Katharina Schuster fühlte sich überhaupt nicht wohl, als sie sich im Konferenzraum auf "ihrem" gemütlichen Drehstuhl niederließ.
Ohne den Beistand von Bernd Köhler und Rudolf Brandtner, die links neben ihr saßen, hätte sie sich heute krank gemeldet.
Frauenbeschwerden. Oder Erkältung, kam ja vor Ende September. Die Symptome hätten auch zu einer hoch ansteckenden Magengrippe gepasst.
Selten war es ihr so schlecht gewesen auf dieser Polizeidienststelle, auch wenn sie in ihrer Hilfstätigkeit gelegentlich unter völliger Ahnungslosigkeit und gehörigem Düsenpfeifen entschieden hatte.
Vor der kommenden Dienstbesprechung hatte sie ein so mieses Gefühl, dass sie nicht mal Schokolade mochte.
Es ging nicht wie sonst donnerstags darum, die Fleißarbeit zu verteilen. Heute war letzter Dienstag im Monat, also langer Vormittag mit dem BKA.
Als freie Mitarbeiterin hatte sie eigentlich nichts zu suchen in einer Besprechung, in der es für gewöhnlich um organisiertes Verbrechen statt um häusliche Gewalt ging.
Sie brauchte Gott sei Dank nicht lange zu bleiben. Der einzige Tagesordnungspunkt, bei dem Katharina dabei sein sollte, war dafür eine reichlich knifflige Angelegenheit.
Wenn es glimpflich abging, war das Consulting, für das Katharina eigentlich arbeitete, raus aus der Karriereförderung des Abteilungsleiters Burgmeier, und ihre Chefin guckte einem halben Jahr psychologischer Klienten-Betreuung, kräftezehrender Bewerbungsarbeit und vergeblichem Klinken putzen hinterher - inklusive der vereinbarten Honorare.
Wenn es richtig schlecht lief, hatte Katharina ein halbes Jahr lang unrechtmäßig Gehalt vom Staat bezogen und eine Klage wegen Betrugs am Hals. Dann konnte sie ihre junge Karriere als Unternehmensberaterin knicken und als Regal-Auffüllerin in einem Discounter anfangen.
Doch davon waren Köhler und Brandtner wenig überzeugt. Katharina hatte mit dienstlich besiegelter Duldung von "ganz oben" ein halbes Jahr lang in verschiedenen Funktionen in Burgmeiers Abteilung ausgeholfen. Ohne dass jemand was daran auszusetzen gehabt hatte, und das Consulting hatte dafür Geld überwiesen bekommen.
Brandtner war als stellvertretender und designierter nachfolgender Abteilungsleiter zu Katharinas Disziplinarvorgesetztem bestimmt und hatte seine Unterschrift mit unter die Abmachungen gesetzt.
Katharina war frisch gebackene Wirtschaftspsychologin, zwar weder über- noch unter-, aber gänzlich in einer ungünstigen Richtung qualifiziert. Köhler war die ganze Zeit über ein fast aufdringlicher Mentor gewesen. War’s das schon?
Manchmal schien es ihr, die Obrigkeit wolle nicht viel zu tun haben mit der winzigen zusammengewürfelten Provinz-Abteilung, deren Leiter Burgmeier seit längerem vergeblich ein neues Betätigungsfeld suchte, und die innerhalb der Dienststelle als Feuerwehr für andere Abteilungen herhielt.
Heute kam das BKA mit einem sehr unüblichen Anliegen, ausgerechnet heute war Burgmeier nicht da. Mal wieder unangenehm auffällig, weil er sich schon den zweiten Tag nicht zum Dienst meldete - wie schon mehrmals nicht, wie Köhler und Brandtner geäußert hatten.
Der BKA-Beamte Schneider, auf den sie noch warteten, hätte den Exzenter Burgmeier heute ohnehin missen wollen. Noch stand ein Vorfall von Anfang Februar im Raum, der zu einer ziemlich unangenehmen Anzeige gegen Burgmeier führen konnte - wenn Katharina recht hatte.
Katharina hatte wenig Probleme damit, tief zu pflügen, klare Beweise zu verteidigen und zweifelhafte Indizien zu verwerfen.
Aber sie hatte ein Riesenproblem damit, wenn Kollegen, Klienten oder überhaupt jemand wegen Gerüchten durch den Kakao gezogen wurde, zumal es um mutmaßliche Straftaten ging, die zur Diskussion standen.
Als Jobcoach für Führungskräfte musste sie erst mal dafür sorgen, dass ihre Klienten eine perfekte Performance hatten. Katharina suchte seltener nach passenden Stellenangeboten, sondern polierte Internetprofile, klagte die Löschung unschöner Bilder aus sozialen Medien ein und verbrannte nicht wenig Zeit darauf, Verleumdungen und Gerüchten den Stöpsel zu ziehen.
In den letzten Monaten hatte sie außerdem mit einer völlig anderen Gruppe Jobsuchender zu tun gehabt, gänzlich unbekannte Betätigungsfelder beackert und ordentlich Achtung ihrer Kolleginnen und Kollegen auf sich gezogen.
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Rudolf Brandtner auf linksaußen war in Personalunion Rechtsmediziner und der stellvertretende Abteilungsleiter, blätterte in einem Bewerbungsschreiben, das er eigentlich gar nicht haben durfte und lächelte hin und wieder mal rüber.
Bernd Köhler, Kriminalpsychologe und Mentor, den Katharina über seine Tochter kannte, mit der sie im Studium zusammen gewohnt hatte, hätte am liebsten den Arm um sie legen sollen, aber ein bisschen Haltung musste sie ja doch bewahren. Schließlich war der Gast, der noch aus Berlin unterwegs war, kein ganz Unbekannter.
