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Es waren einmal drei Schwestern, hübsche, freundliche junge Mädchen, die von allen in der Marktgemeinde gern gesehen wurden. Alle drei lebten im Häuschen ihrer Eltern.
Klara, die Älteste, war klug, ernsthaft und stets besonnen. Sie ging der Pfarrersköchin zur Hand und wusste auch gut zu raten und zu helfen, wenn jemand sorgenbeladen das Pfarrhaus aufsuchte.
Rosemarie, die Mittlere, wurde von allen „Rosenlieb“ genannt, weil sie voller Wärme und Liebe auf jedermann zuging. Sie begleitete gern den Dorfarzt bei seinen Besuchen, munterte ängstliche Kranke auf, legte Verbände an, versorgte neugeborene Kinder und streichelte liebevoll über alte, welke Wangen, die unter der freundlichen Berührung wieder rosig vor Freude wurden.
Und dann war da noch Lilibell, die Jüngste, immer fröhlich und voller Freude über das Leben. Lilibell half der Mutter im Haushalt und dem Vater am Acker. Sie sang und lachte den ganzen Tag und erhellte damit Haus und Hof.
Das Land lebte seit vielen Jahren in Frieden mit seinen Nachbarn, und alle Menschen konnten sorgenfrei von seinen Erträge leben. Sie verrichteten ihre Arbeiten verantwortungsbewusst und gern, fanden aber auch immer wieder einen Grund, um ausgiebig und fröhlich zu feiern.
Doch in letzter Zeit schien nichts mehr so richtig gut zu gehen. Es war, als ob die Sonne weniger hell schien, Regen und Wind angriffslustiger wären und der Boden seine Früchte nicht mehr so freigiebig verschenkte. Die Menschen wurden unruhig, ohne recht zu wissen, weswegen. Die Feste wurden fast unmerklich seltener und weniger ausgelassen.

Dann kam eines Tages eine Kutsche gefahren, es war eine sehr kostbare, reich geschmückte Kutsche, aber in schlechtem Zustand. Das Gold war großteils abgeblättert, Kanten und Ecken angeschlagen, eine Fensterscheibe zerbrochen und alles bedeckt mit Schmutz und Kerben. Der Kutscher trug die blau-grüne Livree des Königshofes, aber auch sie war zerrissen und schmutzig. Die vier Pferde sahen müde aus, und ihr Fell war stumpf und staubig.
Mitten auf dem Hauptplatz hielt die Kutsche an. Der Kutscher machte die Zügel am Sitz fest und kletterte ein wenig ächzend und schwerfällig vom Bock. Seine tätschelnde Hand wirbelte Staubwolken von den Pferderücken, als er steifbeinig zum Brunnen ging und einen Eimer Wasser heraufholte.
Kinder unterbrachen ihr Spiel und umkreisten voll Neugier die Kutsche in einem respektvollen Abstand. In den Fenstern der Häuser wurden Vorhänge verstohlen zur Seite geschoben und spähende Augen sichtbar.
Ein Mann entstieg der Kutsche. Zuerst sah man nur seine weißbestrumpften Beine in schwarzen Schnallenschuhen, dann schwarzsamtene Kniehosen und schließlich ein verknittertes weißes Rüschenhemd unter einer Weste aus Silberbrokat. Die Spitzenmanschetten hingen etwas traurig über die Hände, sie waren schon lang nicht mehr gewaschen und gestärkt worden. In das hellbraune Haupt- und Barthaar mischten sich schon unübersehbare graue Strähnen. Der Mann sah sich prüfend und bedächtig um und neigte sich dann noch einmal in die Kutsche, um seinen Umhang und seinen Hut herauszuholen.

