Jetzt erst bemerkte Sorla, wie sehr er im Abendwind fror, daß er seine Felle auf der Geröllhalde vergessen hatte, und daß er auf einem Felssims stand, kaum drei Fuß breit - hinter ihm türmte sich die Felswand auf, vor ihm fiel sie ins Bodenlose. Drei Schritte weiter links aber öffnete sich die dunkle Grotte. Er zwang seine zitternden Knie, diese drei Schritte zu gehen.
*
Im Halbdunkel der Grotte traten ihm drei bärtige Gestalten entgegen; kleiner als er selbst, aber so kräftig gebaut, daß jeder wohl doppelt so breit war wie er. Ihre grimmigen Mienen verhießen nichts Gutes. An den Gürteln steckten kurzstielige Äxte, der vorderste hielt eine gespannte Armbrust bereit.
Das waren Zwerge, erinnerte sich Sorla, es fiel ihm aber nicht gleich ein, wann und wo er schon solche gesehen hatte. Er versuchte ein freundliches Lächeln und sagte: "Atne sei mit euch!"
Der mit der Armbrust schob die buschigen Brauen noch dichter zusammen, so daß zwischen ihnen und der klobigen Nase die Augen fast nicht mehr zu sehen waren. Mit der Armbrust machte er eine Bewegung, die Sorla aufforderte, aus der Grotte zu verschwinden, möglichst schnell, und wenn er dabei über den Felssims ins Tal stürzte, na wenn schon.
Unter dem herabhängenden Schnauzbart hervor sprach er zu seinen Kumpanen etwas in einer seltsam kehligen Sprache. Diese verfielen in kurzes, bärbeißiges Lachen. Dann starrten sie alle drei Sorla an, in Erwartung seines schleunigen Rückzuges.
Als Sorla aber den Zwerg reden hörte, fühlte er sich in seine Kindheit bei den Gnomen zurück versetzt: die Gute Sprache der Berge war es und er kannte sie, auch wenn sie hier einen ungehobelten Klang verliehen bekam, den sie bei den feinsinnigen Gnomen nicht hatte. Und was der Zwerg sagte, war: "Wenn sich der Drachen-Günstling einschüchtern läßt, erspart uns das Umstände!"
Sorla antwortete in derselben Sprache: "In vielen Liedern wird die Unfreundlichkeit der Zwerge beklagt." Er hielt inne, um die Wirkung seiner Worte zu prüfen. Der vorderste Zwerg hatte die Armbrust ganz sinken lassen, alle drei standen mit offenen Mündern da.
"Ihre Tapferkeit aber hörte ich oft loben", fuhr Sorla fort. "Und tapfer müßt ihr sein, wenn ihr es mit dem DRACHEN verscherzen wollt." Noch immer glotzten ihn die Zwerge offenmäulig an.
"Doch um euch zu zeigen, daß ich nicht nur die Gute Sprache der Berge beherrsche, sondern auch die Grundregeln der Höflichkeit unter Fremden kenne, will ich euch meinen Namen nennen. Ich bin Sorle-a-glach, Sohn der Taina aus dem Geschlecht der Liarstil, welche Fürstin der Sidhlande ist."
Der vorderste Zwerg strich sich über den Bart und stopfte das Ende sorglich unter dem Gürtel fest. "Wisse", sagte er, "vor dir steht Furoltin, Sohn des Hurmothin. Dort stehen meine Vettern Orgslingir und Trolslingir, Söhne meines Onkels Ygrottir." Die genannten Zwerge senkten jeweils kurz das Haupt, daß sich die Bärte nach vorne bauschten, und schauten dann wieder starr in Sorlas Gesicht. "Es hat uns überrascht zu hören", fuhr Furoltin fort, "daß du die Gute Sprache der Berge beherrschst, wenn auch in dem verweichlichten Klang, der in den Gnomlanden üblich ist. Noch mehr aber erstaunt uns, daß du deinen Mutternamen, nicht aber den deines Vaters nanntest. Ist er so geschmäht in seinem Volke, daß du ihn nicht zu nennen wagst? Oder kennst du ihn womöglich gar nicht?"
Orgslingir und Trolslingir lachten beifällig in ihre Bärte. Sorla biß sich auf die Zähne, denn er begriff die Absicht Furoltins; wenn es zum Streit kam, brauchten sie ihm keine Gastfreundschaft anzubieten und - wie er es vorher ausdrückte - sparten sich Umstände.
"Mein Vater ist Tok-aglur, weithin berühmt als Meister seines Berufs", sagte er. "Um ihn im Hernostischen Kaiserreich aufzusuchen, bin ich unterwegs. Ich ersuche um eure Gastfreundschaft und um eure Hilfe beim Durchqueren der Grauen Berge."
"Was für einen Beruf übt dein Vater denn aus?" fragte Furoltin. Immerhin entspannte er nebenbei seine Armbrust und nahm den Bolzen wieder heraus.
Sollte Sorla ihnen gestehen, daß er ein Dieb sei? Oder ihnen etwas von einem Fürsten oder Heerführer vorlügen? Er straffte sich, blickte Furoltin ins Auge und sagte: "Mein Vater ist ein Dieb, einer der größten aller Zeiten."
"Ein Dieb!" wiederholte Furoltin und wandte sich seinen Vettern zu. "Ein Dieb!" murmelten Orgslingir und Trolslingir. Weiter sprachen die Zwerge nichts; sie blickten unter ihren buschigen Augenbrauen prüfend herüber und winkten ihm mitzukommen. Er folgte mit unguten Vorahnungen.
Es ging durch eine Reihe verwinkelter Stollen und Höhlen tief in den Berg. An Abzweigungen und gefährlichen Stellen blakten Fackeln an den Höhlenwänden, dazwischen aber lagen weite Strecken fast völliger Finsternis. Ein normaler Mensch wäre hier blind und hilflos hinter seinen Führern her gestolpert, aber Sorla hatte von seiner Mutter die Elfensicht geerbt und bewegte sich fast ebenso sicher wie die hier heimischen Zwerge.
Einmal hielt Furoltin ihn am Arm fest, und Sorla erkannte undeutlich vor sich eine Felskante, dahinter herrschte Finsternis. An der kalten Luft, die ihm entgegen wehte, und der Weise, wie sich die Geräusche ohne Widerhall verloren, erahnte er, wie tief der Abgrund vor ihm sein müsse.
"Burothrir!" rief Furoltin. "Bring uns rüber, beim Barte Brothenfimpirs!"
Diese Worte weckten in Sorla undeutliche Erinnerungen. Brothenfimpir, so hatten ihm einst die Gnome erzählt, war ein sagenhafter Zwergenheld, der aber in den Überlieferungen der Gnome eine eher zweifelhafte Rolle spielte. Doch weshalb kam ihm der Name Burothrir so vertraut vor?
Da klang aus der Dunkelheit weit über ihm ein leises Ächzen, das allmählich lauter wurde, näher kam und sich mit knarrenden, rumpelnden Geräuschen mischte. Jetzt senkte sich in Sorlas Blickfeld eine Plattform, drehte sich langsam, sank weiter, und nun sah Sorla auch das Seil, an dem sie hing und das sich nach oben in der Dunkelheit verlor.
"Halt an, Burothrir!" rief Furoltin. "Hältst du uns für Fledermäuse? Sollen wir der Brücke hinterher flattern?"
Orgslingir und Trolslingir lachten bärbeißig; auch aus der Finsternis über ihnen erscholl, durch die Entfernung gedämpft, ein behäbiges Hohoho.
Die Plattform blieb mit einem Ruck vor ihnen schweben; Furoltin sprang hinüber und packte eines der vier Seile, durch welche die Ecken mit dem eigentlichen Halteseil verknüpft waren. "Los, Sorle-a-glach!" rief er, und als Sorla zögerte, den Sprung über den Abgrund zu tun, rief er: "Beim Barte Brothenfimpirs! Sollen wir uns die Beine in den Steiß stehen?" Sorla sprang, kam auf der schwankenden, sich drehenden Plattform an und umklammerte mit beiden Händen eines der Seile. Orgslingir und Trolslingir folgten, Furoltin rief: "Auf geht's, Burothrir!" und ruckend wurde die Plattform nach oben gezogen, wobei sie sich in der Finsternis drehte und langsam hin und her schwankte. Das Seil knisterte, von oben ächzte es bedenklich; Sorla wurde schwindelig vor Angst; nie zuvor hatte er ein Seil so inbrünstig umklammert wie jetzt.
Als die Plattform mit einem Ruck anhielt, öffnete er wieder die Augen und erkannte zwei Armlängen entfernt einen Felsvorsprung, beleuchtet von einer Fackel. Dort stand ein Zwerg und beobachtete sie. Furoltin aber kniete am Rand der Plattform, packte etwas, das dort angebracht war, und hob es an: eine Eisenstange, die am hinteren Ende mit einem Ring an der Plattform befestigt war und vorne einen Haken hatte. Den Haken dieser Stange versenkte er in einem Loch auf dem Felsvorsprung. Das gleiche tat Orgslingir mit einer ähnlichen Stange an der zweiten Ecke der Plattform. Jetzt schwankte die Plattform nicht mehr, war aber noch immer durch zwei Armlängen Abgrund vom sicheren Fels getrennt.
"Auf geht's, Sorle-a-glach!" rief Furoltin. "So viel Aussicht gibt's hier nicht, daß du so lange schauen mußt!"
"Ich dachte, die Plattform wird näher an den Felsvorsprung gezogen. Wozu die Stangen?"
Der Zwerg gegenüber erklärte: "Höre, Fremder. Eine Plattform ist kein Fels. Von einem Felsen kannst du wegspringen und weißt, wo du landest. Wenn du von dieser Plattform wegspringst, weicht sie nach hinten aus, und du fällst in die Tiefe. Deshalb die Stangen. Damit du nicht Fledermaus spielst!" Auch die anderen Zwerge fielen in sein Lachen ein.
"Und nun springe, beim Barte Brothenfimpirs!" rief Furoltin.
*
Erst nachdem Sorla einige Atemzüge lang an der Felswand gelehnt und seine zitternden Knie beruhigt hatte, schlug er die Augen auf und sah sich um. Furoltin beobachtete ihn, Orgslingir und Trolslingir aber waren verschwunden. Der vierte Zwerg bediente ein Rad, das über zwei Zahnkränze mit einer großen Seilwinde verbunden war, und als von tief unten ein "Halt an, Burothrir!" erscholl, ließ er eine Sperre einrasten. So etwas hatte Sorla noch nie gesehen. Kurz darauf ertönte von unten: "Zieh sie hoch, Burothrir!" und dieser begann das Rad in der entgegengesetzten Richtung zu drehen, bis die Plattform wieder schemenhaft in der Dunkelheit auftauchte. Der Zwerg legte die Sperre ein und wandte sich Sorla zu, dabei legte er die Hand auf den Griff seiner kurzstieligen Axt.
"Ich bin Burothrir, das wirst du schon gehört haben." Er strich sich über seinen roten Gabelbart, dessen beide Zipfel in kunstreichen Knoten endeten. "Furoltin sagt mir, du seist Sorle-a-glach, Sohn des Diebes Tok-aglur."
Sorla nickte.
Burothrir packte seine Axt fester. "Wie kommt es, Sorle-a-glach, daß du dich meiner nicht erinnerst? Oder bist du nicht der, für den du dich ausgibst?"
"Natürlich bin ich es!" erboste sich Sorla. "Wer denn sonst?" Und nach kurzem Nachdenken: "Dein Name, Burothrir, kam mir vertraut vor, doch weiß ich nicht woher."
"Wir trafen uns am Norfell-Fluß, ich und Durethin und Thorandir, meine Vettern. Es sind wohl sechs Jahre her."
"Damals war ich erst neun oder so!" verteidigte sich Sorla. "Ich habe vieles inzwischen vergessen."
"Seltsam! Du warst ein tapferes Kind. Dein Begleiter, Girsu der Dunkle, war des Lobes voll über dich."
Girsu! Der wortkarge, zuverlässige Gnom trat plötzlich vor Sorlas Augen, und mit ihm jener Aufenthalt am Flußufer: Sie wuschen sich den stinkenden Dreck der Chrebilhöhlen, aus denen sie geflohen waren, vom Körper; da tauchten am Ufer drei Zwerge auf.
"Jetzt erinnere ich mich", sagte Sorla. "Auch an eine kleine Frau, die mir Süßigkeiten gab. Und Flasse, den habe ich später wieder getroffen."
