„Hallo Hansi. Oh ja, das sieht übel aus. Mit so ner Hand geht gar nichts mehr. Habt ihr denn was von der Explosion mitbekommen?“, gellt die leise aber helle Stimme der Arzthelferin durch den Anmeldeflur. Es ist ein stickiger Montagnachmittag im August, Schützenfestsaison und Batida selbst erstaunt, welch hallendes Organ sie nach der Kirmes hat.
Ich antworte mit belegter Stimme: „Die Kumpels vielleicht. Ich war ja zu Hause, mit dem kaputten Flunk.“
„Ach so, dein Arbeitsunfall von Samstagmorgen, ja. Und das heute, mit der anderen Hand, ist nicht auf der Arbeit passiert?“
Ich betrachte meine frisch verbundenen Finger. „Nein, bin ja zuhause. Wollte mir Pudding machen, mit frischer Milch vom Hippen-Bauer, die ist gleich mal übergekocht. Ich wollte die Sauerei vom Ceranfeld weg machen, die Kochstelle war noch heiß, zack, durch den nassen Lappen durch, die Handfläche verbrannt. Stinke ich noch schlimm nach verbrannter Milch?“ „Na, geht so. Die Schnapsdrosseln gestern im Rettungswagen bei der Kirmes, das hat gestunken.“
Ich fange an, auf den Füßen zu tippeln. Nicht, weil die redselige Arzthelferin mich gerade mit exotischer Unwiderstehlichkeit ausquetscht oder weil der Daumenbreit Dekolletee ihres Pflegeblousons selbst den Blick der Damenwelt wie durch Magie einfängt. Sondern weil hinter mir eine Polizistin in Uniform steht, die wahrscheinlich gerade Dienstpause hat und nicht aufgehalten werden will.
„Wenn der Doc mir ne Salbe verschreibt, vielleicht was gegen die Schmerzen und ne neue Krankschreibung. Antibiotika hab ich ja noch.“
„Ja, das muss der Doktor sich ja doch eben ansehen. Setz dich mal kurz ins Wartezimmer.“
*
Während ich mir einen Platz mit Luftzug suche, von dem aus Batida mir nur winken muss, dass ich dran bin, bekomme ich das Anliegen der Polizistin mit.
„Nee, den Banküberfall machen die Kollegen von der Kripo, Batida. Ich brauch nur ne Überweisung zur Gynäkologin.“
„Hmhm. Muss er dir eben unterschreiben, Vroni. Willst du drauf warten?“
„Kommt drauf an. Ist viel los?“
„Gar nicht. Die Sprechzimmer sind noch voll. Einer ist noch im Wartezimmer und die Laborpatienten sind eh alle durch. Die meinen wohl alle, weil’s bei uns so gescheppert hat, hat die Praxis geschlossen.“
Die Polizistin lässt ihren Blick über die Fensterfront schweifen, durch die man sonst einen fabelhaften Blick auf das Geldinstitut gegenüber hat. Die Scheiben sind zu Bruch gegangen, als letzte Nacht jemand den Erker mit dem Vierundzwanzig-Stunden-Geldautomaten mit einem amateurhaften Sprengsatz pulverisiert hat. Umherfliegende Trümmer haben es über die Straße bis zum nächstgelegenen Gebäude, der Hausarztpraxis, geschafft. Andere Scheiben hat es nicht getroffen, weil dort Jalousien die Geschosse abgefangen haben.
Inzwischen sind die kaputten Fenster, die normalerweise zu dieser Jahreszeit noch auf Kipp stehen, notdürftig mit Plexiglas abgedichtet. Es riecht stickig, nach Montageschaum und nach desinfizierendem Putzmittel.
„Tja, ich hab noch nichts Neues von dem Vorfall gehört. Aber ich warte, ich setz mich kurz rein.“
*
Als sie sich umsieht, erkennt sie, wie dem einzigen Wartenden im Wartezimmer der Kragen eng wird, weil er sie die ganze Zeit angestarrt hat. Mein Gesicht läuft an wie eine Herdplatte ohne Topf; was nicht von Bart verdeckt ist, fängt sichtbar an zu schwitzen wie der Glasdeckel über einem seihenden Suppenhuhn.
„Keine Bange. Ich suche keinen Falschparker“, versucht die Ordnungshüterin die Spannung abzubauen, während sie sich setzt. Eine Uniform erzeugt noch Respekt in der ländlichen Gegend, aber dass ein junger Mann dermaßen anschlägt? Der kann ja nur was ausgefressen haben?!