Lilibell hinter ihrem Fenster zerknüllte vor Aufregung den Vorhang in ihren schweißfeuchten Händen. Das waren Umhang und Hut eines Zauberers, und nach den vielen silbernen Zeichen und Runen zu urteilen, eines sehr bedeutenden Zauberers!
Der Zauberer warf sich ohne Hast den Umhang über die Schultern und setzte den Hut auf. Dann schritt er auf das Wirtshaus zu und schloss dessen schwere Eichentür zwischen sich und den neugierigen Blicken. Inzwischen hatte der Kutscher die Pferde getränkt und schirrte sie nun ab.
Bedauernd wandte sich Lilibell wieder ihrem Gemüse zu, es gab im Augenblick nichts Beeindruckenderes mehr zu sehen als einige Spatzen, die sich laut tschilpend über die Pferdeäpfel hermachten. Was mochte diesen Zauberer wohl in ihr kleines Dorf geführt haben? Die Interessen des Hofes hatten sich noch nie bis hierher erstreckt. Nun, vermutlich würde sie es bald erfahren, denn ihr Cousin Florian war Schankbursche beim Wirt und für ein Stück ihres Zucchini-Käse-Strudels oder ihrer Schokoladentorte jederzeit bereit, alle Geheimnisse der Welt preiszugeben. Das Essen im Wirtshaus war wie in allen Wirtshäusern: viel Wasser, viel Fett, viel Mehl, darin einige überreife Fleischstücke, und alles so scharf gewürzt, dass man den abgestandenen Geschmack nicht mehr bemerkte.

Doch sie brauchte ihre Überredungstaktik diesmal nicht einzusetzen. Als der Kutscher die Pferde untergebracht und versorgt hatte, winkte er die Kinder zu sich heran. „Lauft hinaus auf die Felder und sagt allen euren Eltern, Verwandten und Bekannten, dass sie sich vor der Abendvesper auf dem Dorfplatz versammeln sollen, mein Herr hat ihnen etwas mitzuteilen!“ Wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel stoben die Kinder in alle Himmelsrichtungen davon, jeder wollte der erste sein, der die aufregenden Neuigkeiten überbrachte.
Als sich dann später auf dem inzwischen schattig gewordenen Dorfplatz alle einfanden, trat der Zauberer heraus. Sein Haar glänzte nun ordentlich gekämmt auf seinen Schultern, das Gesicht sah dank kaltem Wasser nicht mehr so müde aus, die Kleider waren ausgebürstet und die Schuhe spiegelblank geputzt. Er hätte geradewegs aus dem Thronsaal kommen können, hätte man nicht beim genaueren Hinsehen die kleinen Löcher und Risse in den Spitzenrüschen und die gezogenen Fäden im Silberbrokat bemerkt. Lilibell, die ganz vorne stand, malte sich aus, wie abenteuerlich diese Reise verlaufen sein musste.
„Bewohner von Eichenbach!“ Die Stimme des Zauberers war stark und wohlklingend. Er sprach nicht den bäuerlichen Dialekt sondern in der kultivierten, leicht näselnden Sprache des Hofes. „Ich bin Ravindra, der Erste Zauberer des Königs. Vielleicht habt ihr selbst schon bemerkt, dass die Dinge sich ändern. In der Hauptstadt und vor allem im Schloss ist es noch viel schlimmer. Leider muss ich euch sagen, dass der König unter einem bösen Einfluss steht, seine weisen Ratgeber und wahren Freunde verjagt hat und nur mehr auf die Einflüsterungen des verderbten Magiers Borgward hört. Borgward ist jetzt der wahre Herrscher des Landes und König Heinrich nur mehr eine Marionette der dunklen Mächte.“
Es war ganz still geworden auf dem Dorfplatz. Bleich und erschrocken starrten die Menschen auf den fremden Zauberer. Welch ungeheuerliche Botschaft! Und doch – sie erschien nicht unglaubwürdig. Hatte sich nicht alles fühlbar verändert? Hatten sie es nicht irgendwie schon gewusst?
„Es gibt nur eine Möglichkeit, das Unheil noch einmal von unserem Land fernzuhalten!“ sprach Ravindra weiter. „Jemand muss das Zepter der Gerechtigkeit finden und es dem König überreichen. Dieses Zepter kann aber nur von jemandem gefunden und mitgenommen werden, der völlig frei von Eigennutz ist, und um solch einen Menschen zu finden, reise ich nun schon seit vielen Wochen durch das ganze Land. Viele haben es versucht, die meisten haben es schon bald aufgegeben, und auch bei den anderen hat sich letztlich herausgestellt, dass sie nur aus selbstsüchtigen Gründen gehandelt haben. – So wie auch ich selber“, fügte er leiser und traurig hinzu.

