DAS SPIEL DER BURGHERRIN
Unter einem violetten Nachthimmel fuhren wir dahin, unter schwarzen Wolken und dem bleichen Mond. Der alte VW-Bus stöhnte, das Land draußen war flach und öde. Vor uns aber – Herberge und Frühstück verheißend – ragte eine Burg.
Wie wir hinauf und in die Burg hinein gelangten, ist mir entfallen, nur wirre Erinnerungen sind geblieben und wurden seither Teil meiner Albträume – Erinnerungen an enge Kurven und Scharen zickzackender Fledermäuse, an tief hängende Äste, die an die Frontscheibe schlugen und sich an den Scheibenwischern festkrallten.
Oben strahlte die Morgensonne und brachte uns Burgmauern, Blumenwiese und den Brennnessel-bewehrten Abhang vor Augen. Zunächst aber trieb uns der Hunger in den Rittersaal mit reichgedeckter Tafel. Die Burgherrin saß in ihrem prächtigen Sessel und betrachtete wohlwollend, wie wir schmausten.
Dann spielten wir auf der Wiese Fangen und Ball, wir lachten, tauschten Küsse und andere Zärtlichkeiten – die Burgherrin saß in ihrem prächtigen Sessel und betrachtete wohlwollend unser Treiben.
Schließlich wurden wir schläfrig und legten uns in die Wiese zwischen die hohen weißen Blumen. Als wir erwachten, war es später Nachmittag. Nun rief uns die Burgherrin zu sich und sagte: „Ihr habt noch ein letztes Ballspiel vor euch: Wer den Ball nicht fangen kann oder von meinem Knappen abgejagt bekommt, muss sterben.“
„Was soll das?“ schrieen wir empört.
Sie lächelte. „Ihr könnt auch versuchen, über die Burgmauer zu fliehen. Zwischen den Steinen wohnen Schlangen und werden euch töten. Wer springt, bricht sich den Hals.“
„So ein Unsinn!“, rief ich. „Ich spiele da nicht mit!“ Doch schon wurde mir ein Ball zugeworfen, ich konnte ihn gerade noch auffangen. Der Knappe in seinem schwarzen Samtwams lachte und griff mich an, ich warf den Ball über ihn hinweg meinem Freund direkt in die Hände. Dieser gab ihn weiter an unseren dritten Mann, der aber griff daneben, der Ball rollte ins Gras. Ich hörte ein Knacken und Knirschen, wie eine zerbrochene Puppe fiel der Arme ins Gras. Doch niemand stand neben ihm! Der Knappe war zehn Schritte entfernt, die Burgherrin saß in ihrem prächtigen Sessel und sah uns wohlwollend zu.
Nun rannte der Knappe herbei, sprang leichtfüßig über den Toten, hob den Ball auf und warf ihn mir wieder zu. Ich konnte ihn gerade noch erhaschen, obwohl er schlüpfrig war vom taunassen Gras. Mein Freund stand frei, ich gab den Ball an ihn ab, als der Knappe mich bedrängte. So warfen wir den Ball dreimal hin und her, der Knappe immer in der Mitte. Dabei war ich an den Rand der Wiese geraten und stand bis zur Brust in den Brennnesseln. Ich hielt den Ball fest und wartete, doch der Knappe in seinem schwarzen Samtwams blieb auf der Blumenwiese und schaute ratlos. Das war das Ende des Spiels.
Am nächsten Morgen fanden wir uns im Rittersaal ein, wo uns leckere Speisen erwarteten. Die Burgherrin saß in ihrem prächtigen Sessel und betrachtete wohlwollend, wie wir schmausten.
Danach traten wir auf die Wiese hinaus, um die Morgensonne zu begrüßen. Was mochte der neue Tag uns bringen?
Ich trat zur Burgherrin heran, einen frisch gepflückten Strauß weißer Wiesenblumen in der Hand. „Ich denke“, begann ich, „dass Ihr wie die Sonne seid. Morgens geht sie auf und schenkt uns ihr freundliches Licht. Abends wird sie grausam und lässt den Tag sterben.“
Die Burgherrin lächelte und schwieg.
Ich verließ sie und ging zu meinen Freunden. „Vielleicht sollten wir sie beschenken“, sagte ich. „Sie hat uns ja Essen und Unterkunft gastfreundlich gewährt. Vielleicht bestraft sie nur unsere Undankbarkeit?“
Wir brachten ihr Geschenke – ich ein Buch, mein Freund eine Rose, ein weiterer eine Goldkette von seinem Hals. Die Burgherrin saß in ihrem prächtigen Sessel und betrachtete wohlwollend das Dargebotene.
Ob wir alle freikamen, die ganze Gruppe, das weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nicht einmal, wie ich aus der Burg entkam. Nachdenklich streiche ich über mein schwarzes Samtwams und schaue aus dem schmalen Fenster ins ferne Tal.
Tag der Veröffentlichung: 05.11.2009
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