Sie deutet lächelnd auf meinen linken Arm. „Arbeitsunfall, ja? Abwehrverletzung von ner Kneipenschlägerei? Oder Security vom Festzelt am Wochenende? Ich denke, da waren nur Schnapsleichen, keine Randale.“
*
Ich bekomme kaum einen Ton durch die Stimmbänder, fasse aber Mut. Offenbar sind sie noch nicht auf meiner Spur und die befreundete Arzthelferin auch noch mit der Polizistin gut bekannt. „Äh, nee. Ich arbeite drüben in der Ladenschlachterei als Zerleger.“
„Hmhm. Das hört man an der Stimme. Die Nase ist ganz zu. Viel vom Kalten ins Warme gekommen in der letzten Zeit?“
*
Sie sieht mich auffordernd an. Ich räuspere mich.
„Ja, war ganz gut was zu tun. Von Freitag auf Samstag haben wir noch mehr Schweine als sonst verarbeitet, weil ist Grillsaison und viele Vorbestellungen für Familienfeiern. Zur Kirmes kommen immer alle Weggezogenen nach Hause ins Nest und machen uns die Kühlkammer leer. Da muss es in der Zerlegung zackig gehen, wir fangen früher an und machen länger. Wie das so ist, beim Saubermachen und Messer schleifen ist man dann platt und zack, sitzt ne Messerspitze überm Kettenhandschuh im Unterarm.“
„Autsch. Und das mit nem dreckigen Messer?“ „Ja, Arbeitsunfall, da bekommt man die geileren Antibiotika. Das ist ein Kratzer, da macht die BG keinen Herrmann drum und wird auch sagen, komm, ne Woche mehr oder weniger krankgeschrieben. Hast Glück gehabt, dass nicht mehr passiert ist und an der Stelle tut’s nicht mal weh.
Na gut, saufen auf der Kirmes war damit vorbei. Heute Nacht wollte ich ja auch schon wieder hin zur Arbeit, aber der Chef meinte, ist nix los. Die Krankschreibung war ja vielmehr, damit die Wunde nicht wieder auf geht und ich die Wurst versaue, da hat der Chef mich zuhause gelassen.
Ja, und dann heute früh die blöde Sache mit der Herdplatte. Das schmeißt mich zurück, ehrlich gesagt. Ich weiß noch nicht, wie ich ein Messer anpacken soll und höllisch weh tut’s auch noch. Nicht immer, aber da kommen immer so Schübe, wenn ich die Hand zu lange ruhig halte. Und alles nur für eine Schale Vanille-Pudding. Haauuh. Geht wieder los.“
*
Ich lehne mich zurück. Vielleicht habe ich sie genug von mir abgelenkt. Die Polizistin lenkt mich ja auch ab, womöglich, ohne es zu wissen. Der ordentliche Schnitt der dunkelblauen Uniform täuscht nicht über die Pölsterchen an den haargenau richtigen Stellen weg. Allein für die zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare hätte ich Hof und Familie verlassen.
Ein Lächeln fliegt über ihr Gesicht. „Ich kann Sie übrigens beruhigen. Ihre Arbeitskollegen haben sich als Zeugen der Explosion melden wollen, aber die konnten meinen Kollegen auch nur sagen, wann der Knall war. Sie sind rüber gekommen, um zu gucken, was passiert war, aber es war weit und breit niemand zu sehen und Hilfe brauchte auch keiner. Sie arbeiten doch bei der Fleischerei Grönwohld hier zwei Straßen weiter?“
„Ja, warum?“
„Nur so. Wir überlegen, ob wir ein Spanferkelessen machen für einen Kollegen, der in Rente geht. Kann man sowas bei Grönwohld bekommen? Schlachtet der eigentlich selber?“
„In der Aussiedlung im Gewerbegebiet, wo auch geräuchert wird. In der Fleischerei wird nur zerlegt und Kochwurst gemacht, sonst riecht der halbe Ort nach Metzgerei. Das Spanferkelessen können Sie im Laden bestellen, das liefert Ihnen der Partyservice ins Haus. Wäre aber gut, wenn Sie das drei Wochen vorher bestellen, wir brauchen dann ja auch ein Tier.“
*
Das Gespräch ist abrupt vorbei, weil Batida die bestellte Überweisung für die Polizistin bringt.
Ich stütze mich auf eine Armlehne, während ich die Uniform draußen in der Sonne zum Tatort laufen sehe. Länger als drei Minuten hätte ich es nicht mehr ausgehalten. Ist das eine neue Verhörmethode wie bei diesem rothaarigen Fernsehkommissar aus Miami, der nie mit seiner Sonnenbrille zurechtkommt? Ich schließe die Augen. Die Verbrennung kribbelt.