„Ich ziehe morgen weiter, aber ich hinterlasse euch eine Beschreibung, wie das Zepter zu finden ist. Wenn sich unter euch jemand findet, der es dem König bringen möchte, so möge er es versuchen. Ich wünsche ihm Segen und Erfolg. Euch allen wünsche ich Segen und eine gute Nacht!“ Er zog sich wieder in das Wirtshaus zurück.
Lilibell schlüpfte zwischen den Dorfleuten hindurch zu ihren Schwestern. „Klara, Rosenlieb, was meint ihr, sollten wir das nicht versuchen? Wir sind drei, einer von uns wird es schon gelingen!“ Ihre vor Begeisterung glitzernden Augen strahlten die beiden andern erwartungsvoll an.
Rosenlieb lachte. „Ach, du kleiner Unband, das ist doch nichts für dich! Du weißt doch viel zu wenig von der Welt!“ Sie umarmte sie liebevoll. Klara sah ihre Schwestern nachdenklich an. „Lilibell hat vielleicht recht! Ich denke, wir könnten es versuchen. Lasst uns über Nacht noch einmal darüber nachdenken, und morgen früh können wir uns ja zumindest diese Beschreibung anschauen.“ Lilibell strahlte, Rosenlieb sah ein wenig besorgt drein. „Wir beide, ja, aber die Kleine?“
„Ich bin nur ein Jahr jünger als du!“ rief Lilibell empört. „Und außerdem sollst du ja über Nacht darüber nachdenken!“

Rosenlieb strich ihr über die nussbraunen Locken. „Ist recht, Lilibell, wir wollen darüber nachdenken.“

Den ganzen Abend und die halbe Nacht wurde in den Familien über nichts anderes geredet als über den König, den bösen Zauberer und das Zepter der Gerechtigkeit. Wenige waren es, die von sich zu sagen wagten, ohne Eigennutz zu sein, denn sie alle wussten, dass es ihnen hauptsächlich darum ging, dass ihre Felder wieder mehr Ertrag brachten.
Am nächsten Morgen, als die ersten Frühaufsteher in das Wirtshaus gingen, um nach der Beschreibung zu fragen, war Ravindra schon abgereist. Auf dem Stammtisch lagen ein Säckchen mit getrockneten Kräutern und ein großer Bogen Pergament mit folgendem Text:
Wenn Dunkelheit im Land regiert
und Böses Hass und Not gebiert,
dann ist zur Hilfe dir nicht weit
das Zepter der Gerechtigkeit.
Es führt von deinem Herzen nur
zu ihm des reinen Wunsches Spur.
Ich rate, frage dich zuerst,
was tief im Innern du begehrst.
Dein Wunsch wird deine Füße lenken,
wird dir, wonach du suchest, schenken.
Wenn du in dir fühlst Kraft und Mut,
dann trinke diesen Kräutersud
und folge deinem Herzenspfad,
nicht rechts, nicht links, nur pfeilgerad!

Das Pergament ging von Hand zu Hand und hinterließ ratlose Blicke und betretenes Schweigen. Einer nach dem andern verließ still die Gaststube und ging draußen wieder seinem gewohnten Tagwerk nach, bis nur noch Hannes, der Schmied, und die drei Schwestern um den Tisch herum standen.
Hannes hielt das Pergament in seinen gewaltigen Fäusten und las den Text noch einmal durch, wobei seine Lippen stumm die Worte formten, das Lesen fiel ihm ein wenig schwer. Ansonsten war Hannes ein gutmütiger, hilfsbereiter Mann, der niemals erst gebeten werden musste, mit Hand anzulegen, wo eine starke Hilfe benötigt wurde.
Er brummelte etwas vor sich hin, kratzte sich den dichten, dunklen Bart, warf dann eine Prise von den Kräutern in einen Becher und goss einen Schöpfer voll siedendem Wasser aus dem Kessel darüber. Er schaute die Mädchen unsicher an, während er in den dampfenden Becher blies, damit das Gebräu kühler würde. Niemand sagte etwas, alle fühlten sich unbehaglich. Schließlich setzte Hannes den Becher an und trank ihn in kleinen, vorsichtigen Schlucken leer.
Eine Weile schaute er unbeweglich in den leeren Becher, dann stöhnte er plötzlich verzweifelt auf und schmetterte das Gefäß auf den Boden, sodass die Mädchen erschrocken zurück wichen. Verwirrt sah der Schmied um sich. „Was ist los? Wieso bin ich wieder hier?“ Er dachte angestrengt nach. „Oder war ich die ganze Zeit hier? Habe ich das alles nur geträumt?“

