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Kapitel 1 - Alone And Forsaken

Es waren die Schüsse, welche irgendwo draußen in der Nähe die Nacht durchdrangen, die Lacey aus dem ohnehin unruhigen Schlaf rissen.
Sie wusste, was sie zu tun hatte.
Sie griff nach ihrem Rucksack, packte die wenigen Sachen, die ihnen geblieben waren, hinein, und versicherte sich, dass sich das kleine Messer noch immer in ihrer Jackentasche befand.
Dann krachte die Tür hinter ihr auf und Jules trat herein. Ihre Pistole in der Hand.
Schnell schloss sie die Tür hinter sich und legte einen Arm um ihre kleine Schwester. >>Komm, wir müssen weg.<<
Sie zerrte Lacey zum Hinterausgang des verwahrlosten Hauses, das ihnen die letzten Tage Unterschlupf geboten hatte.
Widerstandlos ging Lacey mit ihr. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, keine Fragen zu stellen. Neugierde konnte dich töten.
Leise verließen die Geschwister den Ort, ohne auch nur einen Hinweis darauf zu hinterlassen, dass sie jemals dort gewesen waren. Denn auch das konnte dich töten.

 

>>Du weißt, wie's läuft<<, sagte Jules und ließ ihren Rucksack auf den Boden gleiten. Sie fischte ein paar Patronen daraus und lud ihre Waffe nach. >>Wir nehmen nur, was wir wirklich brauchen und verschwinden dann wieder von hier.<<
Lacey antwortete mit einem stummen Nicken. Natürlich wusste sie es, die Plünderungen verwaister Gebäude waren schließlich zu ihrer täglichen Routine geworden. Alles, was man an Nahrung, Waffen und Munition noch gebrauchen konnte, wurde mitgenommen. Und danach galt es, so schnell wie möglich Land zu gewinnen, wenn man wusste, was gut für einen war.
Jules stülpte den Rucksack wieder über ihre Schultern. >>Und wenn du auch nur ein Geräusch hörst, rufst du mich und ich werde sofort da sein, verstanden?<<
>>Ja.<<
>>Gut, sei vorsichtig.<< Jules tätschelte Laceys Schulter und schlich dann mit gezückter Waffe die Treppe in den oberen Stock hinauf und hinaus aus Laceys Blickfeld.
Lacey machte sich an die Arbeit und begann, all die verstaubten und verfallenen Möbel nach etwas Nützlichem zu durchsuchen. In einer der Schubladen befanden sich alte CDs und DVDs, die Lacey nur aus Geschichten kannte; in einer anderen lag ein Portemonnaie, das dem Herren gehört haben musste, der sie von dem Passfoto aus beobachtete. Sie fragte sich, warum er nicht lächelte.
Als sie das Nebenzimmer betrat, starrten sie weitere Gesichter an. Überall an den Wänden, von denen die dreckige Tapete sich gelöst hatte wie die Blätter im Herbst von einem Baum, hingen Portraitbilder der Familie, die hier vor mehr als zwanzig Jahren einmal gelebt haben musste.
Es war nicht das erste Mal, dass Lacey sich an den intimen Sachen einstiger Bewohner vergreifen musste, doch selbst jetzt verspürte sie noch immer eine gewisse Traurigkeit, wenn sie durch all die Dinge stöberte, die nie für ihre Augen bestimmt gewesen waren, sondern bloß dafür, für immer eine glückliche Erinnerung für die Beteiligten zu sein.
Aber was machte das schon. Diese Leute - die Mutter mit ihrem stolzen Lächeln und dem kleinen Jungen auf dem Schoß, der Vater mit der sanften Geste, die bedeutete Bin ich nicht der glücklichste Mensch auf Erden? - die Lacey vorkamen, als seien sie gefangene in ihrer eigenen Momentaufnahme, waren längst tot.
Und wenn sie es nicht waren, dann waren sie eines der Monster da draußen, die eines Tages ihren eigenen Tod bedeuten würden.
Plötzlich ertönte von oben ein lauter Schuss. Dann war alles ganz still. Vermutlich, weil sowohl Laceys Atem als auch ihr Herz einige Takte zu viel ausgesetzt hatten.
>>Alles okay<<, hallte Jules' gedämpfte Stimme die Treppe herunter. >>Das war nur ein verdammter Runner.<<
Lacey atmete erleichtert aus, doch nur um erneut die Luft anzuhalten. Denn wie aufs Stichwort kündigten sich gleich noch mehr jener Kreaturen an; angeführt von ihrem eigenen, schmerzerfüllten Gekreische. Der Lärm des Schusses hatte sie angelockt.
Sie hetzten um das Haus herum und alles was Lacey noch brüllen konnte, bevor sie die Tür erreichten, war: >>Jules, sie sind hier!<<
Runner befanden sich im ersten Stadium der Cordyceps-Infektion und ähnelten daher noch am ehesten einem Menschen. Jedoch waren die Auswirkungen des Pilzes, der sich in ihren Gehirnen eingenistet, die Kontrolle über ihre Handlungen übernommen, und sie in tollwütige Bestien verwandelt hatte, deutlich sichtbar: Die Augen der Infizierten glühten und ihre Hautoberfläche war durchsetzt von den Striemen des darunter keimenden Cordyceps; der Ausdruck in ihren Gesichtern hilflos, geplagt, hungrig. Hungrig auf Laceys Fleisch.
Es waren fünf oder sechs von ihnen - auf jeden Fall zu viele, um als zehnjähriges Mädchen allein auch nur eine Chance zu haben.
Doch ehe sie Lacey überhaupt entdecken konnten, war Jules bereits die Treppe herunter gekommen und lenkte nun alle Aufmerksamkeit auf sich, indem sie eine Kugel in die Zimmerdecke feuerte. >>Hier drüben, ihr hässlichen Arschlöcher!<<
Gleich einer Marionette drehten sich die Köpfe der Runner in Jules' Richtung. Dann stürmten sie auf sie los.
Zwei von ihnen erledigte Jules mit einem geziehlten Kopfschuss, noch bevor sie sie erreicht hatten. Als die anderen Infizierten aber die Distanz zwischen ihnen und ihrer Beute überwunden hatten, stürzten sie sich regelrecht auf Jules, sodass sie einige Schritte rückwärts taumelte, allerdings an dem Tisch, gegen den sie prallte, wieder Halt fand. Sie umfasste den Hals des Runners, der sie gepackt hatte und gierig nach ihrer Kehle schnappte, um ihn auf Abstand zu halten.
Lacey beobachtete mit Entsetzten, wie ihre Schwester mit dem Runner rang, der langsam aber sicher die Oberhand zu gewinnen schien. Doch dann setzte Jules mit einer einzigen schnellen Handbewegung ihre Pistole an sein Kinn und bließ sein Hirn mit samt dem Blut buchstäblich an die Decke.