Das Parfum der Polizistin steht mit der Luft im Wartezimmer. Oder sowas in der Art. Etliche Düfte kommen zusammen, das nehme selbst ich mit meiner von Kühlkammern und Fleischgeruch chronisch verstopften Nase wahr. Da müsste eine Sonnencreme im Spiel sein, und Reste von Freibadwasser in der schwarzen Mähne, die das Shampoo nicht ausgespült hat. Welkendes Gras von einem gemähten Festplatz-Rasen. Frisch gezapftes Pils aus einem Getränkewagen.
Der betäubende Vanilleduft hängt im Raum, schwer wie ein Rinder-Hinterviertel. Im nächsten Moment sacke ich vom Stuhl.
*
Als ich aufwache, blicken mich besorgte Augenpaare an. Meine Unterschenkel liegen auf der Sitzfläche von dem Stuhl, auf dem ich gesessen habe. Über den Boden weht Zugluft.
„Herrje. Wieder der Tinnitus vom alten Kompressor in der Fleischkühlung?“, murmelt der Arzt aus unbewegten Lippen unter einem schwarzen Schnauzbart hervor.
„Ende September kommt ein neuer. Ich brauch was gegen die Schmerzen. Das hält ja kein Mensch aus“, hauche ich und halte meine neue Verletzung hoch.
„Guck ich mir gleich an. Die Batida holt Ihnen trotzdem ne Infusion. Sie sehen ganz schön blass aus um die Nase. Hatten wir nicht gesagt, kein Schnaps auf die Antibiotika?“
„Ich hab keinen Tropfen getrunken, Doktor Giesel, ich schwör’s.“
„Glaub ich Ihnen doch. Deswegen ja die Kochsalzlösung. Wasser schmeckt halt nicht jedem. Bis gleich denn.“
Schon ist er wieder weg. Dafür legt Batida die Infusion und setzt sich neben mich auf einen Stuhl.
*
„So, jetzt mal Hand aufs Herz, Hansi. Habt ihr wieder Autos hochgedreht und Rennen gefahren auf der neuen Ortsumgehung, oder warum geht dir die Flatter, wenn du ne Uniform siehst? Sag nicht, die haben dir nen Einberufungsbescheid geschickt oder sowas.“
„Quatsch mit Soße. Es ist nix. Ich hab schlecht geschlafen, die letzten Tage. War zu heiß und dann die ollen Pinnizillintabletten, wo man andauernd von rennen muss.“
„Dir ist klar, dass die Vroni was gewittert hat. Die ist ne Neue, aber die wird die Kollegen ausquetschen und die wissen schon, wen sie diese Woche nacheinander abklappern müssen nach dem Banküberfall. Soll ich was für dich beichten?“
Ich schnaufe durch und sehe an die Decke. Noch nie ist mir aufgefallen, wie dringend hier mal gestrichen werden müsste. Die winzigen schwarzen Punkte auf dem Cremeweiß fangen ja schon an, sich zu bewegen?!
„Ich war’s nicht. Aber ich weiß, wer’s gewesen sein muss.“
Sie stupst gegen den Beutel mit Kochsalzlösung, der fortan so nervig an seinem Rollständer baumelt, dass er meinen Blick fesselt. „Aha? Aber eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, oder was?“, neckt sie.
„Wozu denn auch? Von dem Geld ist ja nix weg, wie ich gehört hab. Nur schwere Sachbeschädigung, weil der ganze Erker weg ist, aber der Tresor ist unbeschädigt. Das hätte nicht schlimmer ausgesehen, wären sie da mit nem Trecker rein gefahren.“
„Dachte ich mir das doch, dass die Bauernjungen dahinter stecken.“
„Neiiin. Die waren alle zur Kirmes oder in der Ernte.“
„Woher weißt du das denn wieder?“
Ich presse die Lippen zusammen. „Man wird ja noch spazieren gehen dürfen.“
*
Sie schlägt die Beine übereinander. „Du hast dir wieder schwarz was dazu verdient, obwohl du krankgeschrieben warst. Was denn? Fleißig kleine Strohballen auf den Heuboden hochstechen oder faul auf’m großen Trecker sitzen? Ne Hausschlachtung zerlegen schließe ich mal aus, das macht bei dem Wetter keiner.“
Ich will mich aufsetzen, sie hält mir einen Fuß entgegen. „Schön liegen bleiben. Also? Was war’s, echter Schweiß oder halber Spaß? Und wer war das mit dem Geldautomaten?“
„Na schön. Ist aber ne längere Geschichte.“
„Ich geb dir zehn Minuten. Dann sollte der Beutel durch sein.“
„Ich glaub, es war der Hippen-Bauer.“
Sie prustet los. „Der war gut. Der Hippen-Bauer. Der hat zwei linke Hände, der kriegt im Winter nicht mal den Ofen an. Würde die Schwester nicht einmal die Woche kommen, käme der doch gar nicht zurecht! Der kann doch von Glück sagen, wenn er zwei Mal am Tag sein Vieh füttert! Und dass der Grönwohld ihm das abnimmt!“
„Ja. Eben deswegen ja. Das Vieh ist das einzige, wovon der was versteht. Da geht nix vom Hof, was nicht erste Sahne ist, da guck dir mal dagegen an, was wir von der Industrieware alles wegschmeißen oder in die Wurst machen müssen. Und untergehen lassen kann man so einen doch auch nicht. Sonst haben wir noch ne verfallende Ruine im Dorf.“
„Eins nach dem anderen. Hat der Hippen-Bauer dir gesteckt, dass er Geld braucht, oder was?“
„Geld braucht der immer, bei dem was er an Schulden haben muss. Nein, pass auf. Der Grönwohld hat ihn mal beiseite genommen, vor zwei Jahren, und ihm ins Gesicht gesagt, wenn der noch mehr so ein Kruppzeug abliefert, muss er ihm das Veterinäramt schicken. Da wollte der Hippen-Bauer sich direkt mit nem Schlachtermesser – du weißt schon.