"Die waren bei uns", nickte Burothrir. Er ließ den Griff der Axt fahren und gab Sorla die Hand: "Willkommen unter den Grauen Bergen, Sorle-a-glach!"
*
Wie viele Zwerge insgesamt hier lebten, konnte Sorla nicht feststellen; dreißig bis vierzig, schätzte er, denn so viele hatte er bisher kennen gelernt und immer wieder gesehen, es mochte aber noch weitere geben. Sie durchstreiften Gänge und Klüfte, trieben neue Stollen in den Berg, oft viele Tagereisen voneinander entfernt, förderten Erze und andere Mineralien.
Eisen und Kupfer gab es mehr, als die Zwerge brauchten, auch Zinn konnte nach Bedarf abgebaut werden. Wenn sie Quarze oder edle Steine fanden, dann waren sie es auch zufrieden. Was sie suchten und in einigen Gegenden gefunden hatten, waren silberführende Erzgänge. Aber wovon sie wirklich träumten, das war Gold. Wenn sie dieses Metall erwähnten, glomm in ihren Augen eine Gier auf, die Sorla erschreckte.
Er war nun schon über eine Woche hier; zumindest war das sein Eindruck, denn es gab unter Tage keine festen Schlafenszeiten; jeder schlief, wenn er erschöpft war, ansonsten arbeitete er in einem Stollen, in der Schmiede oder beim Verhütten der Erze. Doch alle versicherten Sorla, daß "zu Hause" - und das war nicht hier, sondern irgendwo tief in den Weißen Bergen - die Zwerge ein gemütliches Leben bei Met, Gesang und Zwerginnen führten. Allerdings war kaum einer in den letzten fünfzig Jahren dort gewesen, so daß ihre Erzählungen wohl eher ihre Sehnsucht hier als die Wirklichkeit dort bezeichneten.
Zwerginnen gab es hier nicht, Met und Gesang wenigstens ab und zu. Das erste große Gelage fand zwei Tage nach Sorlas Ankunft statt. Zwei Dutzend Zwerge waren aus den entferntesten Stollen zusammengekommen und hockten an langen Tischen in einer rußigen Halle, die sonst als Schmiede diente, zwischen zwei großen Feuern, über denen allerlei Fleisch an Spießen briet. Die Tische bestanden nur aus Brettern, die über Holzböcke gelegt waren. Jeder hielt einen hölzernen Humpen mit Met in der einen und ein Stück Brot oder Fleisch in der anderen Faust. Auf Regalen an der Wand aber standen viele zinnerne Krüge; doch als Sorla fragte, weshalb man nicht diese benutze, wurde ihm erklärt, bei Streitigkeiten litten die Zinnkrüge allzu schnell Schaden, während Holzhumpen einen Zwergenschädel eher aushielten. In den Weißen Bergen allerdings trinke man stets aus zinnernen und sogar silbernen Krügen; die Silberschmiede dort hätten viel zu tun.
Offensichtlich war Sorlas Eintreffen der eigentliche Grund für das zahlreiche Erscheinen der Zwerge, was ihn verwunderte.
"Ich will doch nur auf die andere Seite der Grauen Berge", sagte er zu Burothrir. Dieser nickte beruhigend und winkte zugleich ab, weil er damit beschäftigt war, die silbernen Bartklammern, mit denen der Schnauzbart daran gehindert wurde, in den Met einzutauchen oder sich am Bratenfett zu beschmutzen, geschickter anzubringen. Nun kamen auch Durethin und Thorandir, die Sorla damals mit Burothrir zusammen am Norfell-Fluß traf. Sie begrüßten ihn herzlich und legten ihre Bärte sorglich zurecht.
Am unteren Ende des Tisches entstand Unruhe. Als Sorla aufblickte, sah er einen weißbärtigen Zwerg die Halle betreten. Über der Schulter trug er eine langstielige Streitaxt, die er sorgsam abstellte, bevor er sich ebenfalls am Tisch niederließ. Alles schwieg ehrerbietig, während er einen Humpen Met zum Munde führte und leer trank.
"Wo ist der Fremdling?" rief er dann mit tiefer Stimme.
Burothrir stieß Sorla in den Rücken, und dieser stand auf.
"Komm her!"
Sorla trat näher heran.
"Dein Vater sei ein Dieb, höre ich."
Da das keine Frage war, schwieg Sorla.
"Du habest ihn sogar als Meister seines Faches gerühmt, sagte mein Sohn."
Jetzt reichte es Sorla. "Ich weiß nicht, wer dein Sohn ist", versetzte er. "Ich weiß nicht einmal, wer du bist. Ich jedenfalls heiße Sorle-a-glach."
Ringsum herrschte atemlose Stille bis auf einen Methumpen, der irgendwo abgestellt wurde. Der Weißbart stutzte, lachte und rief in die Runde: "Er hat ja recht! Nicht jeder kann mich kennen!" Doch seine Augen waren hart, als er, zu Sorla gewandt, hinzufügte: "So wisse, Milchbart, daß ich Hurmothin bin, genannt der Schlächter, berühmt in den Weißen und den Grauen Bergen!"
Sorla warf einen Seitenblick auf die Streitaxt.
"Ja, schau sie dir an! Viele Sorten Blut habe ich sie kosten lassen, und sie ist noch lange nicht satt!" Er lachte.
"Ich bin beeindruckt, Hurmothin."
"Das Kämpfen ist wohl nicht deine Sache, oder?"
"Man schlägt sich so durch." Sorla trat von einem Bein aufs andere, weil er nicht recht wußte, worauf das alles hinauslaufen sollte. Am liebsten hätte er sich wieder gesetzt und friedlich an seinem Bratenstück gekaut.
Aber Hurmothin war noch nicht fertig: "Du sollst ja schon als Kind recht flink und geschickt gewesen sein, hörte ich. Vielleicht hast du das von deinem Vater." Er legte ein Stück Braten vor sich auf den Tisch und stellte sich einen Schritt weit dahinter auf, die Streitaxt in beiden Händen: "Kannst du mir dieses Fleischstück wegnehmen, bevor ich mit meiner Axt dazwischen fahre?"
"Wenn ich es nicht schnell genug schaffe, ist meine Hand zerhackt, richtig?"
"Längs oder quer, je nachdem", nickte Hurmothin. "Du kannst natürlich ablehnen, diese Probe zu machen. Dann kennen wir nicht deine Geschicklichkeit, aber deinen Mut." Die anderen Zwerge lachten bärbeißig, besonders Furoltin, der von der Nebenbank her bewundernd auf seinen Vater blickte. Burothrir aber schaute bedenklich; Durethin und Thorandir flüsterten aufgebracht miteinander.
"Und wenn ich es schaffe, Hurmothin, was bekomme ich?"
"Oho, eine Wette! Der Milchbart rechnet sich Chancen aus!" Er warf ein großes Goldstück auf den Tisch: "Hier, das soll der Preis sein!"
"So viel Gold!" murmelten einige Zwerge; das ließ Sorla aufhorchen. "Ich will einen Schiedsrichter!" rief er. "Vielleicht Burothrir - er soll das Goldstück verwahren und mir hinterher aushändigen."
"Du bist sehr zuversichtlich!" lachte Hurmothin. "Soll Burothrir den Schiedsrichter spielen!"
Burothrir trat heran. "Verehrter Hurmothin!" sagte er. "Diese Wette ist ein grober Scherz und nicht im Sinne der Gastfreundschaft."
"Laß nur, Burothrir", wehrte Sorla ab. "Meine Hände sind so flink, da kann nichts schiefgehen."
"Wie du willst." Burothrir nahm das Goldstück, trat zurück und rief: "Es gilt!"
Sorla begann hin und her zu tänzeln, wobei er seine Handgelenke und Finger lockerte. Hurmothin blickte scheinbar unbeteiligt geradeaus, tatsächlich aber, wie Sorla merkte, unter seinen buschigen Brauen hervor ihm genau in die Augen. Sorla fiel ein, wie er in der Diebesgilde von Seedorf mit den anderen Lehrlingen Abende lang ähnliche Spielchen getrieben hatte. Er zuckte mit dem Ellbogen, doch Hurmothin blieb von der Finte unbeeindruckt.
Plötzlich trat Sorla von unten gegen das Brett, das den Tisch bildete. Das Bratenstück flog in die Höhe. Gleichzeitig sauste die Axt hernieder, noch bevor sich das Brett eine Handbreit gehoben hatte, und verschwand bis zum Stiel darin- hätte Sorla das Fleisch ergreifen wollen, seine Hand wäre verloren gewesen. So aber fing er es in der Luft auf und humpelte ein paar Schritte weiter, denn von dem Tritt schmerzten seine Zehen fürchterlich.
Hurmothin stellte den Stiefel auf das Brett, um seine Axt herauszuwuchten. "So war es nicht abgemacht", murrte er. "Du hast nicht hingegriffen. Wir wiederholen das Spiel, oder ich will mein Gold zurück."
"Hier ist das Fleisch!" rief Sorla. Er wedelte mit dem Bratenstück über den Köpfen der Zwerge: "Ich habe den Preis verdient!"
"Er hat recht, verehrter Hurmothin", erklärte Burothrir. "Sorle-a-glach mußte nicht tun, was du dachtest, daß er tun würde. Du bist stark, er aber ist gewitzt."
"Hört, hört!" riefen Durethin und Thorandir.
"Er ist ein Dieb und Sohn eines Diebes." Hurmothin wandte sich um und verließ, die Streitaxt geschultert, die Halle. Burothrir aber überreichte Sorla das Goldstück: "Hier, Sorle-a-glach! Du hast den Wettkampf gewonnen!"
"Es war nicht gerecht!" schrie Furoltin und schlug den Humpen so hart auf den Tisch auf, daß der Met herausschwappte. "Mein Vater wurde betrogen - der größte Held der Zwergenschaft genasführt von einem hergelaufenen, feigen Diebesbalg!"
Durethin sprang auf. "Wer ist feige?" erboste er sich. "Ist es feige, gegen Hurmothin und seine Streitaxt anzutreten? Dein Vater andererseits: in welche große Gefahr begab denn er sich?"
Furoltin packte Durethin am Bart: "Nennst du meinen Vater feige?"
"Laß meinen Bart los, du Troll!" Damit krachte Durethins Methumpen auf Furoltins Schädel.
Dieser schlug mit seinem Trinkgefäß zurück; so heftig, daß der Henkel abbrach. Burothrir warf sich schlichtend dazwischen, geriet in einen Fausthieb von Furoltin, der ihm gar nicht galt, und haute als Antwort diesem beide Fäuste von links und rechts auf die Ohren.
Orgslingir und Trolslingir, die einige Reihen weiter saßen, kletterten jetzt über Bänke, Tische, Zwerge, um sich auf in die Schlägerei zu stürzen. Sie trafen auf Thorandir, der sich bisher beiseite gehalten hatte, weil Furoltin schon zwei Gegner hatte. Er schlug ihre Köpfe zusammen, sie aber packten ihn und warfen ihn einen Tisch weiter auf Zwerge, die noch ihre Ruhe bewahrten.
Jetzt sprangen auch diese mit aufgebrachtem "Beim Barte Brothenfimpirs!" herbei, und trafen auf jene, über die Orgslingir und Trolslingir hinweg getrampelt waren. Nun riß es auch die letzten ins Getümmel, denn keiner wollte sich lumpen lassen.
Sorla zog sich vorsichtig an die Wand zurück, wobei er gelegentlich herumfliegenden Trinkgefäßen auswich, und verkroch sich in einer der Nebenhöhlen in der ihm zugewiesenen Schlafnische.
*
"Wach auf, Sorle-a-glach!" Burothrir rollte den schlaftrunkenen Sorla aus der Schlafnische, daß er auf den Felsboden polterte. "Der König will dich sehen!"
Sorla durfte seine Stiefel anziehen und austreten, aber nichts essen, denn "Wenn der König ruft, so eilen wir", wie Burothrir mahnte.
"Wo wohnt der König?" fragte er, während er Burothrir durch lange Stollen hinterher eilte. Dieser aber rannte weiter, abwärts, aufwärts, durch Grotten und Hallen; Wege, die Sorla nicht kannte und alleine auch nicht zurückfinden würde. Schließlich kamen sie zu einer kleinen Kammer, in der eine Öllampe brannte.
"Hier!" sagte Burothrir, aber da war kein König, nur ein seltsam ausgeschmückter Kreis auf dem Boden: "Ein Brückenzeichen!"
