, sah dabei aus wie ihr Vater, sodass sie wusste, er würde ihr die Wahrheit nicht glauben.
Und was war denn die Wahrheit? Sie hatte das Kind wirklich in Gefahr gebracht, hasste es mit unaussprechlichem und unerklärbarem Hass und hätte ihm keine Träne nachgeweint, wenn es unter anderen Umständen gestorben wäre. Sie schwieg.
Das Urteil wurde sofort gefällt, der blonde Prinz, vermutlich der zukünftige Schwiegersohn, schlug es vor: „Sie soll auf glühenden Kohlen tanzen, bis sie tot umfällt!“
Auf so grausame Gedanken wäre ich nie gekommen! Aber er ist der Gute, und ich bin die Böse!
„Verflucht sollt ihr sein, alle miteinander!“ schrie Esmeralda in ohnmächtiger Wut, als man sie aus dem Thronsaal in den Schlosshof zerrte, in dem schon ein Kohleteppich entzündet wurde.
„Ihr seid ja schnell zur Hand, wenn es um grausame Strafen geht!“ ertönte da auf einmal eine krächzende Stimme. „Esmeralda! Halt dich gut fest!“
Urschl Untam! Esmeralda ergriff den angebotenen Arm, schwang sich hinter der Hexe auf den Stiel des unbeschreiblichen Besens namens Loddfafnir und hielt sich wie befohlen gut fest. Bevor die Menge noch reagierte, waren sie über die Schlossmauern entflogen, Richtung Schauerwald.
Esmeralda schluchzte in Urschls herabhängende Kapuze. Ein Eichhörnchen schlüpfte aus den dicken Falten und schnupperte neugierig an Esmeraldas Wangen. „Lass sie weinen, Whisky,“ rief ihm die Alte zu, „sie wird jetzt eine Weile bei uns bleiben und endlich einmal eine ordentliche Erziehung bekommen,“ der Besen machte einen steilen Satz nach oben, „meine Erziehung!“
Und wenn Du, lieber Leser, diese Geschichte vielleicht schon anders erzählen gehört hast, so erwäge wohl in Deinem Herzen, welche wohl die wahre Geschichte ist.
Oder ist vielleicht keine wahr?
Oder enthält jede einen Teil der Wahrheit?
Sicher ist, man soll niemals nach dem Augenschein urteilen, und schon gar nicht, wenn ich im Spiel bin!
Grüße aus dem Schauerwald!
Urschl Untam
Hexe
Tag der Veröffentlichung: 03.08.2009
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