Seitdem geht jeden Tag einer von uns hin und hilft ihm mit dem Vieh. Der Grönwohld sorgt dafür, dass er vernünftige Mastkälber und Ferkel kriegt und der Tierarzt besorgt das mit den Medikamenten und dass alles vernünftig aufgeschrieben wird. Der Hippen-Bauer muss zusehen, dass der Hof aufgeräumt ist, und die Milch in Ordnung ist, da hat ein normaler Mensch auch den ganzen Tag zu tun. Und wissen soll es ja auch keiner, damit die Bank ihm nicht am Ende doch den Hahn abdreht.“
„Naja, und wenn mir ständig fremde Leute in die Arbeit reden und durchs Haus laufen würden, würde ich auch irgendwann die Wut kriegen, auch wenn’s für alle besser wird, weil ich nur Milchkühe kann. Aber wieso wollte er die Bank ausrauben? Wegen der Schulden?“
„So ähnlich. Aber da wird’s Spekulation. Er ist definitiv blank, weil er noch warten muss, bis die Ochsen fertig sind, bis er Geld bekommt. Da hat er jetzt zwei Jahre drauf Vorkasse geleistet, das holen die paar Schweine nicht raus. Wir haben ihm auch in letzter Zeit was bar geschnorrt, was er so brauchte. Mal ne Ladung Diesel für den Trecker oder ein paar Zentner Futter, damit die Schweine nicht zu leicht weg müssen.
Letzte Woche hab ich ihm Benzin für den Rasenmäher und die Motorsense geholt, und Kunstdünger. Um die Zeit im Jahr holt sich kaum noch einer Kunstdünger, aber das ist mir erst eingefallen, kurz bevor es gestern Nacht geknallt hat.“
„Ja, merkste selber. Kunstdünger und Benzin. Meinst du echt, der Hippen-Bauer hat das Zeug, sich selber Sprengstoff anzumischen? Will der auf seine alten Tage noch den Hof in die Luft jagen, oder was?“
Ich sehe auf meine Hand. „Der ist alt und verbittert, aber der ist schlauer als du denkst.“
Sie kombiniert. „Der ist ein Schlitzohr und hat dich überredet, oder was? Oder hast du ihm das Rezept verraten? Habt ihr nicht auch mal…?“
„Das war Böllern mit Kaliumkarbid, was wir von der Clique gemacht haben. Das ist was anderes und das hat der Mattes besorgt. Nein, hör zu.
Ich konnte nicht schlafen und bin mitten in der Nacht spazieren gegangen. Da war bei der Kirmes auch schon alles dunkel und die Streife war längst zu dem Schmalzbäcker ausgerückt, der sein Auto im Beet vom neuen Kreisverkehr festgefahren hat, drüben an der Ortsumgehung, wie’s heute früh in der Zeitung steht.
Ich hab noch gedacht, wenn die Schausteller das viele Bargeld jetzt wirklich in den Einzahlautomaten geschmissen haben, wie der Hippen-Bauer spekuliert hat, dann wäre da ja richtig was zu holen in dem Kassenhäuschen. In dem Moment knallt es auch schon über den ganzen Ort und mir fällt ein, der Hallodri könnte ja, wenn er wollte.
Ich also sofort hin zur Bank und was seh ich aus den Trümmern gucken? Meinen Eisenkanister, mit dem ich das Benzin für den Hippen-Bauer geholt hab. Auf der einen Seite steht dick „Heizöl“, auf der anderen mein Name mit Adresse. Da kannst du dir ja denken, wen sie sofort bei den Ohren gehabt hätten.