"Und wo ist die Brücke?"
"Das Zeichen selbst ist die Brücke, Sorle-a-glach. Es wird uns zum König bringen. Nun tritt herein, am besten gleichzeitig mit mir."
Burothrir packte ihn am Ellbogen und zog ihn mit sich auf dieses Muster. Da verging ihm Hören und Sehen, er schien zu schweben, zu fallen; und als er wieder auf festem Boden stand und seine Augen sich an das gleißende Licht gewöhnte, sah er, daß sie am Eingang einer riesigen Halle standen, deren Boden mit silbrigem Gespinst ganz bedeckt war.
"Tretet hier entlang!" flüsterte ein würdig geschmückter Zwerg und wies ihnen einen kleinen Holzsteg, der als Brücke über das Silbergespinst hinweg in die Halle hineinführte.
"Diese Zwerge hier sehen ganz anders aus", bemerkte Sorla, während sie die Stufen zum ersten Holzsteg betraten.
"Dies sind die Dienenden Zwerge", erklärte Burothrir. "Sie kümmern sich um die Verwaltung und das Wohl des Königs."
"Dann bist du ein grabender Zwerg?"
"Beinahe richtig. Wir heißen Schürfende Zwerge. Auch gibt es Kämpfende Zwerge - denke nur an Hurmothin - und Forschende Zwerge und viele andere Berufe."
"Könnte ein Kämpfender Zwerg nicht zugleich auch einer sein, welcher schürft?"
"Natürlich. Die meisten Dienenden Zwerge waren früher Forschende Zwerge, die meisten Kämpfenden haben zunächst geschürft. Auch ein Forschender Zwerg muß kämpfen können, und ein Dienender Zwerg wird das Schürfen nie verlernen."
"Aha. Und was machen die Frauen?"
"Welche Frauen?"
"Nun, eure Zwergenfrauen."
Burothrir blieb stehen und warf ihm einen mißtrauisch bösen Blick zu. "Soll das ein Witz sein?"
"Wieso?" stammelte Sorla, überrascht von dem Stimmungsumschwung des sonst so umgänglichen Zwerges. Dieser aber hatte sich wieder weggewandt und stapfte wortlos weiter. Sorla folgte ihm, wobei ihm Dutzende von Erklärungsversuchen für das Verhalten Burothrirs durch den Kopf wirbelten, einer merkwürdiger als der andere.
Das strahlende Licht in der riesigen Halle rührte nicht von Fackeln oder Öllampen her, sondern von leuchtenden Steinen, welche die Wände der Halle bedeckten. Der Boden der Halle war kreuz und quer mit Stegen und Plattformen versehen, so daß die Dienenden Zwerge, die überall geschäftig umher eilten, sich berieten, Bücher schleppten und Schreibarbeiten erledigten, das silberne Gespinst nicht berührten, das neben und unter den Stegen wucherte.
"Was geht hier vor?" fragte Sorla.
"Das ist die Königshalle!" antwortete Burothrir, halbwegs beruhigt.
"Und weshalb wächst hier solches Zeug am Boden?"
Burothrir sah ihn entsetzt an. "Das ist der königliche Bart!"
Sorlas Blick folgte der Hauptrichtung der Strähnen und Locken und bemerkte erst jetzt auf einer erhöhten Plattform den König selbst: eine kleine, unförmige Gestalt, von welcher der weiße Bart nach allen Richtungen wucherte, den ganzen Boden der Halle bedeckte und in Ausläufern an den Wänden emporkroch. Wo das Haupt war, ließ sich durch die goldene Krone vermuten. Wenn man genauer hinsah, konnte man aber zwischen Goldreif und Bartansatz auch die blitzenden Augen unterscheiden.
"Und weshalb ist der Bart so lang?" fragte Sorla.
"Durch diesen Bart ist unser König mit dem Berg verbunden!" Burothrirs Stimme zitterte vor Ergriffenheit. "So zieht er Kraft aus den Urtiefen der Berge! Er ist schon undenkbar alt!"
Beeindruckt blickte Sorla wieder zur Plattform hin. Dort standen - in gebührendem Abstand zum Thron - Hurmothin mit seiner Streitaxt und ein Sorla unbekannter Zwerg, der sich auf einen langstieligen Hammer lehnte und in dunkel schimmernde Rüstung gehüllt war.
"Das ist Ygrottir, Hurmothins jüngerer Bruder", wisperte Burothrir Sorla zu. "Auch ein berühmter Kämpfender Zwerg!"
"Man sieht's!" flüsterte Sorla beeindruckt zurück. "Aber was tun die hier?"
Schon wurden sie von einem weißbärtigen Dienenden Zwerg herangewinkt und stellten sich neben Ygrottir und Hurmothin, die Augen erwartungsvoll in Richtung Thron und König gerichtet. Sorla überlegte, ob er sich verbeugen solle, aber da Burothrir aufrecht stehenblieb, hielt er es genau so und wartete ab.
Der Weißbart hob die Arme. "Hört die Worte des Königs, oh Zwerge und Nichtzwerge!" Alles verstummte, jeder einzelne Zwerg in der Halle blieb, wo er stand, wie angewurzelt stehen und wandte sein Gesicht dem Throne zu.
Zwischen den wuchernden Wellen des königlichen Bartes tauchte eine Hand auf, um einem der Dienenden Zwerge zuzuwinken. Die Ringe blitzten im Dämmerschein der Halle. "Erkläre du es ihnen, mein Sohn", murmelte die Stimme unter dem Bart hervor. Der Dienende Zwerg nickte und trat an den Thron heran.
"Höret den Willen des Königs!" rief er. "Tief in den Weißen Bergen, am Grunde der Kluft, in welche der unterste der ehemals silberführenden Stollen mündet, haust ein Ungeheuer, dessen Schätze wir begehren. Der wackere Argslokir wagte sein Leben und fand dort den Tod, desgleichen Jahrdutzende später der berühmte Rasathir. Dieser ließ dort unten seinen wunderbaren 'Ring, der die Kälte bannt'. Nun ist es des Königs Wille, daß ihr zu dritt hinuntergeht und die Schätze hebt."
"Wer ist der dritte? Etwa Burothrir?" fragte Ygrottir.
"Sorle-a-glach, der junge Mensch hier."
"Was soll der Dieb uns taugen?" murrte Hurmothin.
Der Dienende Zwerg runzelte verweisend die Stirn, so daß sich die Brauen abwärts und die Schnauzhaare aufwärts sträubten. "Der König hörte mit Interesse, daß Sorle-a-glach die Wette gewann, die du ihm aufdrängtest, oh Hurmothin. Er scheint Fähigkeiten zu besitzen, die euch nützen mögen."
"Aber ..."
"Es ist des Königs Wille!" unterbrach ihn der Zwerg. Aus dem königlichen Barte murmelte es: "So ist es. Ihr dürft euch entfernen, meine Kinder. Und vergeßt vor allem nicht Rasathirs wunderbaren Ring!"
*
"Mir paßt das gar nicht", flüsterte Sorla Burothrir zu, während sie über die Holzstege zurückgingen. Hurmothin und Ygrottir stapften murrend und murmelnd weiter voraus. "Ich dachte, ihr bringt mich auf die östliche Seite der Grauen Berge, wie es mit dem DRACHEN ausgemacht war. Stattdessen soll ich hier gefährliche Aufträge ausführen."
"Du hast die Grauen Berge bereits verlassen, Sorle-a-glach", antwortete Burothrir. "Das Zeichen, auf das du tratest, brachte dich hierher - wohl hundert Meilen nach Nordosten. Dies hier sind die Weißen Berge. Unsere Verpflichtung gegen den DRACHEN haben wir erfüllt."
"Was soll ich hier?" rief Sorla erbost. "Ich will hier raus, und zwar schnell!"
Burothrir schüttelte bedenklich den Bart. "Hier gilt der Wille des Königs. Dem kannst du dich nicht widersetzen."
"So mächtig wirkte er gar nicht, Burothrir. Er hat zwar einen erstaunlichen Bart, aber was leistet er sonst?"
"So darfst du nicht reden, Sorle-a-glach. Er ist unser König und verwachsen mit dem Herz der Berge!"
Sorla zuckte die Achseln. "Das nützt mir nichts. Ich kann hier doch nicht ewig bleiben!"
Burothrir reckte sich, um ihm ermutigend auf die Schulter zu schlagen. "Zeige Hurmothin und Ygrottir, daß du mehr kannst als Met trinken."
Also fügte sich Sorla und trottete eine halbe Stunde später hinter den beiden Kämpfenden Zwergen her - abwärts durch Stollen, manchmal beleuchtet und voll Schürfender Zwerge, manchmal dunkel und verlassen. Hurmothin ging voraus, lautstark mit seinem Bruder über die Zumutung redend, die Begleitung eines Diebes ertragen zu müssen. Sorla hielt sich in einigem Abstand hinter ihnen. Je tiefer sie kamen, desto seltener sahen sie andere Zwerge, desto häufiger tasteten sie sich im Lichte von Hurmothins Laterne, die dieser am Gürtel trug, durch verlassene Gänge, deren verschimmelte Stützbalken kein Vertrauen erweckten. Einmal hangelten sie sich einen abgeteuften Schacht hinab, als sich unter Hurmothins Gewicht ein Trittstein löste.
"Beim Barte Brothenfimpirs!" murrte er, hatte sich aber bereits einige Sprossen tiefer wieder gefangen.
"Wie wäre es, wenn wir uns anseilen?" schlug Sorla vor.
Ygrottir klang abfällig. "Willst du uns halten, Dieb?"
"Nein, ich könnte vorausgehen, oder klettern wie jetzt. Ich bin der Leichteste und recht geschickt. Ich könnte die Gefahren erkunden, die uns bevorstehen."
"Ein kluger Vorschlag!" sagte Hurmothin. "Wenn du fällst, können wir das Seil ja immer noch loslassen."
"Und wenn dich ein Troll frißt, dann wünschen wir ihm gute Mahlzeit", ergänzte Ygrottir.
Die beiden Brüder lachten in herzhaftem Baß, dann meinte Hurmothin: "Nur Zwerge kennen sich unter Tage aus, Dieb. Bleib hinter uns, da störst du am wenigsten."
So blieb es bei der bisherigen Marschordnung, auch als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Sorla zuckte die Achseln und ging im hellblauen Schimmer seines Gnomensteins hinterher. Da ihn der Gedanke an hungrige Trolle nicht losließ, leuchtete er in alle Klüfte und hinter alle Vorsprünge, wo ein solcher lauern könnte. Trolle fand er nicht, aber in einem Spalt, an dem die Zwerge achtlos vorbei gestapft waren, sah er etwas funkeln. Er bückte sich und glaubte kurz eine winzige Gestalt zu sehen, kaum fingerlang; ihr daumennagelgroßes Gesichtchen schaute ihn an, ein klitzekleiner Dolch, den das Wesen im Gürtel trug, blitzte im Widerschein des Glygi. Im nächsten Moment war alles weg; Sorla starrte in eine leere dunkle Ecke. "Nanu, Kleines!" flüsterte Sorla verblüfft. "Wo steckst du?" Doch das Wesen blieb verschwunden.
Sie kamen an einen Belüftungsschacht, der senkrecht in die Tiefe führte. Hurmothin stieg als erster hinab. Nur mit einer Hand hielt er sich an den eisernen Leitersprossen fest, immer rasch zur nächsttieferen weitergreifend, denn mit der anderen hielt er die Streitaxt. Ygrottir folgte; wegen seines Streithammers hatte auch er nur eine Hand für die Sprossen frei. Sorla kletterte als letzter in den Schacht.
"Gebt acht!" brummte Hurmothins Baß von unten. "Das Zeug ist verrostet!" Zum Beweis rüttelte er an der Leitersprosse, an welcher er gerade hing. Diese löste sich, Hurmothin stürzte in die Tiefe. Einen Atemzug später und einige Klafter tiefer hatte er sich wieder gefangen; er hing sicher an seiner langstieligen Streitaxt, die er im Fallen quer im Schacht verkeilt hatte.
"Beim Barte Brothenfimpirs!" schimpfte er. "Das war knapp!"
"Verehrte Zwerge!" meldete sich Sorla zaghaft von oben. "Ich möchte meinen Vorschlag wiederholen."