Klara fand als erste Worte. „Natürlich bist du noch hier. Du hast soeben den Tee ausgetrunken, und dann hast du den Becher auf den Boden geworfen. Was ist dir geschehen?“
Hannes ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Das war gerade eben? Für mich sind Stunden vergangen. Ich bin nach Hause gegangen und habe überlegt, wie ich dem König helfen könnte. Da habe ich meinen Schmiedehammer gesehen und auf einmal erkannt, dass er das Zepter der Gerechtigkeit ist. Damit wollte ich dem bösen Magier den Kopf zerschmettern und bin losgerannt zum Königsschloss. Aber dann ist mir ein alter Mann in den Weg getreten und hat gesagt ‚geh heim, Hannes, das ist nicht das Zepter der Gerechtigkeit, das ist ein Vorschlaghammer, und mit dem erreichst du nichts Gutes!’ Da hab ich eingesehen, dass er recht hat, und dass ich kein reines Herz habe, und dann bin ich zurückgegangen, und jetzt bin ich auf einmal wieder hier, und ihr sagt, es ist überhaupt keine Zeit vergangen!“
„So wirkt das also“, sagte Klara nachdenklich, „es spielt sich alles nur im Herzen ab. Ich habe verstanden, dann will ich es als nächste versuchen!“ – „Mir reicht es, ich gehe nach Hause!“ sagte der Schmied und verließ die Schankstube. „Passt auf euch auf, Mädchen!“ rief er in der Tür noch einmal zurück.

Der Tee schmeckte leicht bitter, aber nicht unangenehm. Während sie noch an dem heißen Getränk nippte, überlegte Klara, was sie dem König sagen würde, käme er unversehens ins Pfarrhaus, wie all die anderen Ratsuchenden, und bäte sie um Hilfe. Plötzlich sah sie ihn vor sich: ein noch junger Mann mit seidig feinem, blondem Haar, das lang und glatt bis unter die Schulterblätter fiel, eine hermelingesäumte blaue Samtjacke, Seidenhosen, türkisblau wie das Meer, Gold und Edelsteine, ein edles, königliches Antlitz – und Augen, glitzernd, hart und kalt wie die Diamanten auf seinem Stirnreif.
Und sie erkannte die Wahrheit. „Du hast deine Seele verkauft für Reichtum und Macht! Weißt du nicht, dass nicht nur du darunter leidest, sondern dein ganzes Land? Oder weißt du es, und es ist dir egal?“
Der König sah sie kalt und unbewegt an. Plötzlich hielt sie einen Stab in der Hand, einen Wanderstab, wie ihn Bettler und Pilger trugen. Er war unansehnlich und abgenutzt, doch gut in Stärke und Gewicht, stützend, aber nicht zu schwer, seinen Träger mit der Erde verbindend, auf der er stand. „Sieh her!“ Klara hielt dem König den Stab waagrecht auf ihren Händen liegend hin. „Verzichte auf Reichtum und Macht! Lass alles zurück, nimm diesen Stab und wandere arm und auf eigenen Füßen durch dein Land. Borgward wird seinen Einfluss auf dich verlieren, dein Herz wird heilen, und die Menschen werden dich gern in ihrer Mitte aufnehmen als einen von ihnen. Denn mit dieser Tat wirst du dich und das Land retten!“

Fast ungläubig schaute der König abwechselnd auf das Mädchen und auf den Stab in seinen Händen. Dann lachte er laut und höhnisch auf und ging weg, ließ sie dort stehen, wo sie war, den Stab in den Händen und einen eisigen Schmerz im Herzen. Noch nie war ihr Rat so verächtlich zurückgewiesen worden! Sie hatte doch recht gehabt!
Sie fühlte ein warme Hand auf ihrem Arm, jemand nahm ihr den Stab ab, eine ältere Frau mit mütterlichen Augen, gut gekleidet, aber keine Hofdame. „Kind, du hast die Wahrheit gesagt, du hast ein wahres Zepter der Gerechtigkeit gefunden, weil du ein reines Herz hast, aber der König kann die Wahrheit nicht ertragen. Sie dringt nicht durch in sein versteinertes Herz. Die Wahrheit ohne Liebe kann nicht heilen!“
Klara schluchzte auf. Sie hatte versagt. Als sie die Tränen aus ihren Augen wischte, sah sie sich in dem Schankraum wieder, die erwartungsvollen Gesichter der Schwestern auf sich gerichtet. „Oh!“ hauchte sie, „Es ist vorbei, ich konnte ihm das Zepter nicht geben.“ Mit bedrückter Stimme erzählte sie, was sie erlebt hatte.
Rosenlieb nagte an ihrer Unterlippe. „Ja, aber du hast das Zepter ja gefunden! Vielleicht muss man es dem König nur anders sagen, damit er es auch verstehen kann!“ Aufgeregt goss sie sich eine Tasse Tee auf. Er schmeckte süß und lieblich, und Rosenlieb fühlte eine freudige Zuversicht in sich.

