Ich denke hier der Zeit, die, tiefverhasst, mich und mein Leben widerwillig trägt, mit der mein Wesen nie zusammenpasst.
Darin der Puls von anderen Zeiten schlägt, ob ich zu früh, ob ich zu spät geboren, ich geb mein Spiel mitsamt der Zeit verloren.
Selbst nach 250 Jahren verstehe ich nicht, warum die Menschen eine solche Angst vor dem Tod haben. Ist er doch die einzige Erlösung von der Qual die man Leben nennt.
Und umso länger man diese Last mit sich trägt, umso schwerer wiegt sie. Und umso unerträglicher drückt sie dir auf die Schultern.
In meinem langen Dasein habe ich Herrscher aufsteigen und fallen sehen, entsetzliche Kriege miterlebt und wurde Zeuge derer Vergehen an der Menschheit, die nicht einmal Gott sühnen kann.
Doch waren das nicht jene Ursachen, die mir die Kraft nahmen, die mir zu schwer gewordene Last des Lebens weiterhin zu tragen.
Nein.
Wäre damals alles anders gekommen, dann hätte ich vielleicht ein kurzes und glückliches Leben führen können. Dann hätten sich meine Erwartungen erfüllt und ich wäre alt gestorben.
Ich hätte die Wahl gehabt, an wen ich mein Herz verschenkte und es würde mir nicht brutal aus der Brust gerissen worden sein.
Ich hätte Kinder haben können, deren Nachfahren noch heute leben würden.
Schon lange waren mir all diese Dinge nicht mehr möglich.
Gefangen in einer Welt zwischen Leben und Tod bin ich dazu verdammt, sowohl die Last des Lebens als auch die des Todes auf ewig mit mir zu tragen. Abgeschnitten von der Welt und doch an sie gebunden.
Ich werde niemals vergessen, und doch wünschte ich, ich könnte es...
SURREY, IM MÄRZ 1879
Meine Seele stirbt, wenn ich mir vorstelle, dich niemals wiederzusehen.
Als ich ein junges Mädchen und mein Leben noch gewöhnlich war, lebte ich mit meinen Eltern und meinen fünf Geschwistern in der Grafschaft Surrey im Süden Englands. Mein Vater war ein angesehener Politiker und davon besessen, seine Macht noch auszuweiten. Zu jener Zeit kümmerte mich das nicht, denn ich empfand es nicht als meine Angelegenheit. Ich war kindlich und naiv und wusste ja nicht, dass es später einmal umso mehr mein Anliegen sein würde.
An diesem Tag jedenfalls war all meine Aufmerksamkeit auf etwas vollkommen anderes gerichtet. Es war der Tag meines vierzehnten Geburtstages und ich erwartete ein ganz besonderes Geschenk. Ungeduldig tippte ich mit meinen Fingerspitzen auf den Fenstersims und schaute hinunter auf die Straße, die sich vor die weiße Villa schlängelte.
Wo blieb er nur? Er hätte längst hier sein müssen.
Seine Ankunft war für den Morgen angekündigt gewesen und wir hatten bereits Nachmittag.
Würde er doch nicht kommen? Würde ich ihn doch nicht wiedersehen nach dieser langen Zeit?
Ich warf zum wahrscheinlich hundertsten Mal in dieser Minute einen Blick auf die Uhr; der Zeiger war noch immer kein Stück weiter gerückt.
Langsam breitete sich ein flaues Gefühl in meinem Magen aus, doch als ich wieder nach Draußen blickte, verwandelte es sich in ein aufgeregtes Kribbeln.
Da war er!
Ich konnte mich kaum vergewissern, dass es auch wirklich eine Kutsche war, die sich dort aus den Bäumen hervortat, so schnell wie ich das Zimmer verließ.
Eilig lief ich den Flur entlang und die große Treppe hinab in die Eingangshalle.
Ich stieß die Tür auf und schwebte die letzten Absätze zur Kutsche hinunter, aus der der Mann mit dem dunklen Haar nun ausstieg.
