Cover

Alle Vögel sind schon da

 

Als der Buntspecht am Futterplatz ankommt, warten andere Vögel bereits recht verstört in den Gehölzen ringsum. Die Sonne blendet, sie steht für den Spätwintertag schon hoch. Kalte Böen frieren indes mitsamt den ersten Schneeglöckchen jede Hoffnung ein, dass nach dem nächsten Vollmond wirklich Ostern ist.

 

„Immer noch keiner da?“, versucht der Specht die Spannung aufzulockern, doch die anderen schütteln nur die Köpfe und plustern sich weiter gegen den Wind auf. Dabei hat das Rotkehlchen noch den besten Platz, denn es kommt als einziges zwischen die dichten Zweige der Korkenzieherhasel, die die Böen bis zu einer erträglichen Brise brechen – auch wenn es hier reichlich Pollen abbekommt.

 

„Seit einer Woche sind der Gärtner und seine Frau jetzt weg“, fasst die Kohlmeise vom Apfelbaum aus zusammen. „Einfach losgefahren. Und die junge Frau, die noch im Haus wohnt, kümmert sich nicht, das kennen wir doch.“

„Die Tauben meinten, sie sind in den Süden geflogen. Nach Südfrankreich oder Spanien“, grätscht ihre Cousine, die Blaumeise, ins Wort. Normalerweise zwitschert die Vorlaute so dominant über ihre Verwandte mit der schwarzen Kapuze weg, dass diese gar nicht gehört wird.

 

Seit mehreren Tagen ist vieles anders. Es herrscht kein Mangel an Fettknödeln und Sonnenblumenkernen, aber das Buffet kommt frühestens gegen Mittag und den Vorlauten, die immer zuerst am Trog sind, ist zu kalt zum Umgewöhnen. Ihnen sitzt die Angst im Nacken, vor Hunger und Entkräftung bald selbst zum Futter für die Krähen zu werden. Oder dass sie am Boden eine der Katzen erwischt, doch die sind ebenfalls in Teilzeit-Urlaub.

 

„Die Tauben selber sind wo?“, möchte der Specht wissen, da schwärmt schon der Buchfink: „Ach ja, Spanien. Wie die Störche und die Schwalben. Da ist es schön warm, da möchte ich auch mal hin.“

„Da stehen die Menschen erst später auf“, lässt sich die Kohlmeise heute nicht die Butter vom Brot nehmen. „Wenn du da was zum Frühstück haben willst, musst du runter auf den Boden und vor den Ratten da sein.“

„Sag mal, hast du Kohldampf oder steht dir ne Feder quer?“, meckert ihre Cousine angezickt. „Bloß weil der junge Nachbar nicht mit dem ersten Hahnenschrei die Sonnenblumenkerne nachfüllt, sondern erst mittags raus kommt? Was meinst du denn dazu, Rotkehlchen?“

 

Das Rotkehlchen, einzige feste Bewohnerin dieses Gartens, harrt wie eine Kugel aus Federn schweigend auf seinem Platz im blühenden Nussbaum aus. Die anderen sind es gewohnt, quer hinein zu quatschen und schnattern schon wieder übers Wetter, bevor es überhaupt Luft geholt hat. Die anderen sind ja auch blind und taub für die leisen Zeichen.

 

Sonst sitzt das Rotkehlchen gern auf dem Fensterbrett vom Schlafzimmer der jungen Frau, weit genug weg von aller Gefahr, aber heute pfeift dort der Ostwind um die Ecke. Der Winter muss sich noch einmal aufbäumen. Der Natur widersetzen wird er sich nicht.

 

Das kleine Tier hat viel Grundsätzliches mit der Eule besprochen in den letzten Nächten, denn es kann rund um Vollmond nicht besonders gut schlafen. Nur selten wird es von den hektischen und schwer von sich selbst überzeugten Mitgeschöpfen wirklich angehört, muss sich vom Boden holen, was die Heißhungrigen von Sonnenblumenkernen oder Meisenknödeln fallen lassen und ist dort unten auf der Hut, nicht selber zur Mahlzeit zu werden. Es hat gelernt zu warten und aufmerksam zu sein, denn manchmal geht der Deckel der Komposttonne nicht mehr zu.