*
„Kann ich mir wohl noch einen Tee machen?“, fragte sie. „Sicher“, antwortete Bernd. „Schneiders Zug oder der Bus vom Bahnhof haben Verspätung, wie es aussieht. Guck mal nach, ob noch Kaffee da ist, ja? Schneider meint, ich soll die Finger davon lassen, meiner schmeckt wie Spreewasser und du machst den besten.“
„Ich mach den, in dem der Löffel drin stehen bleibt“, entgegnete Katharina, war froh, aufstehen zu können, stellte ein Fenster auf und machte sich in der Kaffee-Ecke nützlich.
Männerwirtschaft. Sie musste Kaffeepulver aufmachen. Der Zucker stand in der offenen Tüte. Immerhin waren die Milch noch gut und die Oberflächen sauber.
Das Gluckern der Kaffeemaschine und die Aromen des Dienststellen-Schweröls beruhigten sie. Der Wasserkocher brauchte noch. Hatte vielleicht eine Essig-Kur nötig.
Aus dem kleinen Fenster der Kaffee-Ecke sah sie wieder die junge Frau, die seit zwei Wochen immer mal träumend auf der Bank auf der anderen Seite der weiten Freifläche vor der Dienststelle saß.
Eine Spaziergängerin vielleicht, aber für eine kleine Verschnaufpause saß sie manchmal ganz schön lange dort, ohne Anstalten zu machen, zur nahen Bushaltestelle zu laufen. Na schön, es war offenes Wetter und dort, wo die Bank stand, duftete es zu dieser Jahreszeit verführerisch nach gemähtem Gras, welkem Laub und Nüssen.
Andererseits fiel schon auf, dass sie immer den gleichen Mantel trug, ob es kühl und nieselig war oder wie heute ein warmer Wind ging. Vor allem war dieser dunkle Mantel ihr viel zu groß und kam Katharina vor wie ein Männer-Trenchcoat. Eine Trauernde? So weit war der nächste Friedhof nicht weg.
Um es vom Bürofenster aus zu erkennen, war die Frau zu weit weg und wenn Katharina Luft hatte, war sie immer schon verschwunden.
Auch Bernd hätte schon gern gewusst, ob sie vielleicht eine war, die Hilfe brauchte. Sie mochte Mitte, Ende zwanzig sein, vielleicht Anfang dreißig, wie Katharina aus der Entfernung schätzte, also im besten Alter, um das erste Mal richtig vom ehemaligen Traumpartner eins drüber zu bekommen.
Nur war die Welt nicht so perfekt, dass Katharina sie einfach ansprechen oder Gedanken lesen konnte und den Schritt über die Schwelle der Dienststelle müsste diese Frau schon selber tun.
*
Auf dem Gang waren Schritte zu hören, gleich danach klopfte es. „Jupp, immer rein, wenn’s kein Schneider ist“, rief Brandtner abwesend.
„Und wenn doch?“, öffnete ein fast Glatzköpfiger die Tür.
Katharina konnte sich vom kräftigen Lachen der Männer kaum anstecken lassen, die sich jetzt mit wuchtigem Handschlag begrüßten und goss ihren Tee auf, bevor sie zurück ging.
Ihr bot der Gast die offene Hand, als erwarte er, ganz korrekt einen Kuss auf die Finger anzudeuten, ohne dass die Hitze seiner geschäftigen Energie nachließ.
Sein Lächeln zog sich aus warmen, wachen Augen über das ganze Gesicht. Wegen der Drei-Millimeter-Haare auf seinem Schädel konnte sie die Muskeln bis fast ganz hinten arbeiten sehen.
„Entschuldigung, die Dame zuerst. Friedrich Wilhelm Schneider, BKA. Ich glaube, wir kennen uns, Frau – Schuster? Haben Sie nicht im Februar bei mir Aussage gemacht?“
Sie versuchte, mit ihrem toten Hering von Katzenpfote den Händedruck zu erwidern. Die Testosteron-Attacke riss sie fast von den Beinen.
„Moin, Herr Schneider. Hab ich tatsächlich. Wir wissen beide, mein Klient ist kein einfacher Fall.“
„Setzt euch einfach“, quengelte Brandtner. „Kostet nichts mehr.“
Schneider legte sofort los: „Die Sache ist, Frau Schuster, das Bundeskriminalamt ist an Ihrem Klienten Herrn Burgmeier interessiert, und zwar als Mitarbeiter.
Insofern haben Sie als sein Jobcoach gute Arbeit geleistet.
Herr Burgmeier möchte sich nochmal beruflich verändern, da wäre es ganz gut, wenn wir mal Informationen austauschen, die in keiner Bewerbung stehen.
Ich könnte mal eine Meinung von außen gebrauchen. Sie sind jemand, der mir weiter helfen kann, deswegen sollte Bernd Sie zu heute einladen.
Machen Sie sich übrigens keinen Kopf drum, dass er etwas gewöhnungsbedürftig ist, der Herr Burgmeier. Ich kenn ihn ja gut genug.
Er war sein Leben lang im Polizeidienst, ganz am Anfang verdeckter Ermittler und hat Personalverantwortung. Da bleibt immer was zurück.
Auf der Stufe in der Nahrungskette, wo er hin will, ist es normal, dass man über Leute den Kopf schüttelt. Wir sind alle nur Menschen.“
Katharina schluckte. „Was kann ich Ihnen denn noch Neues erzählen?“
„Ihre persönliche Perspektive wäre nicht schlecht und ich möchte was über Anfänge verstehen. Auf welche Weise Sie ihn kennen gelernt haben, wie der Kontakt zu Ihrem Beratungsunternehmen entstand, was Ihr persönlicher erster Eindruck von ihm war.
Beginnen möchte ich allerdings gerne mit nachprüfbaren Fakten. Seine Biografie ist ja durchaus interessant. Was wissen Sie zum Beispiel von seinen Anfängen bei der Polizei?“
Bernd zwinkerte aufmunternd, Brandtner hielt sich mit gespitzten Ohren zurück. Katharina war sich nach Bernds Auskünften sicher, dass Ex-Scharfschütze Schneider pikante Geheimnisse entweder vor Gericht oder mit ins Grab schleppte, und in ihrem Fall war das zweite wahrscheinlicher.