*
Sie bebt vor Kichern. „Soll auch noch einer drauf kommen, dass nach so einer Explosion die Trümmer heiß sind und der Kanister vom verbrannten Benzin noch viel heißer. Du hast den Kanister angefasst und sofort wieder losgelassen, weil er gebissen hat?“
„Seh ich so doof aus oder siehst du zu viele Filme vom Schwarzenegger? Den Kanister hab ich mit dem Hemd um die Hand angefasst, da hab ich mich nicht dran verbrannt. Die Verbrennung ist wirklich vom Pudding kochen.“
„Na gut. Aber bist du dir wirklich sicher, dass der Hippen-Bauer es war? Unter uns, der ist so grundehrlich, das wundert mich schon, dass der das schon zwei Jahre mitmacht mit eurer Mauschelei mit den Viechern. Ich hätte ja eher gedacht, der steht heute früh entweder bei der Wache vor der Tür und stellt sich oder wenigstens hier vor der Tür, weil er uns die Fenster zerdeppert hat.
Und ganz ehrlich, wenn hier im Ort jemand kriminell ist, dann ist das deine alte Raser-Clique. Schon mal an die gedacht? Deine Isotonische ist übrigens durch. Schön langsam über die Seite aufstehen, ja? Und mach dir keine Sorgen, ich halt dicht. Die Kripo sucht eh nach der Bande, die hier im Umkreis schon mehrere Automaten gesprengt hat.“
„Ja, und jetzt?“ „Erst mal guckt sich der Doktor die Verbrennung an und dann mach ich dir nen neuen Verband. Wenn das mit den Schmerztabletten nicht besser wird, hat der Apotheker immer noch den Selbstgebrannten unterm Tresen.“
*
Ich bleibe im Wartezimmer sitzen. Durch das gekippte lange Fenster, eigentlich eine schmale Seitentür und Brandfall-Fluchtweg aus dem Wartezimmer, kann ich einen Teil des Tatorts sehen, nehme aber anderes wahr.
Wird der ganze Schmu jetzt auffliegen? Langfristig geht es darum, den Hof vom Hippen-Bauer, praktisch vorerschlossener Baugrund in Ortsrandlage, von einem stinkenden Eldorado für Kultur folgende Schadnager in eine schöne kleine Siedlung mit emissionsfreien Einfamilienhäusern und sterilen Gärten zu verwandeln.
Mittelfristig geht es darum, den Hippen-Bauer, den die Scheidung und der Weggang seiner Frau gebrochen haben, so weit in die Schuldenzange zu treiben, dass er verkauft und sich ein kleines Häuschen irgendwo anders sucht. Und zwar mitsamt seiner Depression, einen Zustand, den es in ländlichen Gegenden wie diesen hier nicht geben darf.
Kurzfristig heißt das, den Pechvogel von Alkohol und Freitod abzuhalten, ihn in Watte zu packen und sich als rettender Schutzengel zu etablieren.
Wir wollen ihm ja nichts Böses, aber wir, also ich und mein Kollege Mattes, wollen auch verhindern, dass die Schwester die Sache in die Hand nimmt und meistbietend an irgendeinen auswärtigen Lackschuh verhökert. Dann kriegt nämlich keiner von uns Altgesellen einen billigen Bauplatz mit schickem Haus, Grillterrasse, Doppelgarage, Partyschuppen und Anbauten für Brennholz, Autowerkstatt oder Hobby-Schlachtküche, sondern wir vertrocknen armselig oben bei Mutti im Dachausbau. Aber ich und Mattes sind nicht mehr als Handlanger.
Federführend ist Metzger Grönwohld, der das Investitionsprojekt nicht alleine stemmen könnte; er hat in der Handels- und Gewerbeclique andere Spekulanten gefunden, die den Hippen-Bauer geschickt übers Ohr hauen wollen. Grönwohld soll dem Hippen-Bauer die Tiere aufziehen helfen, die fertigen abkaufen und ihn dadurch einwickeln.
An der Stelle hängen ich und Mattes mit drin. Wir häufiger krank feiernden Metzger-Gesellen vom Grönwohld sind nicht nur ehemalige Schrauber und Raser, die, wenn es schlecht läuft und irgendjemand auspackt, für ihre vergangen Schmuggler-Sünden in den Bau wandern würden. Wir und die Lehrlinge im letzten Ausbildungsjahr werden auch immer zum Stalldienst verdonnert, damit die Zicke vom Veterinäramt nichts zu meckern hat. Die blöde Kuh kann es kaum erwarten, den Hof vom Hippen-Bauer dicht zu machen. Die würde es fertig bringen und den Bauern heiraten, weil sie einen Bio-Hof draus machen will. Und im Moment käme so eine Katastrophe noch viel zu früh.