Klara war zu hart mit dem König umgegangen. Warum sollte er alles aufgeben wollen für ein Bettlerleben? Die Liebe musste das erfrorene Herz zum Leben erwecken, dann war es gleichgültig, ob er arm oder reich war, ob er ein mächtiger oder ein einfacher Mann war. Schon stand er vor ihr, so schön, wie ihn Klara beschrieben hatte, aber sie erkannte auch, was seine Augen so kalt machte: das völlige Fehlen von Liebe und Freude.
Das Zepter der Gerechtigkeit! Sie konnte doch diesem leidenden Mann keinen Bettlerstab reichen! Es musste etwas anderes sein. Suchend sah sie um sich. Sie befanden sich in einem Garten, ihr Blick fiel auf einen Apfelbaum, die Äste schwer von rotbackig duftenden Äpfeln. „Das ist es!“ dachte sie beglückt und fasste den König ganz einfach bei der Hand.
„Sieh her, lieber König! Schau dir diesen Apfelbaum an, wie er da steht und Früchte schenkt und fest und stark ist. So bist auch du! Du bist unser König, weißt du nicht, dass dein Volk dich liebt? Wir wollen alle für dich da sein, aber bitte sei du auch für uns da und schick diesen bösen Zauberer weg! Werde wieder der gute und gerechte König, der du früher warst!“
Der König löste seine Hand aus ihrer, nicht zornig oder verächtlich, aber sehr bestimmt. „Das sind Mädchenträume! Ich bin der König!“ Wieviel Abweisung in diesem kurzen Satz lag! Rosenlieb sah beschämt zu Boden.

„Lass den Kopf nicht hängen, Mädchen, es ist nicht deine Schuld!“ Auf einen schweren Rechen gestützt, stand ein alter Gärtner vor ihr und nickte ihr freundlich zu. „Du hast ihm ein Herz voller Liebe hingehalten, aber diesen großen Schatz kann keiner erkennen, dessen Seele gefangen ist im Teufelskreis von Macht, Reichtum und immer weiter gehendem Fortschritt. Liebe ist etwas sehr Wunderbares, aber dennoch, Liebe allein, Liebe ohne Wahrheit, hat zuwenig Kraft und niemals Bestand!“ Er strich ihr kurz mit seiner warmen, schwieligen Hand über den Arm, schulterte dann seinen Rechen und verschwand zwischen den Bäumen.
„Und wenn ich jetzt einen Lidschlag mache, bin ich wieder zurück und genauso gescheitert wie Hannes und Klara und all die anderen zuvor!“ dachte Rosenlieb kummervoll, und so war es dann auch.
Während sie erzählte, hatte sich Lilibell heimlich den Tee aufgegossen und hielt den Becher hinter ihrem Rücken versteckt. Sie würden ihr bestimmt nicht erlauben, ebenfalls zu trinken, aber was sollte schon passieren? Die Dinge liefen ja nur im Traum oder in der Phantasie, aber jedenfalls nicht wirklich ab!
Wahrheit ohne Liebe war zuwenig, aber Liebe ohne Wahrheit auch. Also musste die Verbindung von Wahrheit und Liebe der richtige Weg sein. Wie würde das aussehen? Vielleicht so, dass der König zwar den Pilgerstab nehmen und betteln gehen musste, dass er aber auch die Gewissheit brauchte, dass ihm immer ein freundlicher, reifer Apfelbaum zur Verfügung stand? Fast ohne es zu merken, nahm sie ein paar Schlucke von dem Tee.

Sie befand sich in einer Allee aus Apfelbäumen mit einem Pilgerstock in der einen Hand und in der anderen noch die halbvolle Teeschale. „Na, hoffentlich lässt sich der König Zeit mit seinem Erscheinen, ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll!“ schoss es Lilibell durch den Kopf, aber da kam er ihr auch schon in der Allee entgegen und noch dazu in Begleitung eines großen, düsteren Zauberers. Das musste der gefürchtete Borgward selbst sein! Lilibell drückte sich erschrocken hinter einen dicken Baumstamm.