„Da muss ich ausholen. Burgmeier war nicht immer sein Name. Aufgewachsen ist er in den neuen Bundesländern. Als die Mauer fiel, war er bei der NVA. Nicht einfach Wehrdienst, er hatte sich verpflichtet auf eine Offizierslaufbahn.
Nach der Wende ist er in den Polizeidienst übernommen worden, das bedeutet, er muss ja trotz dieser Karriereabsichten als hinreichend brauchbar eingeschätzt worden sein. Soweit ich weiß, hat man damals ziemlich genau hingeguckt, wen man holt.
Über die Zeit zwischen neunzig und siebenundneunzig spricht er nicht und wir als Jobberater kommen auch an keine Akten. Da war er verdeckter Ermittler und erst danach taucht er als Burgmeier überhaupt auf.
Mir passt das auch nicht, aber ich durfte im LKA Hannover einige Akten kopieren, in denen sein ursprünglicher Name unkenntlich gemacht wurde. Vieles andere auch, übrigens. Ich kann Ihnen nicht sagen, was er in der Zeit gemacht hat und wie er vorher geheißen hat.“
Schneider lächelte geschmeichelt. „Diese Informationen sind bestens bekannt und gesichert. Ich verrate Ihnen mal im Vertrauen, dass er in den Polizeidienst aufgenommen wurde, weil er schon in der DDR Strukturen hat auflaufen lassen, die einem funktionierenden sozialen Rechtsstaat widersprochen haben. Die hartnäckige Geheimhaltung wird ihre Gründe haben und in den meisten Fällen den, dass er im organisierten Verbrechen ermittelt hat.
Es ist nicht mal unwahrscheinlich, dass Herr Burgmeier immer noch Kontakte in die Illegalität hat. Nicht selten wird mit verdeckten Ermittlern, selbst wenn sie aufgeflogen sind, ein doppeltes Spiel weiter gespielt.
Das ist nicht einfach nur ein schmutziges Geschäft, das ist mitunter eine Möglichkeit, auch für uns an belastbare Informationen zu kommen, die ein Ausbrechen der Gewalt verhindern.
Sie glauben nicht, was das BKA und andere Behörden ausmerzen, wovon die Bevölkerung besser gar nichts mitbekommt. Eine Rockerkneipe auszuheben, und vor laufender Kamera Computer, Waffen und Drogen da raus zu schleppen, das ist wie wenn die Fischers Leni ihre Sommergala im Fernsehen bringt, das ist manchmal eine ziemlich gut inszenierte Show.“
Katharina nahm einen Schluck Tee. „Ich weiß, Herr Schneider. Er hat geduldete Kontakte zu Cliquen, die illegal Autos tunen sowie in bestimmte Etablissements, das ist ja eins unserer Probleme.
Ich hab, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, aushilfsweise hier Opfer betreut. Eine Frau, die ihren Stoff nicht bezahlen konnte und eine junge Aussteigerin aus der käuflichen Liebe. Das muss wirklich nicht an die Öffentlichkeit. Opferschutz nennt man das.“
Schneider legte den Kopf schief. „Dass Burgmeier Ihren Einsatz ziemlich zweckentfremdet hat, war mir bekannt. Aber mir hat er gesagt, solange er wegen seiner Gesundheit Pause machen muss und eh keine Stelle frei ist, sollten Sie seine Rehabilitanden vermitteln.“
„Ja, das war so angedacht, aber die Gebühren von einer Unternehmensberatung, die Führungskräfte vermittelt, sind zu teuer. Vielleicht der Reihe nach, damit ich nichts vergesse.
Also, achtundneunzig ging er dann ja nach Hannover, hat noch irgendwas studiert oder so, und hat dann in der Jugendarbeit angefangen. Offener Vollzug, Rehabilitationsprogramm und Prävention, weil er echt einen Draht zu Jugendlichen hat. Muss ich ihm wirklich lassen, die Vermittlungsquote kann sich sehen lassen.
Spätestens ab dem Zeitpunkt hatte er es mit Politik zu tun, weil nach jeder Wahl versucht wird, irgendwo zu sparen. Die Integration von Jugendlichen, die zwar nicht was verbrochen haben, aber auf dem besten Weg dahin sind, ist da der Schleudersitz schlechthin.
Für mich wäre das, als wie wenn ich die Haustür auflasse, weil bei mir noch nie eingebrochen wurde. Aber egal.
Vor acht Jahren hat er nochmal am Stühle-Rücken teilgenommen und hat das Programm teilweise hierher in die Provinz ausgesiedelt, musste sich aber erst mal die Stellen schaffen. Das ging letzten Endes nur über einen Deal, indem er Arbeit umverteilt und seine Abteilung Aufgaben von anderen mit übernimmt.
Die Dienststelle beschäftigt zwei Sozialpädagoginnen als Schreibkräfte, die auch mal kaputte Seelen auffangen können, was ich aushilfsweise mache als Marketingfrau und Wirtschaftspsychologin, aber weil die anderen beiden wegen der Kinder nicht Vollzeit arbeiten.
Burgmeier hat einen Sekretär, der sich mit Mittelakquise und Buchhaltung auskennt, aber eigentlich bei der Kripo die Fälle von Wirtschaftskriminalität ermittelt, dann Bernd, der mit ein paar Stunden Krisenpsychologie seine Vollzeitstelle vollpackt, Herrn Brandtner als Hausarzt für die Rehabilitanden, falls die mal krank werden, einen Richter als pro forma Dienstaufsicht, und für den ganzen anderen Kram nur noch sich selber.
Soweit ich weiß, betreut er bis zu sechzig Problemfälle in mindestens zwölf verschiedenen Betrieben und die größte Ballung davon ist eine Gruppe Pflege- und Verwaltungskräfte in einem Krankenhaus kurz hinter der niederländischen Grenze, weil er dafür noch europäische Fördermittel locker machen konnte.