Seit Samstag ist Mattes für eine Woche Stallknecht, und mit etwas Geschick kann ich in vier, fünf Tagen sowohl eine Forke bedienen als auch die Eimer mit Schweinefutter. Nur so ist sichergestellt, dass auch niemand dahinter kommt, wie hier der halbe Gewerbeverein billig Sachen entsorgt, die den Paragrafen nach teuer auf den Müll gehören. Überschüssige Ware aus den Regalen, die einfach nicht verkauft worden ist, die man noch essen könnte, aber die nicht mal für umsonst weg geht.
Die Molke vom schwarz gekästen Käse muss zum Beispiel nicht nur irgendwo hin, wo der Zoll sie nicht zum teuren Eintrocknen abwiegt, sondern macht zusammen mit sauer gewordenen Sahnetorten und vertrockneten belegten Brötchen eine prima Schinkenqualität in die Muskelpakete der Schweine auf Strohhaltung. Von den Ochsen ganz zu schwiegen, die bekommen abgelaufenes Bier, überreifes Obst und vertrocknetes Laugengebäck. Andererseits würde die Lebensmittelkontrolle den halben Ort einbuchten, wenn sie dahinter käme.
Wenn das raus kommt, was da rein kommt, Chef, dann werden Sie nie wieder raus kommen. Der Sinnspruch, der regelmäßig bei der Verkostung an der Wurstmaschine fällt, hat beste Chancen, am Futtertrog vom Hippen-Bauer wahr zu werden.
*
Ganz in Gedanken versunken, werde ich vom Klingeln meines Mobiltelefons aufgeschreckt wie vom Stromstoß eines Viehtreibers.
Der Hippen-Bauer meldet sich und hört sich an, als habe seine Melkmaschine den Kuhstall in die Luft gejagt, mitsamt den dran geklatschten Nebengebäuden, in denen die Masttiere leben. „Kannst du herkommen so schnell es geht?“
„Was ist denn passiert?“, frage ich verblüfft.
„Ich weiß nicht mehr was ich machen soll. Der Mattes ist nicht gekommen. Ich hab erst mal gemolken und das Vieh versorgt. Du musst herkommen, Hansi. Es ist was ganz Schlimmes passiert.“
„Ja, erzähl doch.“
„Die haben den einzigen Abend im Jahr abgewartet, den ich nicht zuhause bin und mir einen hinter die Binde gieße. Wie ich gestern Nacht von der Kirmes heim komme, ist noch alles in Ordnung. Heute früh hängt die Tür von der Werkstatt nur noch im untersten Band.
Alles weg. Der Rasenmäher, die Motorsense, der Trennschleifer, die Bohrmaschine, dein Kanister mit Benzin und der Kunstdünger. Sogar das Unkrautmittel, was der Friedhofsgärtner fürs Pflaster haben wollte, ist weg. Aber das Beste kommt noch. Was der Grönwohld wohl sagen wird, wenn er hört, dass seine Ochsen weg sind.“
„Die – was? WAS?“
„Naja, hätt ich den Hof nicht so sauber gefegt, hätten sie wenigstens Reifenspuren sicherstellen können, meinte die Polizei vorhin. Die meinte auch, ich muss dem Grönwohld Bescheid sagen, dass er die Ochsen nicht mehr kriegt, aber der wird immer so wütend, ich trau mich nicht. Aber recht haben sie. Da hat der Grönwohld selber Schuld, dass hier vorm Haus immer alles geleckt sein muss.“
„Die haben – die haben…?“
„Die Ochsen geklaut, alle sechs Stück. Nächste Woche hätten sie zum Grönwohld sollen zum Schlachten, dann drei Wochen schön aushängen und dann auf’s Oktoberfest. Der Grönwohld hat Liefervertrag, deswegen sind die hoch versichert. Aber jetzt müssen wir sehen, wo wir in einer Woche sechs Ochsen herkriegen, die Spieße werden ja nicht davon voll, dass die Versicherung blecht.“
„Dann müssen die aber ja – einen Viehtransporter – und der Grönwohld hat dich mit Vertragsstrafe verpflichtet, die Ochsen zu liefern?“
„Ach was, Vertragsstrafe. Wie der das Fleisch für’s Oktoberfest kriegt, ist sein Problem. Und wer weiß, wo die Ochsen bleiben. Die Tierpässe hab ich im Schrank, die sind genauso hier auf’m Hof wie die Ohrmarken, die sie raus gekniffen haben. Aber die Knuddel haben zwei Jahre bei mir im Stall gestanden, das Heu von meiner Wiese gefressen und saumäßig Versicherungsprämie gekostet. Jetzt waren sie fast fertig und ich kann mich nicht mal verabschieden. Ach, Mann. Kommst du rüber auf ein Bier?“
„Nee, du. Nicht so früh am Tag und nicht mit den Tabletten. Soll ich dir heute Abend Schweine füttern helfen?“
„Ja, dann komm heute Abend wieder. Der Jupp war schon da, der Lehrling, der jetzt ausgelernt hat, der hat alles fertig gemacht. Hat erzählt, der Mattes wäre völlig abgestürzt gestern Abend, käme nicht aus dem Bett und hätte ihn her geschickt. Jupp wollte sich duschen und sich auch krank melden. Hatte nen ganz schönen Kater von der Kirmes und Mittelohrentzündung oder was. Hab ihn richtig anbrüllen müssen, damit er was hört. Der war bestimmt immer noch besoffen. Kümmer dich mal lieber um den Grönwohld, der ist ja sonst ganz alleine mit den beiden frischen Lehrlingen im Laden im Ort.“
*
Ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen.