Nach kurzem Schweigen meinte Ygrottir: "Wir sollten es mal versuchen, mein Bruder. Der Dieb ist vielleicht umsichtiger, das mag uns nützen. Auch hat er beide Hände frei."
Hurmothin brummte etwas, das auf Sorla immer noch eher feindselig wirkte, aber Ygrottir schien es als Zustimmung zu deuten. Er winkte Sorla zu sich herab, band ihm ein Seilende um die Brust und ließ ihn an sich vorbei zu Hurmothin hinabsteigen. Dieser drückte sich wortlos an die Schachtwand, so daß Sorla weiter hinab klettern und die Führung übernehmen konnte.
Sorla prüfte im Weiterklettern die Sprossen auf ihre Sicherheit und meldete jede lose nach oben, insgesamt immerhin vier. Auch schaute er in alle Spalten und hielt immer wieder inne, um zu lauschen. Schließlich sah er im hellblauen Schimmer seines Gnomensteins einige Klafter tiefer das Ende des Schachtes. Er mündete dort in einen Gang, der in beide Richtungen weiterführte.
Leider fehlten hier sämtliche Sprossen; Sorla sah, daß er hinabspringen mußte.
"Halt!" flüsterte eine silberhelle Stimme an seinem Ohr. "Nicht springen!"
Sorla konnte niemanden entdecken, aber wieder flüsterte etwas neben seinem Ohr: "Unten warten zwei Hurgloks auf dich, einer links, einer rechts. Sie sind hungrig."
"Was ist ein Hurglok?" flüsterte Sorla ins Leere, denn noch immer konnte er den Sprecher nicht ausmachen.
"Du wirst ihnen nicht begegnen wollen."
Das war als Auskunft nicht erschöpfend, aber Sorla flüsterte zurück: "Danke für die Warnung, mein unsichtbarer Freund!" Dann kletterte er wieder nach oben zurück.
"Was soll das, Dieb?" murrte Hurmothin, als Sorla bei seinen Stiefeln ankam.
"Dieser Schacht mündet in einen Gang. Man muß die letzten Klafter hinabspringen, weil die Sprossen fehlen."
"Und?" höhnte Hurmothin. "Das traust du dich nicht?"
"Dort lauern zwei Hurgloks."
"Hurgloks?" Hurmothins Stimme bebte. "Zwei Hurgloks?" Und von weiter oben kam Ygrottirs gedämpfter Baß: "Beim Barte Brothenfimpirs! Zwei Hurgloks?"
Sorla nickte, aber anscheinend hatte die Frage gar nicht ihm gegolten, denn schon kam Ygrottir zu ihnen herab geklettert, machte sich von dem Seil los, das ihn mit Sorla verbunden hatte, und stieg weiter zu Hurmothin hinab. Sie berieten sich, aber zu leise, als daß Sorla sie verstanden hätte. Er sah, wie sie sorgfältig ihre Bärte in den Gürteln feststopften und dann nebeneinander den Schacht in die Tiefe kletterten bis zu dem Punkt, wo die Sprossen aufhörten. Sorla kletterte vorsichtig hinterher, denn er wollte alles sehen. Die beiden Brüder hingen mit ihren linken Händen gemeinsam an der letzten Sprosse und hielten ihre Waffen in der jeweils anderen. Jetzt nickten sie einander zu und sprangen in die Tiefe, die Rücken einander zugewandt. Im Fallen packten sie ihre Waffen mit beiden Fäusten und holten schon zum Schlag aus, bevor sie unten ankamen.
Aus den Gängen rechts und links schnellte je eine riesige Hand hervor, um die Zwerge zu packen - so riesig, daß jede von ihnen einen Zwerg umgreifen und zerquetschen konnte. Doch schon war die eine von Hurmothins Streitaxt zerspalten, die andere von Ygrottirs Streithammer zermalmt.
Wieder schnellten zwei Pranken heraus, doch die beiden Zwerge waren zur Seite gesprungen und ließen ihre Waffen auf die ins Leere greifenden Finger niedersausen. Ein doppelstimmiges Geheul erscholl; schrill und so widerwärtig, daß Sorla vor Schreck fast den Halt verlor.
Hurmothin und Ygrottir sprangen, ihre Waffen über den Häuptern wirbelnd, in die Gangmitte zurück und rückten in die ihnen jeweils zugewandte Gangöffnung vor. Sorla sah, wie sie zuschlugen, noch einmal und ein weiteres Mal, wobei das Geheul immer schriller und gräßlicher wurde und beim dritten Schlag verstummte.
Nach einiger Zeit, während der die Stille Sorla in den Ohren klang, erscholl Ygrottirs Baß: "Beim Barte Brothenfimpirs! Solch einen Spaß habe ich schon lange nicht mehr gehabt!"
"Sehr wahr, Ygrottir!" antwortete Hurmothin. "Diese Hurgloks sind verdammt schnell. Aber wir haben ihnen einen Tanz geliefert!"
"Wenn sie uns überrascht hätten, wären wir zerquetscht worden, bevor wir 'Brothenfimpir' hätten sagen können!"
Beide Zwerge lachten bärbeißig.
"Aber wenn unser Dieb hinuntergesprungen wäre, wären wir gewarnt gewesen", prustete Ygrottir und schlug seinem Bruder auf den Rücken.
"Falsch, Ygrottir!" grölte Hurmothin. "Sie hätten ihn so schnell gefressen, daß wir nichts bemerkt hätten. Wir wären ihr Nachtisch geworden!"
Sie mußten sich an der Gangwand stützen, um nicht vor Lachen umzufallen. Sorla stand verwundert dabei. Als sie sich erholt hatten, hoben sie ihre Waffen auf, kletterten über den Haufen abgeschlagener Hurglok-Gliedmaßen und marschierten in eine der beiden Gangöffnungen hinein. Sorla folgte ihnen; er warf einen Blick auf die getöteten Hurgloks, doch waren diese dermaßen zermalmt und in Stücke gehauen, daß ihre ursprüngliche Gestalt nicht mehr festzustellen war.
Nach einigen Stunden öffnete sich der Gang in eine riesige Höhle - keine Wand, keine Decke, kein Boden zu sehen, nur Finsternis.
"Hier war mal eine Seilbrücke", brummte Hurmothin.
"Nein, eine Strickleiter", widersprach Ygrottir.
"Das war die Seilbrücke, nachdem sie am anderen Ende abriß."
"Das wußte ich nicht. Ich stand leider nicht drauf, als das geschah."
"Ich auch nicht!" lachte Hurmothin und schlug Ygrottir auf die Schulter.
Als die beiden sich beruhigt hatten, meinte Hurmothin, sie könnten ja Sorla an einem Seil festbinden und herumschwingen, "bis er etwas hat."
"Oder bis etwas ihn hat!" schrie Ygrottir und haute Hurmothin auf die Schenkel.
Als auch dieses Gelächter verebbte, sagte Sorla: "Verehrte Zwerge, ich schlage vor, daß wir hier eine Rast einlegen und ich anschließend versuche, diese Höhle zu erkunden. Ich bin im Klettern recht geübt und kann hier wohl nützlich sein."
"Er redet geschwollen wie ein verdammter Gnom!" brummte Hurmothin.
"Aber er hat recht", entgegnete Ygrottir. "Und die Sache mit den Hurgloks hat er gut gemacht." Hurmothin brummte eine widerwillige Zustimmung. Damit war es abgemacht. Sie breiteten ihre Decken aus, aßen, tranken, drehten die Dochte der Laternen herunter und legten sich schlafen.
*
Sorla erwachte von einem leisen Zirpen in seiner Nähe. Sein Glygi erglomm und badete die Umgebung in wohlvertrautes hellblaues Licht, doch nichts war zu sehen, von dem das Zirpen hätte herrühren können. Es mochten Mäuse sein, dachte er, oder irgendwelche höhlenbewohnende Insekten.
Die beiden Zwerge schliefen noch. Sollten sie doch; das Kundschaften war ja Sorlas Sache. Er schlang sich zwei Seile um den Oberkörper, befestigte ein drittes an einem eisernen Haken - der rührte noch von der Seilbrücke her - und seilte sich vorsichtig in die Tiefe ab. Als er das Ende des Seils erreicht hatte, schwang er sich daran nach rechts und links, um die Felswand näher zu erkunden, und fand so einen Vorsprung, von dem aus ein Sims weiter in die Dunkelheit führte. Hier befestigte Sorla das Seilende, um sich den Rückweg zu erleichtern, und machte sich - ungesichert und daher um so vorsichtiger - daran, dem Sims zu folgen.
"Warte!" flüsterte in seiner Nähe dieselbe silberhelle Stimme, die ihn vor den Hurgloks gewarnt hatte. "Ich möchte dir etwas vorschlagen."
"Gut", antwortete Sorla leise. "Aber wer bist du?"
Da sah er nahebei, doch außerhalb seiner Reichweite, jene winzige Gestalt sitzen, die er letztlich überrascht hatte: kaum fingerlang vom braungelockten Köpfchen bis zu den bloßen Füßchen, umhüllt von einem grob gewebten Gewand, in dessen Gürtel der klitzekleine Dolch blitzte.
"Easmil bin ich", sagte das Geschöpf, "ein Fürstensohn vom Volke der Minhiol. Man kennt uns als das 'Kleine Volk'."
Sorla lächelte. "Und ich bin Sorle-a-glach, ein Fürstensohn vom Volke der Sidh."
"Wir scheinen einiges gemeinsam zu haben", entgegnete Easmil ernst, "vielleicht auch ähnliche Schwierigkeiten, da wir beide nicht zu Hause sind."
Sorla nickte. "Ich suche meinen Vater und weiß nicht genau, wo er ist."
"Da habe ich es leichter, Sorle-a-glach. Ich suche nur die Krone meines Vaters, um sein Nachfolger zu werden; und ich weiß genau, wo sie ist."
"Wozu brauchst du dann mich?"
Easmil lächelte. "Du hast einen Gnomenstein. Es ist bekannt, daß Gnome und deren Freunde ihr Wort halten. Deinen Begleitern würden wir nicht trauen."
"Aber wieso brauchst du Hilfe, wenn du weißt, wo du suchen mußt?"
"Weil Ogluskshaddena auf der Krone sitzt und wir sie nicht vertreiben können."
"Ogluskshaddena?"
"Das Ungeheuer, das ihr besiegen sollt, um seine Schätze dem Zwergenkönig zu bringen. Diese Zwerge kennen nicht einmal seinen Namen, doch von den Schätzen, die sie dort holen wollen, haben sie eine genaue Vorstellung. Seit Tagen redet der Zwergenkönig kaum über etwas anderes."
"Woher weißt du das alles?"
Easmil lächelte bescheiden. "Schon lange halten wir uns im unterirdischen Reich der Zwerge auf, denn ich habe gelobt, nicht ohne die Krone meines Vaters ans Sonnenlicht zurückzukehren. Wir kennen inzwischen jeden Winkel hier. Wir waren auch dabei, als der Zwergenkönig mit euch sprach, und haben euch seither begleitet." Er entfaltete Flügel - wie die von dunklen Schmetterlingen - und schwebte zu einer Nische hoch, wo Sorla auf einmal eine Gruppe ähnlicher kleiner Wesen entdeckte. "Du mußt wissen, Sorle-a-glach", fuhr Easmil fort, "daß wir nicht nur fliegen können und daher schneller sind als du und deine Zwergenkumpane, sondern daß wir uns jederzeit vor den Blicken anderer Wesen verbergen können, selbst wenn wir dicht bei ihnen sind."
Sorla nickte. "Ich hab's gemerkt. Und was ist der Vorschlag, von dem du redetest?"
"Falls die Zwerge Ogluskshaddena bezwingen, werden sie uns die Krone nicht geben wollen. Wenn du uns hilfst, die Krone meines Vaters zu beschaffen, werden wir dir helfen, das Zwergenreich zu verlassen. Denn glaube nicht, daß der Zwergenkönig dich freiwillig ziehen läßt!"
"Bei Ak'men! Wieso nicht?" empörte sich Sorla.
"Wir hörten, wie er sich mit anderen Zwergen beriet. Einen geschickten Dieb kann er immer brauchen."
"Ohne mich! Easmil, deinen Vorschlag nehme ich an!"
Easmil wandte sich an seine Gefolgsleute, um ihnen dies mitzuteilen. Er sprach in seltsam zirpenden Geräuschen, denn, wie er Sorla erklärte, "die Gute Sprache der Berge ist nicht die unseres Volkes und nur wenige Minhiol verstehen sie."