Kurzum, diese Abteilung ist erfolgreich, aber sie ist ein Chaos, das man nicht ausführlich in eine Bewerbung für eine hohe Behörde schreiben sollte und eine Lücke von sieben Jahren im Lebenslauf, besser gesagt, von Geburt bis Ende zwanzig, die kommt nicht gut, wenn man in ein politisches Amt möchte.
Deshalb haben wir uns drauf verständigt, Herrn Burgmeier über so etwas wie den Dienstweg in halbwegs politische Ämter in Verbindung mit Jugendförderung zu bekommen. Darin liegt schon immer sein Interesse und für den Job als Leiter dieser Abteilung wird er allmählich zu alt.
Im Februar war er schon in Reha, da hat man wohl festgestellt, dass er erhebliche gesundheitliche Probleme hat, die eindeutig auf Überarbeitung zurück zu führen sind.
Verfolgt das BKA denn meine Aussage aus dem Februar noch weiter oder haben wir wenigstens in der Angelegenheit Ruhe?“
Schneider setzte sich anders hin. „Ob Sie es glauben oder nicht, der Fall ist kurz davor, eingestellt zu werden. Es gibt eine plausible andere Erklärung als Ihre, aber nichts Belastbares. Lassen Sie uns mal im Februar anfangen. Sie haben ausgesagt, Sie hätten durch eine verschlossene Tür Burgmeiers Stimme gehört, wie er eine Frau misshandelt. Ganz von vorne, vielleicht?“
„Ja, das war am ersten Sonntag im Februar in diesem Gebäudekomplex aus lauter Bürogebäuden und Ateliers.
Ich war noch am Studieren, als Model und Kosmetik-Assistentin gebucht für ein Shooting und hab mich im Gebäude versehen, weil da eine Zahl von der Gebäudenummer abgefroren war.
Ich bin also rein, einen Flur runter und hab aus einem Konferenzraum Stimmen gehört. Mehrere Stimmen, viele.
Eine Frau hat geschrien, vor Schmerzen, da bin ich mir sicher.
Ein Mann, und ich denke, es war Burgmeier, die Stimme ist relativ prägnant, weil rau und metallisch und er nuschelt nasal, hat gerufen, ja, Junge, gib’s ihr.
Daran erinnere ich mich genau.
Ich hab natürlich alle Türen probiert, um da rein zu kommen, vergeblich, und gerufen, he, was ist da los, auf einmal war alles leise und da hab ich erst am Türschild gesehen, ich bin im verkehrten Gebäude.
Ich war spät dran und hab auf dem Weg zum richtigen Gebäude die Polizei gerufen, die Streife hat aber niemanden mehr gefunden.
Mit drinnen war ich aber nicht, da war wohl ein Hausmeister, der die rein gelassen hat und nachher war ein Dienstsiegel davor.
Abends hab ich Bernd davon erzählt und der hat mich an Sie verwiesen.
Beim Shooting hab ich mir eine Erkältung eingefangen und konnte dann erst am Dienstag bei Ihnen die Aussage machen.“
„Sicher, und das war noch günstig. Ich komm nicht alle Tage hier in die Gegend. Haben sich die Kollegen denn nochmal gemeldet?“
„Nein, da ist nix mehr von gekommen.“
„Na, dann ist ja gut, dass ich mal was weiß, was Sie nicht wissen.
Obwohl es ziemlich kompliziert, konstruiert und eigentlich was ist, das man verfolgen könnte. Ich bin Ihrer Aussage natürlich nachgegangen.
Die Kollegen hatten tatsächlich die Kripo und die Spurensicherung vor Ort, weil sie in dem Raum Einrichtung und Gegenstände gefunden haben, die da überhaupt nichts verloren hatten. Ich sag mal, was für Leute ab einundzwanzig.
Es hätte nach schwerer körperlicher Misshandlung aussehen können, aber die SpuSi hat rein gar nichts gefunden, was man irgendwie nutzen könnte.
Es gab haufenweise unbekannte Fingerabdrücke, menschliche Hautschuppen mit unbekannter Erbsubstanz, deren Fundumstände keinen Hinweis auf Gewalteinwirkung geben, kein Blut, dafür Flecken von alkoholischen Getränken, Kokain, ein paar Pillen für den älteren Herrn, ein paar mehr für ein Wochenende im Discofieber, und vor allem nur Hinweise, dass da irgendjemand eine sehr spezielle Party abgezogen hat.
Ich hab zwei Wochen gebraucht, um den Besitzer der Räume festzustellen, was prinzipiell ein Untermieter war aber nicht mehr ist, ein Startup, der sich drauf spezialisiert hat, kurzfristig Geschäftsräume zu pachten und zu vermieten.
Der hatte die Etage von Januar bis April auf Verdacht angemietet, und von montags bis freitags an eine Wochenzeitschrift weiter vermittelt, deren Redaktionsräume in Renovierung waren und deren Redakteurinnen meist auf Reisen sind oder von zuhause aus arbeiten.
Irgendwann hatte ich dann einen Geschäftsführer bei den Hacken, der mich samstags da durch geführt hat, Ortstermin.
Der Raum ist riesig, kann innerhalb von zwei Stunden vom Großraumbüro zum Konferenzsaal mit Bühne umfunktioniert werden, was die Gebäudetechnik immer freitags abends macht, wenn dort samstags eine Veranstaltung läuft, und hat, sofern er nicht mit Büromöbeln zugestellt ist, eine saumäßig gute Akustik.
Ich hab diesen Mietfuzzi gelöchert, dass ich ihn wegen dieser Einrichtungsgegenstände dran kriege, die dazu taugen, Leute zu quälen, bis er ausgeplaudert hat, dass am Wochenende der Raum auch von einem Tonstudio genutzt wird.