Beide Gesellen, ich und Mattes, sind krank aus der Zerlegung weg. In der Schlachterei im Gewerbegebiet ist heute geschlossen mit Ansage wegen der Kirmes gestern. Das wäre noch in Ordnung, wir haben gut vorgearbeitet für den Laden und zur Not kommt einer aus dem ausgesiedelten Betrieb mit rüber.
Ich bin regelmäßiger krank als Mattes, denn meist ist nicht genug Arbeit für beide da, einer muss die Krankenkasse melken und ich büffeln, für den Meisterkurs.
Aber nie machen beide Altgesellen zusammen blau. Und nie im Leben hat Jupp eine Mittelohrentzündung, weil der immer seine Ohrstöpsel trägt wegen dem alten kreischenden Kompressor an der Kälteanlage, den die Lebensmittel-Zicke im September stilllegen wird. Der trägt die Ohrstöpsel sogar bei der Jagd, weil er seine Munition selber füllt und die Treibladung selber mischt - ein schrecklicher Gedanke durchfährt mich. Jupp ist nicht besoffen oder krank, der hat den Symptomen nach ein Knalltrauma!
*
Die Erinnerung kommt wie ein Schwall Eiswasser. Als ich noch Lehrling war, im August und gerade am Anfang der Ausbildung, hat Grönwohld die Frischlinge zusammen getrommelt. Um uns gleich von Anfang an alles so beizubringen, dass wir es selber konnten, vom Aufladen auf den Transporter bis zum Servieren der Schlachtplatte mit dem hauseigenen Gemüsefond. Aus dem Grund geht man als Lehrling zu Grönwohld und wird nach der Lehre mit Kusshand woanders eingestellt, weil man ganze Menüs kochen und sogar Maschinen reparieren kann. Die besten behält er selber, die allerbesten kommen in den ruhigen Fleischerladen im Ort, wo sie wegen der Kühlanlage regelmäßig mit Gehörproblemen krank feiern dürfen.
Jeder Frischling hat damals einen Ochsen geschlachtet und Grönwohld uns die Schlachtkörper schön sorgfältig fürs Oktoberfest fertig machen lassen. Danach haben wir alles blitzeblank gewienert, lecker gegessen und waren stolz wie Oskar, dass wir das Oktoberfest beliefert haben. Am Tag drauf war das Fleisch schon weg und alles sah danach aus, als hätte niemand die Einrichtung benutzt.
Nach und nach sind wir dahinter gekommen, wie Grönwohld es hinbekommt, gegen Billigware zu bestehen. Dass nicht immer alles koscher läuft, weiß jeder, wie vieles andere auch und Grönwohld ist nicht der Schlimmste. Woanders wird viel schlimmer betrogen, hinterzogen, abgeschnitten und teuer verkauft. Es hat sich mit der Zeit völlig natürlich angefühlt, auf die schiefe Bahn zu geraten.
Aber steht Grönwohld mit dem Rücken an der Wand? Er muss eine Kältemaschine anschaffen, weil die alte jetzt zu oft den Geist aufgegeben hat, mit den ausgeschlissenen Lagern in den heißen Sommer-Grillfleisch-Monaten im ganzen Ort zu hören und in den letzten acht Wochen drei Mal mit der Feuerwehrsirene verwechselt worden ist.
Eine Ersatzmaschine muss jetzt sein, aber grundsätzlich kauft der Geizkragen, der sicherlich über der modernen Anlage im Gewerbegebiet abzahlen muss, erst etwas Neues, wenn es gar nicht mehr anders geht.
