DIE SCHATTENFRAU
Er wachte schweißnass auf, im Kopf ein Nachbeben von Unruhe und Verunsicherung. Was hatte er geträumt?
Erst als er im Badezimmer vor dem Waschbecken stand und sich kaltes Wasser ins Gesicht warf, fiel ihm ein, dass er im dunklen Keller nach dem Ausgang getastet hatte, aber vergeblich, wie es in schlimmen Träumen üblich ist. Die Wand war kalt und feucht, an den suchenden Fingern hatte sich ein Wust von Spinnweben, Schimmel, toten Insekten gesammelt. Angeekelt schüttelte er den klebrigen Unrat von sich, tastete wieder nach der Wand und fasste an etwas Weiches.
Er zuckte zurück. Faule Kartoffeln? So hoch an der Wand? Er roch an seinen Händen, die dufteten kühl und süß, nach Waldmeister vielleicht, Minze, Lilien.
„Was ist das?“ murmelte er.
„Das bin ich“, flüsterte eine Stimme vor ihm. Da wusste er in traumhafter Sicherheit, dass vor ihm im Dunklen die schönste Frau stand, die begehrenswerteste überhaupt. Und wie sie duftete! Aber er war verheiratet, und diese hier war nicht seine Frau.
Jetzt, im beruhigenden Licht des Badezimmers, mit den Füßen fest auf den bodengeheizten Fliesen, überlegte er, wie der Traum hätte weitergehen können. Er ertappte sich beim Bedauern, vorzeitig aufgewacht zu sein.
Der Tag war erfüllt von Stress im Büro und, als er heim kam, kleinlichen Streitereien mit seiner Frau – das Übliche. Er trank zwei Bier vor dem Fernseher und fiel ins Bett. Einige Zeit lag er noch wach, mit wirren Gedanken. Durch die Ritzen der Jalousie schimmerte das Licht der Straßenbeleuchtung und warf Streifen an die Zimmerdecke. Wie Lichtschranken, dachte er. Oder das Dunkle dazwischen – Eisenstäbe einer Gefängniszelle, die dich daran hindern, in den hellen Tag hinaus zu gehen.
In den nächsten Tagen ging es ihm nicht gut, er fühlte sich benommen und schwindlig. Er ging trotzdem zur Arbeit, und seiner Frau sagte er auch nichts, ihm reichte ihre Nörgelei auch so schon. Nachts starrte er an die Decke und grübelte über unklaren Fragen. Wenn er doch einschlief, träumte er vom Keller. Er suchte nicht den Ausgang, er wollte die Frau wiederfinden.
Am Morgen des fünften Tages blieb er im Bett liegen.
„Was ist los?“, rief seine Frau aus der Küche. „Du bist schon spät dran zur Arbeit!“
„Mir geht’s nicht gut“, flüsterte er.
„Was brabbelst du?“ rief seine Frau.
Aber er war schon im Keller, im Dunkeln, und es duftete betörend kühl und süß. Nur zwei tastende Schritte, und er hatte sie erreicht, seine Hände erfassten ihre weiche, schlanke Gestalt.
„Komm“, flüsterte sie und schlang ihre Arme um seinen Hals. „Ich habe dich erwartet!“
Als die Ehefrau den Arzt rief, konnte dieser nur noch den Tod feststellen. Sie schaute auf das bleiche, eingefallene Gesicht und fühlte sich plötzlich einsam.
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2009
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