Ich soll aber nicht weiter sagen, dass dieses Tonstudio gelegentlich für einen Verlag arbeitet, der als Subunternehmen von einem renommierten Druckhaus Hörbücher und dergleichen verkauft, die dieses Druckhaus nicht mal mit Einweghandschuhen anfasst.
Dieses Tonstudio hat einen Schlüssel zu den Räumlichkeiten und zahlt vor allem deswegen schwarz, weil sie dort auch Stimm- und Sprachübungen für Leute machen, die künftig ihre Hörspiele lesen, und Trockenübungen für Hörspiele, bei denen so viele Statisten auftauchen, dass es zu kompliziert ist, jedem eine Tonspur zu verpassen.
Dieses Tonstudio ist aber nicht jedes Wochenende da, vielleicht ein oder zwei Mal im Monat, und gerade an dem Wochenende nicht, weil da angeblich irgendeine Konferenz von der Wochenzeitschrift siehe oben vorgemerkt sein sollte, die es aber nicht gegeben hat.
Die Wochenzeitschrift hat ein Alibi, die hatten Rohbauparty mit Brunch, das Tonstudio war geschlossen Karnevalswagen bauen und der Mietfuzzi in Österreich Ski fahren.
Laut Belegungsplan des Hausmeisters war dieser Samstag Anfang Februar der einzige zwischen Januar und April, in dem das ganze Gebäude frei und unbeheizt war.
Laut Aussage des Hausmeisters wäre es nicht die erste illegale Party, die die Polizei da hops nimmt und ich befürchte, der einzige, der uns helfen kann, rauszufinden, wer dort seine Möbel hinterlassen hat, ist Kommissar Zufall.“
Katharina lehnte sich zurück. „Und ich hatte Stress mit dem Shooting und mit dem Studium, weil ich mit meiner Abschlussarbeit hinterher gehangen habe. Außerdem hab ich in der Woche drauf mit Grippe flach gelegen.
Was noch dazu kommt, war die Wegstrecke. Ich hab mich auf dem Hinweg fünf Stunden durch Schnee und Hagel gekämpft. Auf dem Rückweg war die Front durch, da hab ich nur drei Stunden gebraucht.
Aber ich war schon total platt, als ich angekommen bin. Da sagt doch auch jeder, die hatte nicht alle beisammen, die hat halluziniert.“
„Übrigens stehen die Möbel und der ganze Kram jetzt unter Alias in einem Online-Auktionshaus angeboten. Die sind als Beweismittel nicht mehr zu gebrauchen und verstopfen das Asservaten-Lager. So viel dazu, dass bei der Polizei alles sauber läuft. Burgmeier ist nicht der einzige, der im Trüben fischt, Frau Schuster.“
„Es geht aber so nicht weiter“, meldete sich Brandtner. „Burgmeier wird wunderlich. Er vergisst Termine und sich abzumelden. Neulich war er zwei Tage weg und sagt nicht, wo er war.
Letztes Wochenende hat er sich spontan frei getauscht, da hab ich für ihn Notdienst gemacht, und er geht wieder zwei Tage nicht ans Telefon.
Und er wird biestig. Außerdem wollen die ihm wieder Mittel kürzen. Es ist ne Frage der Zeit, bis er seinen Frust an den Jugendlichen auslässt. Er braucht Hilfe. Zügig.“
Schneider hob die Brauen.
„Ende vorigen Monats, da war er beim BKA, hat sich vorgestellt und Order bekommen, das nachträglich als spontanen Sonderurlaub einzutragen, wenn Sie das meinen.
Ja, beim Geld hört die Freundschaft auf. Hatten Sie mal Einblick in seine Finanzen, Frau Schuster?“
„Und ob. In die dienstlichen und die privaten auch. Zwangsläufig, weil er so ein Dickschädel ist.
Die Dienstaufsicht hat ihn ja eh auf dem Kieker, weil er alle sechs bis acht Wochen Beschwerden produziert.
Sein Sekretär hat uns vorletzte Woche die letzten vier Jahre vorbei gebracht, die sagen eigentlich alles. Er geht da sehr kreativ mit um.
Es gibt bestimmte Eignungstests und Assessment Center mit Teilnahmegebühr, die werden nirgends erstattet.
Er hat für einige, ich glaube sogar minderjährige Rehabilitandinnen die Gebühren und teilweise sogar die Fahrten dahin aus eigener Tasche bezahlt oder ist mit ihnen hin gefahren.
Für die drei, was so die krassesten Fälle sind, hat er zusammen fast zwei Monatsgehälter spendiert und quasi nichts davon, außer, dass sie mit seiner Hilfe inzwischen von Vollwaisen zu Chefsekretärinnen geworden sind.
Er bezahlt Unterhalt für eine Frau und eine Tochter.
Die Scheidung muss noch zu DDR-Zeiten passiert sein, ganz jung, aber er zahlt freiwillig, weil die Tochter wohl eine Behinderung hat.
Ansonsten macht er Immobiliengeschäfte, hat Bau- und Investitionskredite am Laufen und ist Mitglied in einem Anlegerverein.
Bis aufs Letzte kann ich es nicht sagen, aber es sieht gewaltig danach aus, als würde er denen, die nach der Rehabilitation nicht so ganz auf die Beine kommen, billig Wohnraum anbieten, damit sie nicht sofort wieder in der Stütze landen.
Der Steuererklärung nach ist er manchmal als Talentscout unterwegs, um wenigstens einigermaßen bei Kasse zu bleiben.
Er fährt einen fünfzehn Jahre alten Skoda Oktavia, wohnt in einer Mietskaserne, hat fünf Stunden in der Woche eine Rentnerin als Haushälterin.
Wenn ich das so sagen darf, ich würde ihm gerne mal andere Klamotten empfehlen.
Als ich ihn im letzten November das erste Mal gesehen habe, hatte er einen fettigen Scheitel und einen verschlissenen Trenchcoat.