>>William! William!<<, rief ich ihn mit überschwänglicher Freude in der Stimme.
Mein Herz machte einen Satz, als er sich zu mir umdrehte. Und als seine nicht weniger dunklen Augen die meinen fanden, konnte ich sehen, dass es sein Herz ebenfalls aus der Verankerung gerissen hatte.
Unverzüglich rannte er zu mir, hob mich hoch und schloss mich in seine Arme. >>Liebste Schwester!<<
William umschlang mich so fest, dass mich die Angst überkam, zu ersticken. Doch der Gedanke daran, in seinen Armen zu sterben nahm mir jegliche Furcht vor dem Unbekannten. Wenn ich bei William war, dann schien mir die Angst fremd zu sein.
Diese sichere Geborgenheit hatte ich so unglaublich vermisst. Fast ein halbes Jahr war es jetzt her, dass ich ihn zuletzt gesehen hatte. Nur seine Briefe hatten mir seine Abwesenheit erträglicher gemacht.
Im Alter von dreizehn Jahren war er auf die Public School in Winchester geschickt worden, um die ehrbare Ausbildung eines Gentleman genießen zu können. Seit dem war es ihm nur wenige Male gestattet gewesen, seine Familie zu besuchen.
Aber nun hatte er die Schule abgeschlossen und war frei, nach Hause zurückzukehren. War frei, zu mir zurückzukehren.
Nach einigen Minuten, die mir jedoch erschienen wie nur wenige Sekunden, lösten wir uns wieder voneinander. Er streichelte meine Wange und betrachtete mich mit einem Schmunzeln. Dann holte er aus seiner Jacketttasche ein Päckchen hervor und überreichte es mir. >>Ich hatte schon befürchtet, ich würde es nicht mehr rechtzeitig nach Hause schaffen. Happy Birthday.<<
Er gab mir einen sanften Kuss auf die Stirn und sah zu, wie ich sein Mitbringsel neugierig öffnete.
Als ich die Schichten des Päckchens überwunden hatte, gaben sie die Sicht auf ein wunderschönes, kunstvoll gestaltetes Medaillon frei.
Ich nahm es heraus und fuhr mit dem Daumen über die verworrenen Einkerbungen auf der Vorderseite. Doch stieß mein Zeigefinger auf der Rückseite auf etwas. Ich drehte das Medaillon herum und las die Worte, die dort eingraviert waren, laut vor: >>Always & Forever.<<
Meine Lippen verformten sich zu einem dankbaren Lächeln, welches William stumm erwiderte.
>>Leg es mir um<<, forderte ich ihn fröhlich auf und drehte ihm meinen Rücken hin.
Er nahm mir den Anhänger aus der Hand, strich mein Haar beiseite und befestigte die Kette um meinem Hals. >>Solltest du einmal etwas nicht verlieren wollen, leg es dort hinein. So trägst du es immer bei deinem Herzen.<<
Daraufhin wand ich mich ihm wieder zu und das Lachen in meinem Gesicht verebbte. Mein Blick wanderte abschätzend von seinem einen Auge zu seinem anderen, versuchend, ihn in dieser Unergründlichkeit zu erreichen. >>Für die wirklich wichtigen Dinge, die ich nicht verlieren möchte, ist es aber viel zu klein, William.<<
>>Liebe Schwester, ich fürchte, ein Medaillon das dafür groß genug ist, wirst du nicht tragen können<<, entgegnete er resigniert.
Das reichte mir als Antwort aber nicht. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte – im einen Moment schien mein Bruder für immer verloren und im nächsten war er hier bei mir, als wäre das das Natürlichste der Welt. Dann platzte die Frage, die mir die ganze Zeit unermüdlich gegen die Stirn gepocht hatte, einfach heraus: >>Du gehst doch nicht mehr fort, nicht wahr?<<
Und William legte mir bloß eine Hand auf die Schulter und wand sich der Villa zu. >>Wo ist unser Vater? Ich muss ihn sprechen.<<
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Tag der Veröffentlichung: 10.12.2013
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