Er und Easmil besiegelten ihre Abmachung, indem Easmil seine Handflächen gegen die von Sorla drückte, was nicht ganz einfach war: Easmil mußte seine Arme auseinander strecken, um Sorlas Handflächen, die dieser dicht zusammen gelegt hatte, zu erreichen. Easmils Gefolgsleute begleiteten dies mit jubelndem Gezirpe.
Ab da war alles recht einfach, denn die Minhiol kannten sich ja aus. Der Sims, den Sorla entlang klettern wollte, hätte sich als Sackgasse erwiesen; stattdessen rieten sie ihm, an das erste Seil ein zweites anzuknüpfen und sich daran zum Boden der riesigen Höhle hinabzulassen. Dort lagen die Reste der alten Seilbrücke. Sorla flickte und verknotete, was auszubessern war, verstärkte alles mit dem übrigen dritten Seil und befestigte die so entstandene Strickleiter am Ende seines Kletterseiles, an dem er anschließend zu den Zwergen hochkletterte.
"Aha!" rief Ygrottir. "Unser Dieb kehrt von seinem Ausflug zurück!" Die beiden Zwerge saßen schmausend beisammen und sahen Sorla erwartungsvoll entgegen, als er über die Felskante zu ihnen hoch klomm.
"Er kommt mit leeren Händen", murrte Hurmothin.
"Helft mir, dieses Seil hochzuziehen", sagte Sorla, "dann seht ihr, was ich mitgebracht habe!"
Das taten sie, und es war recht mühsam. Doch als schließlich die Strickleiter in Sicht kam, mußte selbst Hurmothin zugeben, daß diese für ihr weiteres Fortkommen nützlich sei.
"An einem Seil zu hangeln wäre nicht meine Sache gewesen", stimmte sein Bruder zu, "und an der senkrechten Wand herumzuklimmen wie eine Spinne schon gar nicht. Ich hatte mir deshalb schon Sorgen gemacht!"
Also befestigten sie die Strickleiter an dem eisernen Haken, rollten die beiden Seile wieder zusammen und machten sich auf den Weg. "Der Dieb voran!" sagte Ygrottir, vielleicht aus Mißtrauen, vielleicht weil sich diese Reihenfolge den Zwergen als sinnvoll erwiesen hatte. Sorla war es einerlei.
Am Boden aber übernahm Hurmothin wieder die Führung. Er schien sich auszukennen, obwohl innerhalb des schwankenden Lichtscheins seiner Laterne nur Felstrümmer und feuchtes Geröll auftauchten und jenseits alles finster war. Nach einigem mühseligen Klettern und Kriechen tauchte eine Felswand im Laternenschein auf.
"Aha!" sagte Hurmothin befriedigt. Er wies auf eine senkrechte Felsspalte: "Dort geht's hinein!"
Ygrottir hob die Hand. "Wir sollten vorsichtig sein. Wenn ich jemandem auflauern wollte, würde ich es dort drin tun. Der Spalt ist nicht mal breit genug, daß wir unsere Waffen schwingen können."
Auch Sorla hatte ein ungutes Gefühl. Er war in der Wildnis aufgewachsen und hatte geschärfte Sinne; irgendwie lag Gefahr in der Luft.
Hurmothin schien es jetzt ebenfalls zu spüren. "Stimmt, Ygrottir", brummte er. "Der Dieb soll nachsehen."
"Mache ich", sagte Sorla, obwohl sich ihm die Haare sträubten. "Ihr solltet euch rechts und links von dieser Spalte aufstellen, ohne daß man euch von drinnen sieht. Vielleicht komme ich gleich wieder herausgerannt und brauche eure Hilfe."
"Guter Vorschlag", nickte Ygrottir.
Hurmothin brummte etwas in seinen weißen Bart und nickte ebenfalls.
Sorla näherte sich vorsichtig der Felswand und untersuchte bei jedem Schritt den Boden nach möglichen Spuren. Ihm fiel auf, daß neben einigen kleineren Felsblöcken Vertiefungen im Mergel waren, in welche diese Felsen genau paßten. Sie waren also umgekippt oder beiseite gerollt worden. Wer sollte das tun? Vielleicht war auch etwas sehr Schweres über die Steine geschleift worden. Oder ein Wesen mit riesigen Füßen war hier entlang geschlurft! Sorla sträubten sich wieder die Haare.
Sieben Schritte vor dem Felsspalt blieb Sorla stehen, um zu lauschen. Zunächst fiel ihm nichts auf, erst als sein Herzklopfen sich beruhigt hatte und der Atem ganz flach ging, hörte er, wie der Felsspalte leise Geräusche drangen, die er aber nicht sofort benennen konnte. Er wollte noch genauer hinhorchen, da flüsterte hinter ihm Hurmothin: "Der Dieb traut sich nicht hineinzugehen!"
"Vielleicht ist er im Stehen eingeschlafen!" kicherte Ygrottir leise. Er schien sich dabei umgedreht zu haben, denn ein Lederriemen seiner Rüstung knarrte.
Da gab Sorla es auf zu lauschen, auch konnte er nicht mehr darauf hoffen, daß, falls dort drinnen etwas lauerte, sie es überraschen könnten. Stattdessen ließ er den Glygi vorausschweben und den Spalt vor ihm erhellen. Nichts Beunruhigendes war zu sehen; der Boden der Felsspalte bestand aus Geröll und war halbwegs eben, so daß sich zwischen den glatten Wänden ein schmaler Weg ergab, der nach hinten ins Dunkle führte. Seitlich vom Eingang führten verwitterte Felsstufen irgendwohin nach oben.
"Was sind das für Stufen?" fragte er Hurmothin, der ihm inzwischen so dicht hinterhergekommen war, daß er ihm ins Genick schnaufte.
"Dort oben endete früher die Seilbrücke", gab dieser widerwillig Auskunft. Und Ygrottir ergänzte: "Hier kamen wir runter, wenn wir zu den Silberstollen wollten, die weiter vorne im Felsspalt sind."
"Genug geschwatzt!" murrte Hurmothin und setzte sich an Sorla vorbei in Bewegung. Ygrottir folgte ihm. Sorla zögerte, denn er hatte das unklare Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Als aber der Schein von Hurmothins Laterne sich immer weiter in den Felsspalt entfernte, eilte er hinterher. Die Zwerge schritten unbekümmert aus, das Geröll knirschte unter ihren Stiefeln. Sorla konnte sich gut vorstellen, wie gering sie seine vorigen Versuche des behutsamen Erkundens und Lauschens einschätzten. Einmal hörte er auf dem Weg hinter sich ein Geräusch - oder glaubte es zu hören - doch da weiter nichts geschah, schloß er wieder zu den Zwergen auf. Daß sein Glygi aufgehört hatte zu leuchten, hätte ihm allerdings zu denken geben müssen. Doch fiel es ihm nicht auf, da er nur darauf achtete, was im Schein von Hurmothins Laterne zu sehen war.
So war er genauso überrascht wie die beiden Zwerge, als plötzlich von hinten jemand schrie: "Bleibt stehen, ihr Schwachköpfe!"
Sorla fuhr herum und blickte auf drei Speerspitzen, die auf seinen Bauch zielten. Dahinter waren undeutlich Gestalten von Zwergen zu erkennen, und über deren Köpfen ragten weitere Speere bedrohlich empor.
Im nächsten Augenblick ertönte von vorne der Befehl: "Keine Bewegung, Schwachköpfe! Ihr seid umzingelt!"
Auch dort, Sorla sah es undeutlich, standen mehrere Reihen Zwerge, von denen die drei vordersten ihre Speere auf Hurmothin richteten.
"Beim Barte Brothenfimpirs!" schrie dieser. "Wilde Zwerginnen!" Schallendes Hohngelächter beantwortete diesen Wutausbruch.
"Wir müssen uns durchschlagen!" knurrte Hurmothin und versuchte seine Streitaxt zu schwingen. Doch die Felswände standen zu eng beieinander, zudem verlief an dieser Stelle der Spalt nach oben nicht senkrecht, sondern schief, so daß Hurmothin mit seiner Axt in keiner Richtung zurecht kam. Neues Hohngelächter quittierte seine Bemühungen.
"Ergebt euch lieber!" schrie jemand von hinten. "Eure Bärte seid ihr los, lebendig oder tot! Ihr könnt's euch aussuchen, ihr Schwachköpfe!"
"Sie hat recht, mein Bruder", murmelte Ygrottir. "Wir sitzen in der Falle. Eine, zwei könnten wir verwunden, bestenfalls, bevor sie uns mit ihren Speeren fertigmachen. Es ist auch nicht heldenhaft, gegen Frauen zu kämpfen."
"Das sind keine Frauen!" murrte Hurmothin. "Das sind Ungeheuer! Sie wollen unsere Bärte und vielleicht noch mehr!"
Sorla, angesichts der drei auf ihn gerichteten Speerspitzen, versuchte sich unauffällig hinter Ygrottir zurückzuziehen, denn dieser hatte ja Rüstung und Streithammer. Da rief eine der vorderen Zwerginnen, deren pralle rote Zöpfe Sorla schon aufgefallen waren: "He, du schmächtiger Stecken! Was bist denn du für einer? Zu einem richtigen Zwerg jedenfalls taugst du nicht!"
"Es ist ein junger Mensch", antwortete Ygrottir, der sich an Sorla vorbei nach vorne drängte. "Laßt ihn zufrieden, er hat euch nichts getan. Und einen Bart kann er euch auch nicht bieten."
Die Rotzöpfige lachte. "Ein Bart ist nicht alles!"
Die Zwergin neben ihr, massig gebaut und wohl die Anführerin, rief unwillig: "Genug davon! Ihr Schwachköpfe sollt euch ergeben, sonst kriegt ihr unsere Speere in die Bäuche!"
"Einige von euch müßten vorher dran glauben!" rief Ygrottir. "Wollt ihr das wirklich?"
"Was wir wollen", erwiderte die Anführerin, "ist, euch Schwachköpfe um eure Bärte winseln zu sehen."
"Beim Barte Brothenfimpirs!" knirschte Hurmothin. "Nur über meine Leiche!"
So standen sie sich gegenüber, und einige Atemzüge geschah gar nichts. Sorla flüsterte Ygrottir zu: "Sind alle Zwerginnen so wie diese hier?"
"Oh nein!" antwortete dieser. "Die meisten sind gezähmt. Sie wissen, was sich gehört, brauen Met, ziehen Zwergenbälger groß und lassen sich keine Bärte wachsen."
Erst jetzt, als er genauer hinsah, fiel Sorla auf, daß die Zwerginnen außer ihrer üppigen Kopfbehaarung, die sie zumeist in Form dicker Zöpfe gebändigt hatten, genug Bartflaum aufwiesen, um mit richtigen Bärten prahlen zu können. Die eine hatte einen kleinen Knebelbart, die andere einen hübsch geflochtenen Schnurrbart und so weiter.
Als auch weiterhin nichts geschah, als daß die Zwerginnen mit ihren Speeren drohten, während Ygrottir und Hurmothin ihre Waffen abwehrbereit hielten, beschloß Sorla, eine kleine Rede zu halten:
"Verehrte Zwerginnen und Zwerge! Gestattet einem Nichtzwerg, der vielleicht eure Bräuche und Probleme nicht gut genug kennt, einige Worte zu sprechen. Dies hier ist eine verfahrene Lage. Die Zwerginnen können nichts erzwingen, ohne selber Opfer zu beklagen, und die Zwerge werden sich nicht ergeben. Das kann jetzt lange so bleiben und uns aufhalten, obwohl wir alle Besseres zu tun hätten. Auch scheint mir, daß im Grunde keiner dem anderen wirklich ans Leder will. Das Vernünftigste wäre sicher, wir gingen stillschweigend auseinander und vergäßen den Vorfall. Aber offensichtlich geht es um Fragen der Ehre. Also schlage ich vor, diese friedlich zu klären, und zwar bald. Mir scheinen, wie ich die zwergische Wesensart einschätze, Zweikämpfe ohne Waffen ein brauchbarer Weg."
Nach kurzem Schweigen sagte die Anführerin: "Das war geredet wie ein Gnom, geschwollen. Aber dumm war's nicht. Zwei unsrer Besten sollen gegen die beiden Schwachköpfe kämpfen, ohne Waffen natürlich, und nach unserem Sieg schneiden wir euch die Bärte ab."