Einen neuen Mantel hat er sich zugelegt, wieder einen Trenchcoat.
Politisch kommt sein Äußeres rüber wie eine Bomberjacke mit Springerstiefeln. Bevor er zu Ihnen kommt, mache ich noch mal Runderneuerung.“
„Wenn es nötig wird, melde ich mich. Hat er finanziell irgendwelche größeren Summen oder auffällige Bewegungen?“
„Ja, leider. Er hat ein dienstliches Spesenkonto, da geht die Post ab.
Da kann er zwar diese Sonderkosten für seine Jugendlichen nicht anbringen, dafür bekommt er da neuerdings seine Einnahmen aus der Talentvermittlung drauf, wahrscheinlich um die nicht zu versteuern und da oben mal die Faust zu zeigen und dafür zahlt er von der Karte eiskalt die Besuche in bestimmten Etablissements.
Es mag ja gesellschaftlich geduldet sein, Herr Schneider, aber bei dem, was er da umsetzt, muss er richtig die Puppen tanzen lassen.“
Schneider kaute auf seinen Lippen. „Was das mit den Provisionen auf sich hat, kläre ich nachher, aber von diesem Spesenkonto weiß ich.
Sie sollten sich da keine Gedanken machen, Frau Schuster, lassen Sie die Finger davon.
Dieses Konto wird sehr gut beobachtet. Von diesem Konto werden Schmiergelder bezahlt, Schutzgelder und Informationen.
Es kann durchaus sein, dass er eine unanständige Dienstleistung abrechnet, aber in Wahrheit dafür geheime Informationen über Drogenlieferungen abkauft.
Mussten Sie ihn mal hinfahren zu so einem Etablissement? Wann ist er dort, während der Öffnungszeiten oder außerhalb?“
Katharina wurde es kalt. „Keine Ahnung. Was – steckt er da mit drin, oder wie?“
Schneider warf einen Blick zu den anderen, der nicht erwidert wurde.
„Es mag in den letzten vier Jahren nicht mehr vorgekommen sein, aber zu seinen Zeiten in Hannover hat er mehrfach Frauen aus solchen Etablissements heraus gekauft. Misshandelte, Illegale, sehr sehr junge.
Bezahlt hat er mit registrierten Scheinen, gezogen hat er die an präparierten Automaten mit der Karte von genau diesem Konto.
Das BKA konnte die Scheine dann verfolgen und hat Leute hops genommen, die man nie mit organisierter Kriminalität in Verbindung gebracht hätte, die aber gesungen haben wie die Meisen im März, weil man bei ihnen pfundweise Koks gefunden hat.
Auch wenn ich mich wiederhole und so etwas nicht oft gelingt, Frau Schuster, es läuft nicht immer alles sauber. Oder nach dem Schema Schwarz und Weiß. Waren Sie schon mal in Berlin? Da ist nachts alles grau und tagsüber alles bunt. Da lernen Sie mal kennen, was Chaos ist.“
„Aber warum will das BKA so einen Chaoten? Was soll er denn machen im BKA? Fällt es auf mich zurück, wenn das schief geht?“
„Zu Frage drei, nein, und sonst, darf ich nicht sagen. Im BKA selber laufen sogar mir zu viele Pedanten und Perfektionisten rum, das gibt nur Krieg.
Burgmeier hat haufenweise Kontakte, kann wieder abtauchen. Er hat nichts zu verlieren, keine Familie in dem Sinne, und er zahlt die Alimente auch nicht freiwillig, das behauptet er nur.
Offiziell kann er in Vorruhestand, dann hat er seine freie Zeiteinteilung, die er hier vermisst, und so umtriebig wie er ist, ist er ganz schnell ein prima Neonazi-Informant.
Er rückt nur nicht damit raus, was er verdienen möchte. Hat er sich woanders beworben? Was zahlen die denn?“
„Sein Traum ist immer noch Bundestag, besser gesagt, Mitarbeiter von einem MdB, Innenministerium oder Auswärtiges Amt, ganz egal.
Hauptsache rum kommen und mal spüren, dass man was bewegt. Deswegen hat er sich auch für die Entwicklungshilfe beworben und fürs Bundesamt für Migration.
Für die Entwicklungshilfe muss er aber körperlich fitter werden, die haben nur was in Afrika oder da, wo das Klima auf den Kreislauf geht. Und im Bundesamt für Migration haben sie nur Schreibtischjobs für revidierte Asylanträge.
Es könnte sein, dass Ende des Monats eine Sekretärin in Mutterschutz geht, da hätte er was Interessantes, aber nur für höchstens zwei Jahre. Und im Grunde möchte er schon noch mal ins Ausland.
Wälder nachpflanzen in Brasilien oder Thailand. Oder diese traditionelle Landwirtschaft in Afrika wieder stärken, wo sie Baumreihen pflanzen und dazwischen alles Mögliche durcheinander anbauen.“
„Natürlich, man muss auch mal was Neues wagen im Leben. Ganz ehrlich, Frau Schuster, er mag ja ein gewöhnungsbedürftiger Armleuchter sein, manchmal, aber er weiß, was sich gehört. Er sieht immer die Schwachen und fördert die, die aus jeder Norm fallen."
Katharina lehnte sich an ihrem Schreibtisch zurück. Die Dienstbesprechung lief ohne sie weiter, bloß gut.
Schneider hatte recht, auch sie hatte als Quereinsteigern durch Burgmeier eine Chance bekommen, die Vollzeitstelle auszulasten.
Überall gierte alles nach Perfektion. Mit definitiv Unvollkommenen konnte nicht jeder.
Aller Voraussicht nach bekam Burgmeier eine Stelle beim BKA, Katharina eine Vermittlungsprovision sowie ein Angebot als freie Mitarbeiterin der Dienststelle.