Sie sah, wie der Zauberer dem König einen juwelenbesetzten Becher reichte. „Trinkt, das wird Euch bei der Hitze gut tun“, sagte er mit öliger Stimme. Der König nahm den Becher. Lilibell sah Borgwards lauernden Blick. „Nein!“ schrie sie, so laut sie konnte, und sprang hinter dem Baum hervor. „Ich glaube nicht, dass das gut für dich ist“, stotterte sie eingeschüchtert, als sie sich dem kalten Erstaunen das Königs gegenüber fand. Schon wandte er sich Borgwald zu, da schlug ihm Lilibeth mit dem Stock den Becher aus der Hand und reichte ihm ihre Teeschale. „Trink das! Bitte!“ fügte sie dann noch hinzu.

Der König sah das erhitzte Mädchen an, eine flüchtige Erinnerung an die eigenen Kindertage stieg in ihm hoch. Der Tee roch köstlich erfrischend. Und bevor der Zauberer noch etwas dagegen tun konnte, hatte der König die Tasse leer getrunken.
Was für ein köstlicher Geschmack! Wie der Holunderblütensaft seiner Mutter. Und was für ein seltsamer Tag heute! Erst dieses Mädchen mit seinem Pilgerstab – hatte die da nicht einen ähnlichen Stab? Und dann die andere mit ihrem Apfelbaum, beide hatten ihn tiefer getroffen, als er es sich hatte eingestehen wollen. Die eine hatte schon recht, sein Streben nach immer mehr hatte ihn das Wohl seines Landes vergessen lassen, und auch die andere hatte recht, Liebe war in seinem Leben schon lang nicht mehr vorhanden.
Und die da, die nun völlig verschreckt vor ihm stand? „Nun, hast du mir vielleicht auch etwas zu sagen?“ fragte er nicht unfreundlich.
Lilibell war wie gelähmt. Mit leerem Kopf starrte sie durch den König hindurch, nahm dann eine unwillkürliche Bewegung wahr, und ihr Blick wurde eingefangen von einem seltsamen Gegenstand, den er in der Hand hielt. Was konnte das sein? So etwas hatte sie noch nie gesehen, aber es wirkte sehr königlich, so konnte ein – Zepter aussehen!

„Ja, das ist es!“ rief sie glücklich. „Du selber trägst das Zepter der Gerechtigkeit, du musst es nur gebrauchen! Du kannst diesen Zauberer fortschicken, und alles wird wieder gut!“

Etwas benommen sah Heinrich sein Zepter an, das er immer, er wusste selbst nicht recht, warum, bei sich trug. Ja, er hatte damals, als man ihn gekrönt hatte, geschworen, ein gerechter König zu sein zum Wohl seines Volkes und seines Landes. Hell und warm glitzerten die Edelsteine auf dem goldenen Stab. Ja, er konnte diesen Zauberer wirklich davonjagen, er hatte ihm keineswegs das Glück beschert, das er sich gewünscht hatte. Einsam war er geworden und krank in der Seele, aber ein gerechter Herrscher zu sein, das war etwas, das ihn wieder gesunden ließe!
„Danke, meine Kleine, wer immer du auch bist! Wir werden die Dinge nun ändern, und dann wird es ein Fest für das ganze Land geben, und ich hoffe sehr, dass du es besuchen wirst!“
Als er wegging, war ein Pilger an ihrer Seite, der den weggeworfenen Stab aufhob. „So ist das mit den Herzen, Wahrheit und Liebe rühren sie ganz tief drinnen an, aber wahre Heilung finden sie immer nur aus sich selbst heraus. Von außen kann man nur etwas zum Klingen bringen, aber in Bewegung setzen muss sich das Herz selber!“
Und wie der König es gesagt hatte, der Zauberer wurde des Landes verwiesen, die Dinge änderten sich, und nach Jahr und Tag wurde ein landesweites, riesiges, ausgelassenes Fest gefeiert, wie man es schon lang nicht mehr gekannt hatte.
Und wer weiß, eines Tages vielleicht, wird König Heinrich eine der drei Schwestern zu seiner Königin machen.


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Tag der Veröffentlichung: 31.07.2009

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