"Beim Barte Brothenfimpirs!" empörte sich Hurmothin. Und Ygrottir rief: "Wir siegen natürlich! Was gibt's bei euch dann abzuschneiden?"
Da meldete sich die rotzöpfige Zwergin zu Wort: "Dann lassen wir das mit den Bärten. Mir wäre was anderes sowieso lieber. Ich schlage vor, wer den Kampf verliert, muß dem Sieger einen Monat lang dienen und zu Willen sein. Und das Beste dabei ist: dann krieg' ich meinen Spaß, egal ob ich verliere oder gewinne! Ich melde mich auch zum Ringkampf!"
Einige andere Zwerginnen kicherten zustimmend, auch hörte Sorla eine murmeln: "Und die anderen gehen leer aus? Das ist gemein!"
"Unsinn!" fuhr die Anführerin dazwischen. "Uns geht's nicht um Spaß, sondern um die Würde Wilder Zwerginnen! Die Vorstellung, einem Schwachkopf zu Willen sein zu müssen, ist unerträglich. Lassen wir es bei den Bärten. Und wenn die unseren nicht so stattlich sind wie der Schwachköpfe, so sind wir doch genau so stolz darauf. Wir können aber stattdessen auch unsere Zöpfe anbieten."
Die meisten Zwerginnen nickten zustimmend, andere wollten ihre Zöpfe nicht aufs Spiel setzen. Sorla flüsterte Ygrottir zu: "Ihr solltet dem zustimmen! Sonst zieht sich das hin, bis wir einschlafen; aber die Zwerginnen können umschichtig wachbleiben, dann haben sie uns sowieso."
Ygrottir flüsterte zurück: "Stimmt. Sag das auch Hurmothin!"
Dieser ließ sich ebenfalls überzeugen, und so wurden die Zweikämpfe beschlossen. Die Zwerginnen gaben den Weg zurück zu der großen Höhle frei, wo sich die beiden Gruppen gegenüber aufstellten.
"Wie auch immer die Kämpfe ausgehen", rief die Anführerin den Zwergen zu, "es wird nie vergessen werden, wie wir euch Schwachköpfe in die Falle gelockt haben!"
"Ich verstehe, daß eine Hälfte von ihnen sich weiter vorne in der Kluft aufhielt", flüsterte Ygrottir Sorla zu. "Aber wo waren diejenigen versteckt, die hinter uns auftauchten?"
"Oberhalb dieser Felsstufen hier", erwiderte Sorla unglücklich. "Ich hätte es wissen müssen." Und da ihn dies an eine andere offene Frage erinnerte, wandte er sich an die Anführerin der Zwerginnen: "Weshalb habt ihr all die Felsen hier umgestoßen?"
"Wir haben ein Goldstück gesucht, das eine mal hier versteckte. Deswegen kamen wir überhaupt hierher."
"Und habt ihr's gefunden?"
"Ja, Atne sei's gepriesen!"
Das brachte Sorla auf eine Idee, die er aber vorläufig für sich behielt.
*
"Möge die Bessere gewinnen!" rief die Anführerin und eröffnete damit die Kämpfe. Sie selbst trat gegen Hurmothin an, weil dessen weißer Bart ihr ein besonderes Ärgernis war. Sie legten Waffen und Rüstung ab und traten in den Ring, der in den Mergel geritzt worden war. Hurmothin stand breitschultrig und stämmig auf seinen kurzen Beinen da, doch hatte die Anführerin gewiß den doppelten Umfang, was an ihren massigen Brüsten lag, die durch einen starken Gürtel auf Hüfthöhe beisammen gehalten wurden.
"Komm her, Schwachkopf!" verhöhnte sie Hurmothin. "Oder hast du Angst?"
"Tolles Weib!" knurrte dieser. "Laß dich züchtigen!" Er trat vorwärts, um sie zu packen und umzuwerfen. Aber so breit war sie, daß er sie nicht umfassen konnte. Sie sprang beiseite, packte ihn beim Bart und zog ihn einmal im Kreise herum. Die umstehenden Zwerginnen johlten.
Überraschend gelang es ihm aber, ihren Arm zu packen, nach hinten zu drehen und mit einem Knie ihren Hintern anzuheben, daß sie hilflos mit den Beinen in der Luft strampelte. "Ergibst du dich?" rief er, aber da hatte sie in erstaunlicher Gelenkigkeit ihre Beine über ihren Kopf geworfen und mit ihnen den seinen in die Zange genommen.
Beide plumpsten zur Seite, aber sie ließ nicht locker, er mochte sich wenden, wie er wollte. Zudem hielt sie wieder seinen Bart gepackt und rief: "Ergib dich selbst, oder ich reiße dir den Bart strähnenweise aus!" Das war ein klarer Sieg, wie selbst Ygrottir zugeben mußte, und Hurmothin stellte sich geschlagen zur Seite.
Gegen Ygrottir trat eine jüngere Zwergin an, die rotzöpfige mit den eigenwilligen Vorschlägen.
"Komm, laß uns tanzen, Süßer!" rief sie und faßte nach seinen Händen. Er entwand sich ihrem Griff und packte sie um den Leib, um sie aus dem Stand zu heben.
"Dann eben anders!" rief sie, wobei sie ihr Knie hochriß und ihn so hart an empfindlicher Stelle traf, daß er, die Hände zwischen die Beine gepreßt, umher tanzte. Die anderen Zwerginnen jubelten.
"Gut getanzt!" rief sie und klatschte. Das war ihr Fehler, denn ihm gelang es, ihre beiden Hände zu packen und sie über sein Bein stolpern zu lassen, daß sie auf den Bauch fiel. Er sprang ihr auf den Rücken und drückte ihren Kopf in den Mergelmatsch.
"Ergib dich!" rief er, aber da sie mit dem Gesicht im Dreck nicht antworten konnte, ließ er ihren Kopf wieder los. Mit Schwung dreht sie sich zur Seite, so daß er von ihrem Rücken fiel, und sprang ihm auf den Bauch: "Ha, mein Süßer!"
Ygrottir zog ihre Füße weg, so daß sie erneut in den Dreck fiel, sprang auf und riß sie an den Zöpfen hoch. Nun warf er sie sich über die Schultern, Rücken an Rücken, hielt sie an den Zöpfen und ließ sie hilflos strampeln.
"Ergib dich, kleine Raubkatze!" rief er, und nachdem er sie einmal im Kreis herumgetragen hatte, ohne daß sie etwas anderes tun konnte als zappeln und schimpfen, mußten die Zwerginnen eingestehen, daß Ygrottir den Sieg errungen hatte.
"Nun geht's ans Bärteabschneiden!" rief die Anführerin und ging, einen Dolch in der Rechten, auf Hurmothin zu.
"Halt!" rief da Sorla. Er hielt das Goldstück, das er von Hurmothin gewonnen hatte, in die Höhe und drehte es, daß es im Schein der vielen Laternen so richtig funkelte: "Mit diesem Gold will ich Hurmothins Bart freikaufen!"
"Eine Goldmünze!" und "Die ist ja riesig!" wisperten die Zwerginnen, welche Sorla umdrängten. Die Anführerin aber schob sie beiseite und sagte barsch: "Laß sehen!"
Sorla sah, wie es in ihr arbeitete. Schließlich sagte sie: "Einem Schwachkopf die Manneszierde abzuschneiden ist süß. Aber Gold ist doch besser." Sie schnappte sich das Goldstück aus Sorlas Hand und wandte sich brüsk ab.
Hurmothin glotzte überrascht. Er kratzte sich den Kopf, faßte einen Entschluß, blieb wieder stehen und ging dann doch auf Sorla zu, vor dem er sich aufbaute. "Ich weiß, nicht, warum du das getan hast, Dieb", murrte er, "aber ich schulde dir etwas." Damit wandte er sich ab und hatte nicht einmal gelächelt.
Nun war es an Ygrottir, sich seinen Siegespreis zu holen. Er stand vor der Zwergin, befühlte ihre dicken Zöpfe und rief dann: "Wie sind diese Zöpfe schön an dir! Ich will großzügig sein; wenn Hurmothin, mein älterer Bruder, seinen Bart behielt, so will ich dir deine Zöpfe nicht nehmen!"
Da warf sie jauchzend ihre Arme um seinen Hals und hing lange an ihn geklammert, während er verlegen da stand und zunehmend errötete.
*
Die Wilden Zwerginnen waren ihrer Wege gegangen - alle außer Borletgar, der rotzöpfigen jungen Zwergin. Sie hatte beschlossen, bei Ygrottir zu bleiben, "vorläufig", wie sie betonte.
Sie schlugen schon jetzt ihr Nachtlager auf, denn viel war an diesem Tage geschehen, was bedacht und besprochen sein wollte. Es kam dann aber doch nicht zu gemeinsamen Gesprächen, denn Ygrottir und Borletgar hatten Augen und Hände nur für einander. Manchmal kniete sie vor ihm und strählte andächtig seinen Bart, manchmal kniete er hinter ihr und flocht versonnen ihre Zöpfe. Sie fütterten sich gegenseitig, und Ygrottir, der berühmte Held der Zwergenschaft, benahm sich dabei so unwürdig einfältig, daß Hurmothin Verächtliches in seinen Bart murmelte. Natürlich suchten die beiden auch eine abgeschiedene Schlafstatt auf, denn, wie Borletgar es ausdrückte, "was wir treiben, dürft ihr beide euch nur vorstellen!"
"Frauen bringen Unglück!" murrte Hurmothin. "Der König stellt uns eine Aufgabe, bei der schon zwei Helden ihr Leben ließen, und mein kleiner Bruder denkt nur an alberne Zärtlichkeiten!"
Sorla wußte dazu nichts zu sagen, was Hurmothin beruhigt hätte, und dachte vor dem Einschlafen lieber über den vergangenen und den kommenden Tag nach. Merkwürdig schien ihm beispielsweise, daß Easmil und seine Minhiol ihn nicht vor dem Hinterhalt der Wilden Zwerginnen gewarnt hatten. Auch zweifelte Sorla, ob Hurmothin sich über den Gefallen, den Sorla ihm mit dem Freikauf seines Bartes tat, wirklich freute. In der Schuld eines Diebes zu stehen schien Hurmothins Ehre anzukratzen. Nun gut, um so unbekümmerter würde Sorla bei Gelegenheit diese Schuld einfordern. Das brachte ihn zum kommenden Tag. Es galt, Ogluskshaddena ihrer Schätze zu berauben, was vermutlich erforderte, sie vorher zu töten. Daran waren schon andere Zwergenhelden gescheitert. Man mußte also einen anderen Weg finden als nur loszustürmen und draufzuschlagen, was ja die Stärke von Zwergenhelden war. Und danach, so hatte Sorla Easmil zugesagt, würde er den Zwergen die Krone der Minhiol wieder abnehmen müssen. Das schien ihm fast noch schwieriger als Ogluskshaddena zu berauben, auch würde es ihm die Feindschaft der Zwerge nicht nur in den Weißen Bergen zuziehen. Über den vielen fruchtlosen Überlegungen dazu schlief Sorla endlich ein.
Er erwachte von einem Zirpen dicht an seinem Ohr.
"Verdammte Ratten!" brummte Hurmothin, der neben ihm lag. "Wie soll man bei ihrem Pfeifen schlafen?" Damit drehte er sich um und schlief wieder ein. Sorla aber stand auf und ging hinter einen Felsblock, vorgeblich um Wasser abzuschlagen.
Da erschien auch schon der Prinz der Minhiol.
"Gut, daß du da bist, Easmil!" flüsterte Sorla. "Weshalb habt ihr uns gestern nicht gewarnt?"
"Wir dachten nicht, daß andere Zwerge eine Gefahr sein könnten, Sorle-a-glach. Wir beobachteten aber mit Vergnügen, wie du die Schwierigkeiten überwandest. Wenn du auch heute so viel Geschick und Geistesgegenwart zeigst, müßte uns der ersehnte Erfolg beschieden sein!"
"Ich hatte Glück. Doch ob mir Atne weiterhin so hold ist, oder Ak'men, ihr Neffe, das ist fraglich."
"Meine Leute und ich werden ein Gebet an sie richten."
"Tut das. Und ich werde Atne ein Opfer bringen." Er dachte an frühere Gelegenheiten, wo er oder seine Mutter etwas Wertvolles von sich warfen - dem Zufall anheim stellend, damit zu tun und zu lassen, was er wollte - zog den Beutel, in dem er seine Münzen verwahrte, vom Gürtel und begann ihn am Riemen herumzuwirbeln.