Nach so einem Vormittag hatte sie sich bestimmt eine Belohnung verdient, holte die Schachtel Süßes aus der Schreibtischschublade und schielte zu ihrem Lieblings-Pausenplatz.
Die junge Frau im Trenchcoat saß immer noch dort.
*
"Ist noch frei?" hielt Katharina der völlig Überraschten die Schachtel mit einzeln eingepackten kleinen Schokoriegeln hin.
Verwirrt angelte sie sich ein Vollmilch-Bonbon.
"Danke, klar. Arbeiten Sie hier?"
"Hmhm, aber Zeitvertrag. Suchen Sie?"
Die junge Frau seufzte und naschte.
"Ich soll mich seit zwei Wochen bei einem Herrn Burgmeier melden wegen einer Rehabilitation. Die Frau am Telefon meinte, das geht auch ohne Termin.
Das Problem ist, ich hab Angst davor und weiß nicht, warum.
Mir kommt der Name so unheimlich vor. Als hätte ich ihn schon mal gehört, aber ich kann mich wirklich nicht erinnern."
"Tja, der Herr Burgmeier ist heute nicht da und die Abteilung gerade in der Dienstbesprechung. Kann ich weiter helfen, soll ich was ausrichten?“
„Sie sehen so aus, als könnte man Ihnen was erzählen, nicht?
Das wird Ihnen wie ne ganz bekloppte Story vorkommen, aber ich hab Dokumente dabei, dass ich zwischen Anfang Februar und Anfang April in der geschlossenen Psychiatrie war, und davon ein paar Tage künstliches Koma.
Ich kann seitdem nicht arbeiten, traue mich kaum noch raus. Ich habe kein Geld mehr und schaffe es nicht, Stütze zu beantragen. Ist mir alles zu viel. Ich bin vergiftet worden, müssen Sie wissen.“
„Ich bin jetzt keine Expertin, aber wir können das gerne besprechen und ich nehme das mit rein, wenn Sie nicht über die Schwelle mögen.
Wir können vereinbaren, dass wir zu Ihnen nach Hause gehen, oder ins Café.
Es gibt viele Menschen, die halten sich nicht gerne in so einem Gebäude auf.
Ob es wegen der Polizei ist, oder weil es ein großes Gebäude ist oder weil die Flure so hallen.“
Jetzt hatte sie einen Punkt getroffen.
„Ich bilde mir das nicht ein, hören Sie? Ich kann mich nur an nichts erinnern.
Ich hatte Drogen intus, fast eine Überdosis. Ich muss noch alleine Auto gefahren sein, und bin dann hier angehalten worden, weil ich Schlangenlinien gefahren bin.
Das nächste was ich weiß, ich bin im Krankenhaus aufgewacht. Nichts Schlimmes, blaue Flecke, aber überall, verstehen Sie? Und völlig entzündete Stimmbänder. Als hätte ich um mein Leben geschrien. Aber ich erinnere mich an nichts.“
„Das ist sicher polizeilich aufgenommen worden, oder?“
„Ja, aber ohne Ergebnis. Die Story klingt ja auch viel zu abgefahren und einige Details hab ich erst neulich durch Hypnose wieder heben können.“
„Ich kann alles gebrauchen, an was Sie sich erinnern. Darf ich es mit dem Handy aufnehmen?“
„Klar, aber – bringt das was?“
„Sieht man immer erst hinterher.“
*
„Also okay, ich war auf dieser Party in – weiß ich gar nicht genau. Jedenfalls hatte ich nichts getrunken, weil ich selber gefahren bin und nicht mal Wasser genommen, weil mir der Laden zu dreckig war und eine Toilette für alle.
Irgend so eine alte Werkhalle oder was. Verabredung übers Internet. Mach ich nie wieder.
Ich konnte bei zwei Typen pennen, wenn ich sie nach Hause fahre, aber die haben mich total alleine gelassen.
Dann hab ich einen gefunden, der hatte Stoff dabei. Wollte ich aber ja auch nicht. Hat mich eingeladen, für Sonntagvormittag, in ein Konferenzzentrum, ein paar Kilometer weg.
Szeneparty, ich sollte ausgeschlafen und aufgetakelt sein. Wären viele Bonzen da, vielleicht könnte er mir nen Job anbieten.
Hätte ich gebrauchen können, war damals schon am Aufstocken wegen ner Mieterhöhung.
Ich wollte die Jungs mitnehmen, die waren total stoned, ich bin dann ohne sie weg.
Ich sonntags zu diesem Konferenzzentrum, ein Riesenkomplex, hab mich erst mal verirrt und bin in einem Shooting gelandet, besser gesagt, die waren gerade am Aufbauen.
In nem ganz anderen Gebäude hab ich dann die Party gefunden.
Abgefahren, völlig irre. Hab nur mal durch die Tür geguckt und mich gegruselt. Alles zappenduster bis auf Kerzen auf der Bühne.
Die Frauen alle in knappen Kleidern, und absolute Spitzenmarken.
Die Kerle in der Überzahl, nicht zu alt, steinreich, konnte man sehen. Haben es wenigstens so raus hängen lassen.
Hab gedacht, jo, da findest du bestimmt einen, wo du Geld verdienen kannst.
Alle am Schnupfen wie die Staubsauger, da musste ich auch eine Pille nehmen und einen Sekt.
Die Pille hat mich total aus den Socken gehauen. Kaum dass ich durch die Tür war, setzt meine Erinnerung aus. Darf ich noch eine Vollmilch?“
"Klar, nimm dir. Die sind gut, ne?" "Ja, was für die Seele."
Sie lutschte und träumte.
„Ich erinnere nicht an viel, aber langsam kommt es wieder. Da war eine Bühne. Da waren so Möbel für, also wenn – weißt du, was ich meine?“
Katharina nahm sich einen Brocken Zartbitter.
Der Mantel der Frau kam ihr bekannt vor. Der Schnitt, der Zustand. Aber nicht die Farbe.