Was mochte Grönwohld nur verzapft haben, dass ihm die Fleisch-Mafia plötzlich lebende Ochsen vom Hof klaut und alles, was man sonst noch unter der Hand verscherbeln kann? Und wie zum Teufel ist mein Benzinkanister vom Hippen-Bauer zum Geldautomaten gekommen?
Steckt doch jemand von den Rasern dahinter? Reicht es nach zwei Jahren Ruhe wieder nicht, die Karren selber so zu feilen, dass die Spitzengeschwindigkeiten die Motoren zum Kolbenfresser zwingen, aber man vorher jede Polizeistreife Reifengummi fressen lassen kann?
Haben sie wieder angefangen, neben den Gewürzen für Grönwohld Päckchen mit anderen Kräutern und bunten Pillen aus Holland mitzubringen, von dem Gras und den Glückspillen probiert und immer noch nicht den Hals voll? Eigentlich hat es die Clique mit einem großen Streit zerschlagen, als ich ausgetreten bin, weil mir die Sache zu heiß wurde. Ich will auf Meister lernen, aber die Jugendsünden sind noch nicht lange genug verjährt, damit ich Lehrlinge ausbilden darf. Die nächsten paar Jahre darf mich und Mattes keiner verpfeifen. Wird uns heute die Kripo auf die Schliche kommen?
Dass ich hingeschmissen und den Kontakt abgebrochen habe, muss nicht heißen, dass die anderen Draufgänger klug genug geworden sind. Vielleicht haben sie einen Autoschrauber-Frischling bequatscht, der meine Rolle übernommen hat und in dessen Wohnung sie jetzt die Beutel mit der Sorte „Honey Weed“ in einer Kartonverpackung von Frühstücks-Cerealien mit dem Namen „Honey Wheat“ aufbewahren. Sie mögen nicht ganz so schlau sein wie Füchse, aber meistens riechen sie wie welche. Mir ist, als hätte ich Absinth getrunken.
*
Wie auf Zuruf klingelt wieder das Mobiltelefon.
Ich halte das Gerät sofort auf Armlänge vom Ohr. Das Kreischen der auf Anschlag scheuernden Kälteanlage vertreibt nicht nur bei der Fleischerei die Ratten im weiten Umkreis. Selbst über die Telefonverbindung starten auf Schlag sämtliche Vögel von den Stoppelfeldern im Umkreis, und das nächste ist bestimmt anderthalb Kilometer von der Arztpraxis entfernt. Für einen Moment weiß ich nicht, ob es die Zahnfüllungen, die Gehörknöchel oder das Mark in meinen Knochen ist, was mehr weh tut.
„Ja, Chef, was gibt’s?“
„Hansi, mein bester Mann, kannst du kurz in der Schlachterei aushelfen?“
„Herrje, ist schlecht. Was hast du denn, ne Notschlachtung? Ne Sau kann ich dir noch weg machen, aber ich kann kein Messer vernünftig halten. Die rechte Hand ist im Verband.“
„Oh, das ist schlecht. Ich hab einen kleinen Großauftrag rein gekriegt und der Mattes und die beiden Lehrlinge sind nicht gut gestellt. Die Freundin vom Mattes hat angerufen, der hängt über der Schüssel, der Jupp hat sich krank gemeldet und die Frischlinge haben Husten und Kopfweh, vertragen kein Licht und können nicht mal richtig geradeaus gucken. Müssen sich wohl auf der Kirmes was eingefangen haben. Bei der Kälteanlage halten sie es gar nicht aus. Mehr als wie Kühlwagen sauber machen war nicht mehr drin.“
„Die Überstunden krieg ich aber sofort und in bar, ich bin gerade erst krankgeschrieben. Was hast du denn?“
„Ja, geht ganz schnell. Ich hab heute früh sechs Ochsen günstig geschossen, die hängen schon in der Fleischerei, aber die müssen noch sauber getrimmt werden und ich muss gleich weg. Die müssen schleunigst an die Seite. Hatten weder Tierpässe noch Ohrmarken. Aber bestes Material, sag ich dir. Schön sauber machen müssen wir die, die sind genau richtig fürs Oktoberfest. Geht doch noch mit der Hand, oder? Hansi? Hallo?“
Texte: J. Lärche
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2022
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Die Geschichte ist wie immer frei erfunden.
Ich bitte darum, den Text mit Augenzwinkern zu lesen und wie ein Stück einer "Späälkoppel" (ländlich geprägte Laienspielgruppe) anzusehen.
Ähnlichkeiten mit Orten, Personen, Ereignissen, Handlungen etc. sind unbeabsichtigt und gerne mir mitzuteilen.
Ähnlichkeiten mit einer in Norddeutschland gedrehten Fernsehserie bitte ich durch Genuss von einem gepflegten "Lütt un Lütt" hinzunehmen.