"Ist das deine ganze Barschaft?" flüsterte Easmil verdutzt.
"Sicher. Mit Atne mache ich keine halben Sachen. Sie war mir in der letzten Zeit auch sehr gewogen." Er schwang den Beutel am Riemen herum. "Mein Dank für dich, Atne!" flüsterte er und ließ den Beutel fahren, der in hohem Bogen in der Dunkelheit der Halle verschwand.
Gleich darauf ertönte ein schmerzlicher Aufschrei, ein allgemeiner Aufruhr, gefolgt von gräßlichem Heulen, das sich einige Atemzüge lang steigerte und röchelnd verebbte.
"Was habe ich getan?" fragte Sorla entsetzt. Doch Easmil war verschwunden, stattdessen kam Hurmothin angerannt und rief: "Ygrottir! Wie geht es euch?"
"Danke, alles erledigt!" kam dessen Stimme aus der Gegend, in welche Sorlas Geldbeutel geflogen war.
Als Sorla und Hurmothin dort ankamen, sahen sie Borletgar und Ygrottir, beide nur leicht bekleidet, aber blutbespritzt, neben ihrem Schlafplatz stehen. Ygrottir hielt noch den Streithammer in den Händen, Borletgars Speer steckte im Bauch eines Trolls, der tot und riesig vor ihnen lag.
"Es war merkwürdig!" berichtete Ygrottir. "Etwas Schweres fiel auf den Kopf meines Zopfschneckchens, äh, Borletgars. Davon wachte sie auf, das weckte mich. Und das war unser Glück, bei Atne! Denn da stand dieser Troll und hielt uns für sein Futter." Er lachte bärbeißig. "Ich muß schon sagen, Borletgar und ihr Speer haben ganze Arbeit geleistet!"
"Du übertreibst, mein Goldstück!" flüsterte sie verlegen. "Das meiste hast doch du getan mit deinem Hammer!"
Und als die beiden ihre Sachen zusammenräumten, rief Ygrottir aus: "Sieh mal, Sorle-a-glach, dein Geldbeutel! Den hast du hier verloren!"
"Sicher nicht", winkte dieser ab.
"Doch, ich sah ihn gestern genau, als du die Goldmünze hervorholtest. Das ist er! Welch ein Glück, daß wir ihn wieder haben!"
Sorla steckte ihn dankend ein und mußte sich danach erst einmal setzen.
*
Sie waren wieder in dem Felsenspalt, wo die Wilden Zwerginnen ihren Hinterhalt gelegt hatten. Hurmothin ging mit seiner Laterne voraus und leuchtete in jeden der zahlreichen Silberstollen, die hier abgingen. Ihm folgte Borletgar, die sich ständig nach Ygrottir umdrehte. Sorla folgte in einigem Abstand, denn er wollte sich mit Easmil bereden.
"Easmil, ich habe Angst vor dem, was heute noch geschieht!"
"Weshalb, Sorle-a-glach? Welches Glück du hast, das haben wir vorhin gesehen!"
"Es war zuviel! Statt mein Opfer einfach anzunehmen, rettet sie zwei meiner Begleiter, die dem Tode geweiht waren, auf ungewöhnliche Weise. Ich glaube, sie hat diesen Troll nur hergeführt, damit wir ihre Macht bewundern."
"Das ist doch nicht schlimm, oder? Jeder weiß, wie launisch die Glücksgöttin ist."
"Eben! Und mir obendrein den Geldbeutel wieder zurück zu geben - es ist mir unheimlich."
Nach einiger Zeit, in der Sorla seinen Gedanken nachhing, während Easmil rücksichtsvoll schweigend auf seiner Schulter saß, raffte er sich auf und sagte: "Genug davon. Was für ein Wesen ist diese Ogluskshaddena, Easmil?"
"Riesig groß, wie ein Pilz oder ein Schleim, und wahrscheinlich ebenso dumm. Aber ich bin da nicht so sicher. Sie war schon immer hier, oder zumindest eine sehr lange Zeit. All diese Schätze, welche die Zwerge jetzt heben wollen, hat sie nicht etwa gesammelt, sondern sie sind liegen geblieben als Reste ihrer Opfer."
"Dann hättet ihr doch unsichtbar hinabfliegen und euch die Krone holen können; oder ist sie zu schwer?"
"Keinesfalls, wir könnten sie durchaus tragen. Einer meiner Leute flog auch hinunter, um sie zu suchen, doch als er Ogluskshaddena zu nahe kam, verdorrten seine Flügel, und er stürzte in den Tod."
"Sind es ihre Ausdünstungen, die sie so gefährlich machen?"
"Für das Kleine Volk sicherlich. Ob für große Leute wie dich und die Zwerge, das wissen wir nicht. Jedenfalls ist sie kaum zu töten. Sie besteht ja nur aus Schleim und zähen Fasern, sie hat weder Kopf noch Herz, weder Knochen noch Gedärm; wo also soll man sie treffen?"
"Du machst mir wirklich Mut, Easmil."
Sorla holte zu Ygrottir auf und fragte diesen, was die Zwerge über das Ungeheuer wüßten, das sie zu töten beabsichtigten.
"Was muß man schon wissen?" entgegnete Ygrottir. "Es ist sehr groß, aber mein Bruder und ich sind erfahrene Kämpfer, und nun ist auch noch Borletgar zu uns gestoßen. Da müßte es zu schaffen sein, beim Barte Brothenfimpirs!"
"So habt ihr keinen Plan, wie ihr vorgehen wollt?"
"Wie üblich - drauf und dran!" Er lachte bärbeißig, und Borletgar wandte sich bewundernd zu ihm um.
"Ihr solltet klüger vorgehen als jene, die vor euch kamen! Drauf und dran reicht nicht!"
Jetzt drehte sich Hurmothin um und rief zurück: "Gib Ruhe, Dieb, und schwatze nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst!"
Sorla seufzte.
Bald nach diesem Wortwechsel erweiterte sich die Kluft, und sie mußten über Geröll steil abwärts klettern. Je tiefer sie kamen, desto wärmer wurde es. Die Luft war neblig, und die Felsen glitzerten vor Feuchtigkeit. Schließlich kamen sie an eine Kante, hinter welcher der Felsen senkrecht abfiel. Sorla und die Zwerge legten sich auf ihre Bäuche und blickten vorsichtig über den Rand in die Tiefe.
Der riesige Felsspalt, den sie seit Stunden durchwandert hatten, öffnete sich hier zu einer fast kreisförmigen Grotte, die wirkte wie ausgeätzt, ausgefressen zu einem gewaltigen Loch. Dessen Boden, ungefähr zehn Klafter tiefer, sahen sie erst, als Hurmothin seine Laterne an einem Seil hinab ließ. Dort unten lag breit und reglos eine gelbbraune Masse; sie füllte den ganzen Boden aus und ließ zwischen sich und der senkrechten Felswand ringsum nur einen schmalen Rand, der von glitzernden Schätzen übersät war. Manchmal liefen leichte Wellen über das Riesengebilde, oder es formten sich ganz langsam Einbuchtungen oder Auswüchse, die dann wieder verschwanden. Ein leicht stechender Geruch lag in der Luft - nicht so schlimm, daß es in den Augen brannte, aber doch spürbar.
"Riecht ihr das?" flüsterte Sorla. "Das könnte gefährlich sein!"
"Unsinn!" murrte Hurmothin. Und zu den anderen Zwergen: "Seht ihr das viele Gold?"
"Wir hätten Träger mitbringen sollen!" antwortete Ygrottir.
"Die vielen edlen Steine werden wir zurücklassen müssen", bedauerte Borletgar.
"Ihr redet, als hättet ihr Ogluskshaddena schon besiegt!" ärgerte sich Sorla.
"Ogluskshaddena? So heißt das Zeug dort unten?" fragte Ygrottir. "Woher weißt du das?"
"Es spricht sich herum", wehrte Sorla ab.
"Wir haben den Namen nie gehört!" entgegnete Hurmothin und beäugte Sorla unter mißtrauisch zusammengezogenen Augenbrauen.
"Doch!" entgegnete Borletgar eifrig. "Wir Wilden Zwerginnen kennen eine Sage, da wird ein Zwerg erwähnt, den die Götter mit Ogluskshaddena bestrafen oder beschenken. Der Name heißt in der Sprache der Trolle 'Das Übel am Ende des Bartes'. Wir hielten es für eine Art Bartkrankheit."
"Scheußlicher Name", schüttelte sich Ygrottir. "Typisch für Trolle!"
"Wohlan!" rief Hurmothin. "Dann wollen wir dieser Scheußlichkeit zeigen, was Kämpfende Zwerge sind!"
"Und Wilde Zwerginnen!" mahnte Borletgar.
"Die vor allem!" lächelte Ygrottir in seinen Bart und sank mit Borletgar in eine derart innige Umarmung, daß sie Hurmothins Räuspern erst nach langem daraus zurückholen konnte.
"Soviel Zeit muß sein!" verteidigte Borletgar die Verzögerung. "Wer weiß, wann wir wieder dazu kommen!" Sie ordnete ihre Röcke und zwinkerte Sorla zu.
Nun wurde es ernst. Die Zwerge befestigten drei Seile an der Felskante, packten ihre Waffen und ließen sich gleichzeitig zum schmalen Rand hinab, wo ihre Stiefel zwischen all den Edelsteinen und goldenen Schätzen kaum einen Platz fanden. Sofort schlugen und stachen sie auf Ogluskshaddena ein. Im selben Augenblick bäumte sich die reglose Masse auf und peitschte mit schlangenartigen Auswüchsen um sich. Die Zwerge konnten ausweichen oder mit ihren Waffen dagegen halten, doch verwickelte sich Ygrottirs Streithammer in die Masse aus Schleim und zähen Fasern und ließ sich nicht mehr zurückziehen. Borletgar eilte ihm zu Hilfe. Sie wehrte die immer zahlreicher wimmelnden Tentakeln von ihm ab, indem sie wieder und wieder darauf einstach oder sie mit quer gehaltenem Speer abdrängte.
Auch Hurmothins Streitaxt hatte sich verfangen und war ihm sogar aus den Händen gerissen worden. Er sprang am Rand hin und her, um den Griff wieder zu packen, der aus den wimmelnden Massen herausragte und wie Treibgut in der Brandung des Meeres tanzte.
Noch immer mühte sich Ygrottir, seinen Streithammer dem Ungeheuer zu entwinden, und jetzt, mit einem beidhändigen Ruck am Stiel, zog er ihn zurück. Doch hielt er nur den Stiel in Händen, und diesen nur zur Hälfte, der Rest fehlte.
Da schrie Borletgar auf; sie war von den Auswüchsen Ogluskshaddenas umwickelt und schlug hilflos um sich. Ygrottir warf den nutzlosen Stiel seiner Waffe beiseite, packte mit einer Hand ein herabhängendes Seil, mit der anderen griff er nach Borletgar, um sie dem Ungeheuer zu entreißen.
"Ich brenne!" schrie sie. "Es frißt mich schon auf! Oh Ygrottir, mein Liebster!"
Er aber hielt fest und keuchte vor Anstrengung. Das Seil war so straff, daß es knarrte, und rieb bei jedem Aufbäumen Ogluskshaddenas an der Felskante hin und her. Fasern stäubten ab, noch drei, vier Atemzüge lang hielt das Seil stand, dann riß es und schlug wie eine Peitschenschnur nach Ygrottir, warf diesen gegen Borletgar, und beide versanken in den aufgewühlten Massen Ogluskshaddenas.
*
Hurmothin, waffenlos und allein, war den umher schlagenden Armen knapp entronnen und wieder zum Felsrand hochgeklettert, von wo Sorla dem Geschehen entsetzt zugesehen hatte. Nun saß der Zwerg da und verband seinen linken Fuß, an welchem vier Zehen fehlten: der Schleim Ogluskshaddenas hatte sie zerfressen. Er sagte kein Wort, sein Gesicht war versteinert. Nur einmal stand er auf und schleuderte den nutzlosen Rest des zerfressenen Stiefels in die Tiefe. Als er sich wieder setzen wollte, stieß er gegen den Rucksack seines jüngeren Bruders. Da liefen Tränen über sein Gesicht und versickerten im Bart, aber er saß da und rührte sich nicht.
Sorla konnte hier nichts tun. Er ging die Felskante entlang und sah, daß sie fast um das ganze Loch, in welchem Ogluskshaddena hauste, einen Sims bildete, so daß man ihm folgen und das Loch umrunden oder auch auf der anderen Seite in der Kluft weitergehen konnte.