„Ich denke schon. Spezialanfertigung. Sollen die Kinder nicht sehen, sowas.“
„Okay, du weißt, was ich meine. Total unheimlich. Eine von den Frauen meinte, entspann dich, gleich geht’s richtig rund. Da zeigen die es vor allen Leuten. Alle die wollen dürfen mal probieren wie es ist.“
„Und du wolltest?“
„Ich hab mir Mut angetrunken und gedacht, was die Schauspielerinnen können, kann ich auch, vielleicht bietet mir dann einer nen Job an oder nimmt mich als Freundin.
Hab mich total rein gesteigert. Wie das so ist, mit synthetischen Drogen.“
„Dann haben sie dich verprügelt?“
Sie atmete durch. „Dazu ist es nicht mehr gekommen. Das Schlimme ist, ich wollte sie beeindrucken. Das weiß ich noch. Hatte irgendein Zeug drin, das mich schmerzunempfindlich macht.
Ich glaube, sie waren so gepusht, ich hab Glück, dass ich nicht gestorben bin.
Ich hab neben meinem Körper gestanden und zugesehen. Schick mich jetzt bitte nicht in die Klapse. Da komm ich grad her und die glauben mir inzwischen.
Auf jeden Fall müssen sie gestört worden sein. Mit einem Mal war alles starr und still und die ersten sind durch den Notausgang raus.
Mich haben sie in mein Auto geschleppt, davon hatte ich die blauen Flecken, und sind über alle Berge. Polizei, Polizei, hieß es.
Ich hatte Panik, dass sie mich wegen Drogen dran kriegen und bin nach Hause gefahren.
Ich hab keine Schmerzen gespürt, nichts, war nur total aufgedreht.
Die Halluzinationen wurden immer schlimmer, aber ich hab’s noch bis hierher geschafft. Den Rest kennst du."
Sie aalte sich in ihrem Mantel.
"Was ich Fremdes bei mir hatte, war dieser Trenchcoat hier. Da hatten sie mich drin eingewickelt, als sie mich in mein Auto geschmissen haben. Den hat die Spurensicherung mir zurück gegeben, war nichts Verwertbares dran.
Den muss ich irgendwie immer bei mir haben, dann kommt die Erinnerung wieder. Ich hab ihn mal schwarz eingefärbt, das sieht irgendwie stylischer aus, finde ich.“
Sie nahm sich noch ein Stück Schokolade. Katharina drehte sich der Magen um.
„Die Hämatome waren nach zwei Tagen weg, aber ich hatte voll den Ausschlag von den synthetischen Drogen, deswegen künstlicher Tiefschlaf.
Das allerschlimmste waren tagelange Entzugserscheinungen von den Pillen, darüber bin ich fast durchgedreht, und eingeworfen hab ich die selber.
Da wird jedenfalls keiner für in den Knast wandern, aber das muss an die Öffentlichkeit, dass die jungen Dinger da die Finger von lassen.
Dumm ist nur, mein Nervensystem hat was zurück behalten. Ich hab Aussetzer und so. Vergesse tagelang, was zu essen. Aber es wird besser, echt.
Mir fällt übrigens auch wieder ein, warum ich diesen Namen so gruselig finde.
Ich glaube, so hat der geheißen, der mich – also der am meisten – niemand hat mich nicht geschlagen, aber er fand es toll, mich kreischen zu hören, als würde er.
Halt mich für bekloppt, aber ich glaube, er hätte mich tot geschlagen.“
„Der Name muss ja nichts heißen, weil wahrscheinlich jeder auf einer illegalen Party einen Alias benutzt.
Wir haben andere Mitarbeiter, die sich um deinen Fall kümmern können. Wenn du dich erinnern kannst, wird die Kripo nochmal ermitteln.
Dieser Mann ist auf jeden Fall Zeuge. Kannst du ihn beschreiben?“
„So einen vergisst du nicht. Der passte da überhaupt nicht rein.
Mitte, Ende fünfzig, untersetzt bis fett, speckiger Scheitel, total abgewetzte Opa-Klamotten, völlig underdressed.
Eine Stimme wie ein rostiger Wasserhahn, nur die Lippen kriegt er nicht auseinander, und stinkt über zwei Etagen nach altem Mann, ungewaschener Kleidung und Knoblauch.
Er meinte, wenn ich richtig aus mir raus käme, so urschreimäßig, würde er mich Herrschaften vorstellen, bei denen ich nicht viel arbeiten muss.
Den Satz vergess ich nie wieder, seit ich mich selber - also – Depersonalisation sagt man - ich versau dir deine Pause, oder?“
„Ja und? Pass auf, ich guck mal, ob ich einen Phantombildzeichner klar machen kann, ja?
Bleibst du kurz hier? Ich brauch ne Viertelstunde, die machen immer spät Mittag. Oder kommst du mit rein?“
„Lass die Schokolade hier, dann bleib ich sitzen.“
Katharina musste ihre Schritte bremsen, um nicht lang hinzufallen.
Im Eingang kamen ihr schon Brandtner, Köhler und Schneider entgegen.
Schneiders Gesicht war hart und bleich geworden.
"Wir bekommen gerade Informationen über Herrn Burgmeier, Frau Schuster. Wissen Sie was davon, dass er verreisen wollte?"
"Nein, warum?"
"Weil irgendjemand seine Konten abgeräumt und als letztes Burgmeiers Flugticket nach Thailand bezahlt hat. One way.
Der Flug ging Sonntag Nachmittag. Die Kollegen haben das Handy nachverfolgt, am Flughafen in Phuket verliert sich die Spur."
Katharina hätte eine Familientafel Vollmilchschokolade gebrauchen können.
"Meine Herren, ich fürchte, ich muss Ihnen jemanden – darf ich Sie mit jemandem bekannt machen?“
Texte: J. Lärche
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2022
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Allen Verschwörungstheoretikern: „Orte, Personen, Handlungen, Ereignisse etc. sind frei erfunden.“