 

Offenbar ist das Rotkehlchen auch der einzige Vogel des Frühschoppens, der in der Ferne beim Bäcker die Amseln und Spatzen aufsteigen sieht, deren Flügelschlag ankündigt, dass gleich Futter kommt. Die anderen, überwiegend männlichen Selbstdarsteller sind Halbstarke, von ihren Familien vorgeschickt, um zu melden, wann es wo Futter gibt. Sie sind in ihren ohrenbetäubenden wie sinnfreien Smalltalk über Baupläne für Luxusnester und die verspätete Futterlieferung vertieft und merken nicht mal, dass sämtlicher Schall vom Donnern der Böen übertönt wird. Bei ihrem Gehabe wäre es ratsam, wenn sich die Weibchen andere Gatten suchen würden, und es wäre kein Verlust für Mutter Natur, würde ihr Ameisenhirn mitsamt den Frühlingshormonen von einer Katze verschluckt.

 

Für einen Moment ebbt der Wind ab. Jetzt hat das Rotkehlchen die Nase voll von den Zaungästen und wird doch mal so schrill, dass Pollen aus ihrem Gefieder und der Hasel rieseln.

„Ja, genau, hackt auch noch auf der Hand rum, die euch füttert! Der junge Mann arbeitet abends und nachts, wie die Eule. Ist es da ein Wunder, dass er nicht im Morgengrauen raus kommt und Futter bringt wie der Gärtner? Was wollt ihr eigentlich? Es wird wärmer, Ostwind hält nur drei Tage und zwei davon sind um! Es gibt Milben, Knospen, Moos, Würmer, Keimlinge und jetzt schon genug für alle! Beim nächsten Vollmond sind die Tage länger als die Nächte, dann fängt das Korn an zu wachsen!

Außerdem nimmt der junge Mann die bekloppten Katzen immer wieder mit zurück in sein Nest und die sind bis mittags weg! Seit einer Woche kann ich hier mal ungestört hinter euch aufräumen und werde trotzdem satt!

Außerdem hat er die Obstbäume geschnitten, die Beete umgegraben und die Totholzhecke ganz ordentlich wieder aufgeschichtet. Ich weiß schon, wo ich mein Nest baue und weil er die Zweige fein klein gehäckselt hat, von den Obstbäumen, haben wir alle was zum Bauen, wenn es losgeht. Und ihr meckert hier, weil es mal später was zu picken gibt?!“

 

Die Fastenpredigt ist kaum verklungen, da klingelt eine Fahrradbimmel an der Gartenpforte. Mit dem jungen Mann, der in einer Hand eine Tüte Brötchen und in der anderen neues Vogelfutter hält, sind auch die zwei Tauben und eine Handvoll Stare da, die verdächtig nach Gärfutter vom Biogas-Maissilo am anderen Ende des Ortes müffeln. Die Melder fliegen auf, um ihre Familien zu holen und um den beiden Katzen zu entgehen, die der junge Mann aus dem Fahrradanhänger laufen lässt.

 

*

 

Während es wenig später an den Meisenknödeln und dem Vorrat an Streufutter heiß hergeht und die Katzen im frisch umgegrabenen Beet buddeln, knabbert das Rotkehlchen nachdenklich am sonnenbeschienenen Zierapfelbaum über Knospen und Grünspan. Der Frühling will kommen, der Sommer naht, und wenn der vorbei ist, sind die Tage des Rotkehlchens wohl gezählt. Dreizehn Monde lebt ein Rotkehlchen im Schnitt, hatte die Eule gesagt. Die Hälfte davon ist jetzt um und irgendwie fühlt sich trotz des Spätwinters alles so natürlich an. Der Lauf der Natur. Harmonisch. Und gut.

 

Bald heißt es, alles Vergangene und den Winter hinter sich lassen, einen Partner wählen, Nachkommen groß ziehen, genau wie für die junge Frau, die sich in der dunklen Jahreszeit nur selten draußen zeigt und manchmal tagelang einfach keinen Hunger hat. Das Rotkehlchen kann ihren Schwermut so gut nachfühlen, weshalb es auch gern in der Nähe ihres Fensters sitzt. Die Frau weiß, dass der kleine Vogel dort draußen in der Sonne darauf wartet, nur von ihr entdeckt zu werden und immer wenn sich ihre Blicke treffen, muss sie lachen.

Jetzt steht sie einträchtig mit dem jungen Burschen am langen gekippten Fenster, das auf den Garten zeigt. Sie sind ein schönes Paar, wie auch das Rotkehlchen schon einen bestimmten würdigen Anwärter hat. Auf einmal lacht sie wieder, zeigt auf das Zierapfelbäumchen. Ihre Lippen formen „Piepsie“, das ist ihr Spitzname für ihre stille Begleiterin.