Diesen Sims betrat Sorla nun, schrittweise und vorsichtig, wobei er den Glygi immer wieder zum Leuchten hinab schickte, denn er wollte unter all den Schätzen die Krone der Minhiol herausfinden.
"Dort unten ist sie!" wisperte Easmil, aber Sorla konnte nichts entdecken, was einer Krone ähnlich sah.
"Gleich neben jenem Faserbündel!"
Noch immer machte Sorla dort unten nur Edelsteine, Ringe und einen goldenen Dolch aus. Aber dieses Faserbündel sah merkwürdig aus. Wie ein dickes, schlecht gedrehtes Seil führte es aus der Masse Ogluskshaddenas heraus und schmiegte sich in halber Höhe an die sie umgebende Felswand. Jetzt fielen Sorla noch weitere, ähnliche Faserbündel auf, die sämtlich den Leib Ogluskshaddenas mit dem Felsen verbanden. Und als er dem Verlauf der einzelnen Faserbündel aufwärts folgte, sah er, daß sie alle wieder zusammenfanden und schließlich in einen verfilzten Klumpen mündeten, der von der Höhlendecke, dick wie ein Zwergenrumpf und einem Stalaktiten täuschend ähnlich, herabhing - am anderen Ende des Loches und somit außerhalb der Reichweite von Hurmothins Laterne.
"Das Übel am Ende des Bartes", flüsterte Sorla; ihm war ganz schlecht von der Erkenntnis, die sich ihm aufdrängte. Langsam und in Gedanken ging er zurück zu Hurmothin. Dort zog er die beiden verbliebenen Seile hoch, löste das eine und verknüpfte es mit dem Ende des anderen, das noch am Felsrand befestigt war. So hatte er ein doppelt so langes Seil, das quer über das Loch reichte. Er hielt das Ende fest, und indem er das Loch umschritt, fing er mit dem Seil den von der Höhlendecke herabhängenden Faserklumpen ein. Weiter das Loch umrundend kam er zu Hurmothin zurück und begann das Seil zu sich heranzuziehen.
"Was tust du da, Dieb?" murrte Hurmothin.
"Verzeih, Hurmothin", sagte Sorla, "daß ich dich in deiner Trauer störe. Doch ich gedenke Ogluskshaddena den Lebensfaden abzuschneiden."
Hurmothin stand auf und humpelte näher. Er betrachtete den verfilzten Klumpen, der in der Schlinge gefangen langsam schaukelte, und verfolgte dessen Verästelungen mit seinen Augen, soweit das Licht seiner Laterne reichte. Sorla schickte den Glygi hinunter, so daß Hurmothin sich überzeugen konnte, wie all die Faserbündel im Leib der Ogluskshaddena zusammenkamen.
"Dies ist abscheulich!" flüsterte er. Dann holte er seinen Dolch und sagte zu Sorla: "Laß mich dies selbst tun, ich bitte dich!" Seine Stimme war so heiser vor Rachedurst, daß Sorla sie kaum erkannte.
"Gerne, Hurmothin. Doch bevor du anfängst zu schneiden, beantworte mir bitte eine Frage: Glaubst du, daß die Kraft in diesem Filzklumpen nach unten fließt, wo sich die Faserbündel verästeln, oder daß die Kraft von Ogluskshaddena dort unten kommt, sich sammelt und durch den Filzklumpen weiter nach oben steigt?"
Hurmothins Augen glitzerten böse unter seinen Brauen hervor. "Ich kann deine Frage nicht beantworten, Sorle-a-glach, aber ich weiß, was du meinst. Dies ist der Bart meines Königs.
"Dann weißt du, was du tust, Hurmothin."
"Natürlich. Wenn die Kraft hinabfließt zu diesem Ungeheuer, dann kann ich meinen König jetzt von einer Krankheit befreien, die an ihm zehrt; das wird er mir danken. Aber", und jetzt grollte Hurmothins Baß heiser und gepreßt, "wenn die Kraft nach oben strömt, wenn also mein König sich nährt vom Tode meines Bruders und ähnliches seit Zwergengedenken tat und deshalb so lange schon lebt ..." Er sprach nicht weiter, sondern begann mit seinem Dolch am Filzklumpen herumzusäbeln.
"Das tat er nicht absichtlich", wandte Sorla ein, "sonst hätte er uns nicht geschickt, Ogluskshaddena zu töten."
"Mir einerlei", stieß Hurmothin hervor und schnitt weiter. "Vielleicht hat er's vergessen; er ist so alt. Vielleicht hat ihm die Goldgier den Verstand geraubt."
Da löste sich eine Strähne; gleichzeitig zuckte Ogluskshaddena so stark zusammen, daß ein dumpfes Klatschen aus dem Loch erklang. Eine weitere Strähne riß auseinander, da begann Ogluskshaddena zu toben, daß der Boden bebte.
"Spürst du das, du Ungeheuer?" flüsterte Hurmothin. "Tut dir das weh?" Und mit verstärkter Kraft bearbeitete er des Zwergenkönigs verfilzte Barthaare.
Immer heftiger tobte Ogluskshaddena; sie peitschte die Felswände; sie bäumte sich auf, doch ohne die Kante zu erreichen, wo ihre Peiniger standen; sie stieß zischend Dämpfe aus, die in Augen und Nase stachen. Der Boden schwankte, Steinbrocken begannen von der Höhlendecke herabzufallen.
Doch Hurmothin schnitt verbissen weiter, jetzt hing die Masse der von unten kommenden Faserbündel an nur noch einem dünnen Strang des sonst völlig aufgespleißten Klumpen. Noch ein Schnitt, die Faserbündel fielen nach unten, der zerschnittene Klumpen, aus der Seilschlinge befreit, drehte sich wirbelnd unter der Höhlendecke - da krachte es aus der Tiefe, dröhnte von überall her, der Boden bebte so stark, daß Sorla und Hurmothin stürzten und umher geworfen wurden. Die Laterne fiel um und erlosch, in der Finsternis hielten sich Sorla und Hurmothin umklammert, als gäbe ihnen das einen Halt in dem Toben und Krachen ringsum.
*
Als Sorlas Bewußtsein zurückkehrte, war ringsum alles still. Sorlas Schädel allerdings pochte schmerzhaft; als er den Kopf befühlte, klebten seine Finger von Blut. Nun erglomm auch der Glygi, und in seinem hellblauen Schimmer sah Sorla inmitten von herabgefallenen Steinbrocken Hurmothin sitzen, der seinen Bart bürstete und dabei Sorla besorgt betrachtete.
"Gut, daß du lebst, Sorle-a-glach. Seit Stunden lagst du wie tot. Du hättest einen Helm tragen sollen wie ich."
Sorla grinste und kroch auf allen Vieren zum Felsrand, um hinabzuschauen. Dort unten klaffte ein Riß von einer Wand quer durch den Boden zur anderen. Einige zerrissene Faserbündel hingen an den Wänden, von Ogluskshaddena waren ein paar reglose Fetzen übrig, der Rest war in der Tiefe verschwunden.
"Ob sie noch lebt?" fragte Sorla Hurmothin, der neben ihm kniete.
"Kaum möglich", knurrte dieser. "Das war ihr Todeskampf vorhin." Nach einigen Augenblicken, in denen er erkennbar nach Worten rang, sagte er leise: "Wir hätten das gleich tun sollen statt sinnlos zu kämpfen."
Dann aber verstaute er das Ende des frisch gestriegelten Bartes unter dem Gürtel und rief: "Nun her mit den Schätzen, wegen derer wir herkamen!" Er schnallte sich einen leeren Rucksack um, packte das Seil und ließ sich die Felswand hinunter. Sorla folgte, bewegte sich aber wegen seines Kopfwehs und anderer Prellungen recht vorsichtig das Seil hinunter. Es fiel ihm gleich auf, daß die Luft nicht mehr dumpf und stechend, sondern frisch und angenehm war. Am Boden angekommen, begann Hurmothin einzusammeln, was aus Gold war - je gediegener, desto besser. Sorla ließ alles liegen, er suchte nur nach der Krone und hoffte sie vor Hurmothin zu finden, möglichst unbemerkt.
"Seltsam", murmelte Hurmothin schließlich. "Ich kann Rasathirs Ring nicht finden."
"Du meinst den, der die Kälte bannt?" fragte Sorla, aber ohne ganz bei der Sache zu sein.
"Genau den. Ich hoffe, daß Ogluskshaddena ihn nicht mit in die Tiefe gerissen hat!" Vorsichtig näherte sich Hurmothin dem klaffenden Riß und lugte in den Abgrund.
Daran hatte Sorla noch nicht gedacht. Ganz sicher war ein Teil des Schatzes mit Ogluskshaddena verschwunden, vielleicht auch die Krone der Minhiol!
Auch die weitere Suche blieb bei beiden vergeblich. Also stopfte Hurmothin noch andere Schätze in seinen Rucksack, bis dieser zu platzen drohte; und Sorla, den als Kind die Gnome in Edelsteinkunde unterwiesen hatten, suchte sich eine Handvoll besonders schöner Steine zusammen, die er in seinen Beutel steckte. Als sie wieder hochgeklettert waren, breiteten sie ihre Decken fürs Nachtlager aus. Dies war ein langer und schrecklicher Tag gewesen; beide waren völlig erschöpft.
*
Sorla erwachte davon, daß Hurmothin vor sich hin brummte: "Rasathirs Ring muß hier irgendwo sein!"
"Wieso glaubst du das, Hurmothin?" gähnte Sorla.
"Ich spür's! Ich hielt ihn einmal in der Hand; was man da fühlt, erkennt man auf zehn Schritte wieder!" Er begann auf allen Vieren herumzukriechen und Stein für Stein umzudrehen. Plötzlich fuhr er hoch: "Hast du ihn, Sorle-a-glach?"
Sorla schüttelte den Kopf. Aber Hurmothin grollte: "Du bist ein Dieb, oder? Wer sonst könnte ihn haben? Denn er ist hier, ich weiß es!"
Da ertönte leises Zirpen, wie mehrstimmiges helles Lachen, und plötzlich schwebten vor ihnen, doch außer Reichweite, Easmil mit seinen Gefolgsleuten. "Edler Zwerg!" rief er silberhell. "Verdächtigt nicht euren Gefährten. Hier ist, was Ihr sucht!" Damit wies er auf sein Haupt, den ein winziger Goldreif schmückte - so groß wie ein Ring für den kleinen Finger eines Zwerges.
"Rasathirs Ring!" rief Hurmothin.
"Nein, unsere Krone!" widersprach Easmil. "Sie gehörte dem Kleinen Volk seit jeher. Wie Rasathir sie einst raubte, ist eine andere Geschichte; gleichviel, wir haben sie wieder."
"Ihr habt euch da runter getraut?" staunte Sorla.
"Sicher. Nachdem ihr Ogluskshaddena besiegtet und der Riß sich öffnete, reinigte sich die Luft - wir hatten die Krone schon geholt, als ihr noch oben saßt!"
Hurmothin starrte zornig auf die kleinen Flügelwesen, dann fuhr er Sorla an: "Du kennst die also?"
"Nun ja", sagte Sorla, "einige Tage schon. Hurmothin, ich möchte dich Prinz Easmil von den Minhiol vorstellen."
"König Easmil!" unterbrach ihn Easmil mit bescheidenem Lächeln.
"Verzeih, König Easmil."
"Für dich einfach Easmil, Sorle-a-glach. Und wisse, wir haben einen Weg erkundet, der führt dich und uns in vier Stunden aus diesem Berg hinaus."
Hurmothin fuhr herum.
Sorla sagte: "Ich wollte nie hier bleiben, Hurmothin, das weißt du!"
"Das stimmt!" grollte dieser. "Ich hätte nicht gedacht, daß ich das mal bedauern würde!" Damit fing er an, seine Decke zusammenzurollen und am Rucksack zu befestigen. Während er sich den Rucksack umschnallte, sagte er: "Ich bekam den Befehl, dich wieder mit in den Thronsaal zu bringen. Nun schulde ich dir aber einen Gefallen, Sorle-a-glach. Wenn ich dich jetzt laufen lasse, denke ich, sind wir quitt."
"Das denke ich auch, Hurmothin!" sagte Sorla und schloß ihn in die Arme.
Tag der Veröffentlichung: 21.09.2009
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