 

Lacey starrte auf das Feuer, dessen Flammen um den Topf mit den Bohnen züngelten. Sie fror, war schrecklich müde und mindestens genauso hungrig. Dies war der erste wirkliche Stopp, den sie eingelegt hatten, nachdem sie nun drei Tage unterwegs gewesen waren.
>>Uns geht das Essen aus.<< Jules rührte bedächtig in dem Topf herum und hob den Blick nicht. >>Ein, zwei Tage. Dann wird es hart.<<
>>Ich weiß<<, antwortete Lacey knapp und schmiegte sich enger in ihre Decke. Der Sommer war längst vergangen und der Herbst kehrte ein. Das ließ er die beiden Mädchen leider jede Nacht aufs Neue wissen. Jetzt zog auch Jules ihre Decke höher.
Dann nahm sie Laceys Schüssel und füllte eine Kelle Bohnen hinein. Für sie selbst war nicht einmal mehr eine ganze Kelle übrig.
Lacey hielt Jules ihre Schüssel hin. >>Das reicht niemals für dich. Hier, nimm was von meinem. Du brauchst es eher.<<
Ein trauriges Lächeln huschte über Jules' Lippen. >>Nein, du musst essen. Ich komm schon klar.<<
Lacey nickte lethargisch und schob sich einen Löffel von dem Dosenfraß in den Mund. Es tat unglaublich gut, endlich wieder etwas im Magen zu haben und selbst bei den konservierten Bohnen entfalteten sich Laceys Geschmacksknospen voll und ganz.
Und doch war es ein Spiel auf Leben und Tod und obwohl ihre Schwester ihr immer zu beteuerte, sie wäre okay, konnte Lacey an den tiefen, dunklen Schatten die Jules' braun-gesprenkelte Augen umgaben, und den harten Einkerbungen unter ihren Wangenknochen, erkennen, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis auch sie beide von dieser grausamen Welt in die Knie gezwungen werden würden.

 

Das Feuer war längst erloschen und die Kälte hatte den Raum zurückerobert. Lacey wälzte sich unter ihren Decken hin und her. Irgendetwas störte ihren Schlaf. Vielleicht war es die eisige Temperatur, die an ihr zerrte, vielleicht war es aber auch das Klicken, das verhalten, aber in regelmäßigen Abständen durch das Zimmer hallte.
Sie schreckte hoch. Klicken? Vorsichtig drehte sie ihren Kopf, volkommen bedacht darauf, nicht ein einziges Geräusch von sich zu geben.
Inzwischen war es hell genug, um die deformierte Gestalt, die durch den Raum torkelte, zu erkennen. >>Clicker<<, hauchte Lacey mit atemloser Stimme.
Das veranlasste den Clicker, der einst einmal eine menschliche Frau gewesen war, dazu, sich blitzschnell zu Lacey umzudrehen.
Aus dem Gehirn der Infizierten hatten sich große Pilzplatten durch ihr Gesicht gefressen und ihr nicht nur ihre Menschlichkeit, sondern auch ihr Sehvermögen geraubt.
Das klick-ähnliche Geräusch, das sie von sich gab, galt als eine Art Echoortung. Da Infizierte in diesem Stadium nicht mehr sehen konnten, nutzen sie dieses System, um ihre Beute aufzuspüren. Wie Fledermäuse, hatte Jules Lacey damals erklärt.
Verzweifelt schaute Lacey zu der noch immer schlafenden Jules hinüber. Es war unmöglich, sie zu wecken, ohne ein Geräusch zu verursachen. Wenn sie doch nur an ihr Messer kommen könnte. Es befand sich noch immer in ihrer Jacke, die neben ihr auf dem Boden lag.
Vorsichtig streckte sie einen Arm danach aus. Dann, so langsam und leise wie es nur ging, ließ sie ihre Hand in die Jackentasche gleiten. So weit, so gut.
Als ihre Hand das Heft des Messers ertastete, fiehl ihr ein Stein vom Herz.
Schnell zog Lacey das Messer heraus, was - verdammt! - der Infizierten ein misstrauisches Klicken entlockte.

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Tag der Veröffentlichung: 05.01.2014

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