 

Das Rotkehlchen posiert unmittelbar, zeigt sich von seiner Schokoladenseite. Frauen müssen zusammen halten! Schließlich kommt es auf das Umfeld an, wo das Weibchen das Nest für das Paar wählt, und dieser komische Vogel muss gehalten werden, er scheint ein prima Versorger zu sein – auch für die Küken vom Rotkehlchen. Jetzt lächelt auch er, sie schmiegt sich in seinen Arm, als wolle sie unter seinen Flügel krabbeln.

 

Der Wind schläft ein, es wird leise. Aus dem langen Fenster weht der Duft von Brötchen und Kaffee. Der Versuch des Anwärters, seine Angebetete zum Frühstück auf der Terrasse zu überreden, ist wohl mit dem Spätwinter unvereinbar. In vier Wochen werde das anders sein, und sie werde sich nachher dick einpacken und mit ihm einen Spaziergang machen, verspricht sie.

 

Wenn so wie heute wenigstens die Sonne scheint, ist ihre Stimme klar, fröhlich, und es tut so gut, diese lebensfrohen Töne zu hören. Dann ist es gleich viel wärmer.

Das Rotkehlchen wechselt auf die Pergola an der Terrasse, um ganz nah zu sein. Sie reden und mittlerweile kann das Rotkehlchen schon halbwegs verstehen, was sie sagen. Seit die Schwermütige in Bildern spricht, kann es wohl auch der junge Mann.

 

Die junge Frau möchte so gerne schneller gesund werden, wieder richtig arbeiten, in ein eigenes Nest ziehen. Und, wie sie sagt, sind Katzen, die nach draußen dürfen, nicht gut für Frauen, die ein Kind erwarten. Aber so weit ist es noch nicht.

„Wer ist hier wirklich krank?“, fragt sich das Rotkehlchen. „Ich, die mehr Angst vor den Katzen hat als die anderen Vögel? Die Frau, der in jungen Jahren alles zu viel geworden ist, vor allem der tägliche Kontakt mit Idioten, und die deshalb das Haus kaum verlässt?“

 

Die Menschen geben ihm keine Antwort. Sie sprechen von Ängsten, von Niedergeschlagenheit, von tiefer Traurigkeit, die nicht mehr aufhören will. Von einem inneren Schwein und von einem schwarzen Hund, der mal größer und mal kleiner ist, aber nie ganz weg.

Sie naschen dabei, warten darauf, dass etwas, was nach Milch und Schokolade riecht, auf dem Herd gar wird und allmählich knurrt auch dem Rotkehlchen der Magen. Meist ist es als erstes in der Nähe der Futterstelle, für den Fall, dass noch etwas vom Vortag da ist. Meist muss es aber Geduld haben, bis die Stärkeren ihm Platz lassen, und weil es so eine große Angst hat.

Katzen sind gut gegen die Nager, die Vögeln das Futter weg fressen, aber jeden Tag fürchtet das Rotkehlchen mehr als alle anderen Vögel an der Futterstelle, dass eine Katze Lust auf was Besonderes hat und verkriecht sich lieber hoch im Geäst, bis die Gefahr nicht mehr aus dem Haus kommt. Doch es ist nun mal dieser Garten, in dem es bald reichlich Futter gibt und in dem Frau Rotkehlchen ihr Nest füllen will.

 

Ein warmer Sonnenstrahl fällt durch die Korkenzieherhasel bis hinter das lange Fenster und das Rotkehlchen schaut noch einmal auf den jungen Mann, der ihrem Anwärter und ihrem Vater so ähnlich wirkt. Der Gartenhelfer aus der Nachbarschaft mag nicht immer viel Zeit haben, aber er vergisst keinen und er lässt niemanden verhungern.

 

Die ersten Meisen sind satt, der Buntspecht macht sich auf und davon, die Amseln suchen schon wieder im Moos und unter der Hecke nach unachtsamen Würmern. Ein Ruf des jungen Mannes und ein Klappern, schon huschen die beiden Katzen durch die Klappe in der Haustür zu ihrem Napf. Dann noch das kaum vernehmbare Klimpern, wenn die Katzenklappe im Schloss verriegelt, damit keine Mäuse und Ratten ins Haus kommen. Was heißt, die Katzen kommen nicht ohne Hilfe raus! Endlich das Zeichen, auf das das Rotkehlchen gewartet hat!

 

Impressum

Texte: J. Korte
Bildmaterialien: J. Korte
Tag der Veröffentlichung: 06.03.2023

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:

Nächste Seite
Seite 1 /