Amadeus Firgau
Rosenkind
Mancher muss zu seinem Glück gezwungen werden, dem er auswich, weil er es nicht kannte. Beispielsweise wird man Vater, ohne es zu wollen. Lacht nicht so unwissend; hört mich an.
Der Drang zur Einsamkeit hatte mich aus den Städten vertrieben. Ich lebte in den Schluchten nachtdunkler Wälder, bis ich's bereute und mich aufmachte, Menschen zu finden. Ich irrte umher - viele Tage - und wollte verzweifeln. Da endlich öffnete sich der Wald vor mir; auf der Lichtung sah ich einen Garten, der duftete in der Sonne. Ich klopfte an die Pforte.
Ein alter Gärtner öffnete und führte mich hinein zu einem kleinen Schloss in der Mitte. Rosensträucher säumten den Weg. "Wie sie duften! Wie die Blüten leuchten!" rief ich voll Bewunderung. Da lächelte der Alte und brach mir eine Knospe ab, die ich an meine Jacke steckte.
In der Halle des kleinen Schlosses kam mit eiligem Schritt eine Frau uns entgegen, die war sehr dick. "Welch schöne Überraschung!" rief sie und patschte die Hände zusammen. "Wie lange schon hatten wir keinen Besuch! Kommen Sie doch, Sie sind ja halb verhungert." Und sie führte mich an einen reich gedeckten Tisch.
"Wollen Sie nicht unseren Garten sehen?" fragte sie, als ich mir satt den Mund abtupfte. "Ich sah bereits die Rosensträucher", sagte ich. "Ach, der Vorgarten!" winkte sie geringschätzig ab. "Nein, kommen Sie mit!" Sie nahm mich bei der Hand und führte mich durchs Schloss hindurch zur Vorderseite hinaus.
Da standen, in einem weiten Park verstreut, viele Rosensträucher; groß und knorrig fast wie Bäume, mit Blüten bedeckt, die waren so prächtig und leuchteten in zärtlichem Glanz. Und viele Gärtnerinnen eilten umher, mit weißen Häubchen auf dem Haar und Gießkännchen in den Händen.
Eine Rosenblüte fiel mir auf, die war schon halb verwelkt, aber dennoch fest geschlossen. Prall gefüllt bog sie sich dem Boden entgegen. Als meine Führerin die Blütenblätter auseinanderbog, um hineinzuspähen, tauchte eine winzige Hand auf und zog die Blätter wieder über sich zusammen.
Die dicke Frau goss aus ihrer Kanne ein wenig auf die Blüte. Da fielen die welken Blätter ab, und auf dem Blütenboden saß ein kleines Kind, das klagte augenreibend über die kalte Morgenluft.
"Du kannst nicht ewig hier sitzen und träumen!" sprach die Frau streng. "Ach, muss ich gehen?" seufzte das Kleine und kroch von der Blüte herab auf den Boden. Es hob ein welkes Blütenblatt auf und legte es sich auf den Kopf - als Schutz gegen die grelle Sonne - dann wackelte es auf schwachen Beinen dem Schloss entgegen.
"Wie liebenswert", flüsterte ich andächtig. "Was wird mit ihm geschehen?" "Manchmal besuchen uns die Eltern," antwortete die dicke Gärtnerin, "um sich ein Kind abzuholen. Meist aber müssen sie selbst hinaus und ihre Eltern suchen. Die armen Würmer! Nur langsam kommen sie vorwärts. Bevor sie ihre Eltern gefunden haben, dürfen sie sich nicht sehen lassen; so haben sie keine Hilfe zu erwarten. Manche erfrieren, viele verhungern, oder sie werden im Wald von Nachtmahren gefressen."
Ich schüttelte den Kopf über die mangelnde Rücksicht solcher Eltern und hörte die Gärtnerin sagen: "Wie schön, dass Sie so rücksichtslos nicht sind!" Da schreckte ich auf: "Wie, ich?" "Ja, wollen Sie kein Kind abholen?"
Da nahm ich meinen Hut und rannte, rannte vorbei an den Gärtnerinnen, die ihre Kännchen fallen ließen, vorbei am alten Gärtner, der in die Büsche sprang, hinaus durch die Pforte und tief in die Wälder, wo ich mir ein Versteck suchte und mich in meinen Mantel hüllte, um zu schlafen. Doch klopfte mein Herz zu laut, und durch die Nacht hörte ich das ferne Greinen kleiner Kinder. Endlich fiel ich in unruhigen Schlaf.
Am Morgen weckte mich ein süßer Duft. An meiner Jacke glänzte die Rosenknospe in der Morgensonne. Als ich sie nehmen und betrachten wollte, merkte ich: festgewachsen war sie über Nacht, mit zarten Wurzeln hatte sie sich in mein Herz gesenkt. Beunruhigt und beglückt zugleich machte ich mich auf den Weg.
Mittags wagte ich, ins Knospeninnere zu spähen; da lag es zusammengerollt, ein winziges Kind, und schlief. Behutsam schloss ich die Blütenblätter, und vorsichtig ging ich weiter, dass nicht ein Zweig die Rose streife, verletze.
Bald merkte ich aber, die Knospe war ja nur aus dem Vorgarten - sie wurde nicht größer, war so empfindlich, so zart, nur mein Herzblut hielt sie am Leben. Und ich wusste: Hätte ich schon ein Kind gehabt, nie hätte diese kleine Rose den Weg zu meinem Herzen gefunden, sie wäre verwelkt.
Sie war so klein! Umso sorgfältiger musste ich sie umhegen. Mit Tautropfen wusch ich sie und verharrte still, wenn ein Schmetterling sie begrüßte. Und das Herz schlug mir laut, als das Kind sich zu regen begann, im Schlaf zuerst nur lange Zeit; bis es zuletzt sein Köpfchen aus der Blüte hervorstreckte.
"Guten Morgen", sprach es mit feiner Stimme. Dann stieg es aus der Blüte heraus. Nicht größer war es als mein kleiner Finger, doch schon sehr klug. Tagsüber kroch es in meinen Taschen herum, in meinen Ärmeln, kletterte auch oft zu meinen Ohren empor und flüsterte mir nützliche Dinge. Nachts kroch es zurück in seine Knospe.
Dann kam für die Rosenblüte die Zeit zu verwelken. Sie war doch bloß von einem Vorgartenstrauch; nie dazu bestimmt, ein Kind zu beherbergen und zu nähren.
Mein Kind ist inzwischen ein wenig gewachsen, doch bedarf es all meiner Sorge und Liebe, mehr noch als früher. Ich füttere es mit Mäusemilch und Honig von weißem Klee. Die Waldtiere blicken gerührt und helfen, denn das Wunder hat sich herumgesprochen. Nachts aber habe ich Mühe, die Schlangen abzuwehren. Sie wollen in meinen Ärmel kriechen, wo das Kind schläft.
Doch habe ich Hoffnung, das Kind am Leben zu halten und wachsen zu sehen. Wenn ich es ihm an nichts fehlen lasse, wenn die Waldtiere uns treu bleiben, wenn die Schlangen es nicht finden.
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2009
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