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Kapitel 1


Wie so oft in letzter Zeit starrte ich aus dem Fenster, betrachtete die blühenden Pflanzen auf dem Hof, sah zum Himmel hinauf und fragte mich, was ich getan hatte, um das zu verdienen. Ich hatte nie gestohlen, Drogen genommen oder mich heimlich aus dem Haus geschlichen. Auch bin ich nie irgendwo eingebrochen oder habe unschuldige Menschen absichtlich verletzt. Ich war immer höflich zu Erwachsenen, half meiner Mutter im Haushalt und machte immer brav meine dämlichen Hausaufgaben. Also warum das alles?

Als die Sonne aus der Wolkendecke hervor brach, blendete sie mich, sodass ich gezwungen wurde mit zusammengekniffenen Augen nach vorn zu Blicken. Vorne neben der grünen, mit Kreide bekrizelter Tafel stand eine kleine, rundliche Frau, die irgendetwas über das 18. Jahrhundert erzählte. Was genau sie uns eine Stunde lang zu erklären versucht hatte, wusste ich nicht. Ich konnte mich einfach nicht auf diese Geschichtsstunde konzentrieren, mir ging einfach zu viel durch den Kopf.
Mein Blick streifte weiter durch die Klasse. Meine Freunde saßen weiter vorn als ich, da ich mich heute morgen in die hinterste Ecke des Zimmers gesetzt hatte. Ich ertrug ihre Nähe zur Zeit einfach nicht. Als ein schrilles Klingeln ertönte, packte ich meine Sachen zusammen und verließ den Raum fluchtartig.
In meinen Gedanken versunken, ging ich durch die Flure. Es war laut. Alle um mich herum schwatzten aufgeregt und erzählten, wo sie ihre Ferien verbringen würden. Frühjahresferien waren doch nun wirklich nicht so toll, das man sich darüber unterhalten musste, oder?
Nur mit mir redete keiner. Naja, kein Wunder. Ich war schließlich diejenige, die seit zwei Tagen ihren Freunden aus dem Weg ging und jedes angehende Gespräch sofort abwürgte.
Warum ich das tat? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht tat ich dies, um meinen Problemen aus den Weg zu gehen und ganz sicher tat ich das, um mir den schmerzlichen Abschied zu ersparen. Ich spürte wie mir, bei dem Gedanken Abschied nehmen zu müssen, die Augen anfingen unangenehm zu brennen. Schnell wischte ich mir über die Augen, um nicht mitten in den Schulfluren in Tränen ausbrechen zu müssen. Die Zeit floss mir regelrecht durch die Finger und ließ das Unglück immer näher und damit schneller auf mich zukommen.
Plötzlich packte mich jemand an den Schultern und riss mich herum. Blaue Augen blickten mich wütend an. Erschrocken wich ich zurück und versuchte schon wieder meinen Tränen einhalt zu gebieten. Nervig! Sonst war ich doch auch nicht so Nahe am Wasser gebaut.
„Verdammt, Sarah! Wo zum Teufel hast du dich in den letzten Tagen versteckt? Du bist immer so schnell aus den Klassenräumen gerannt, dass ich gar nicht mehr mit dir reden konnte. Was soll das? Ich bin doch immer für dich da und das weißt du“, schrie meine beste Freundin mich wütend an.
Das brachte das Fass zum überlaufen. Nun gab es kein Halten mehr, die Tränen liefen erst tröpfelnd und dann in Sturzbächen meinen Wangen herab.
Meine Freundin sah mich bestürzt an und nahm mich in ihre Arme. Ich konnte nicht anders als laut los zu schluchzen.
„Es tut mir so leid. Aber ich wollte - dich nicht verlieren und der Abschied rückt doch immer näher“, schluchzte ich und löste mich aus ihren Armen.
Ich wollte ihren blauen Pullover nicht mit meinen Tränen durchweichen und ihn schon gar nicht mit meinem wahrscheinlich total verschmierten und zerflossenen Maskara voll schmieren.
„Aber du kannst den Abschied doch nicht umgehen, indem du dich vor mir und den anderen versteckst! Wir sollten unsere verbleibende Zeit zusammen genießen. Ich will dich doch auch nicht verlieren. Du bist doch meine beste Freundin und ich hab dich so lieb“, sagte Anne mit sanfter Stimme und auch ihre Augen glitzerten nun gefährlich.
Genau so etwas wollte ich vermeiden. Szenen in denen wir uns unter Tränen beteuerten, wie wichtig wir uns waren.
Ich wischte mir abermals über die Augen und versuchte zu lächeln, was mir wohl ziemlich gut gelang, da auch Anne ein schiefes Grinsen zustande brachte.
Hach, Anne würde mir so fehlen! Wie konnten meine Eltern von mir verlangen, sie und meine anderen Freunde hier in Deutschland zurück zu lassen. Ich meine, was bin ich schon ohne sie? Ohne meine quirlige, witzige, temperamentvolle, beste Freundin Anne, die in jeder Situation an meiner Seite ist und mich immer in allen unterstützt.
Ohne den geheimnisvollen, gut aussehenden und gutmütigen Sven, der mich spielerisch piesackt und mich vor alles und jeden beschützen will.
Ohne Marie, die so still und ruhig war und immer ein offenes Ohr für mich hatte, wenn ich reden wollte.
Sie würden mir alle fehlen, wenn ich so weit weg von ihnen sein würde, in einer anderen Stadt, in einem anderen Land, auf einem ganz anderen Kontinenten, einen ganzen Ozean Entfernung zwischen uns. Warum musste ich nur so verdammt weit weg ziehen?
„Wir schaffen das, Sarah! Es bleiben uns noch drei Tage bis du fliegst. Die Zeit bis dahin gehört uns! Und auch wenn du tausende von Kilometern weit weg bist, werden wir uns immer noch schreiben und mailen können und telefonieren. Wozu gibt es denn sonst noch die Videochats“, rief Anne nun und schnappte sich meine Hand. Ihre kleine Rede rührte mich und ich versprach ihr, mich nicht mehr vor ihr und den anderen zu verstecken.
Der Rest des Vormittags verlief fast so wie damals, als meine Eltern noch nicht vorhatten, weg zu ziehen, aus zuwandern und mich aus meiner vertrauten Umgebung raus zu reißen. Ich dachte sogar gar nicht mehr an den Umzug, der unmittelbar bevorstand. Ich genoss einfach nur die Zeit mit meinen Freunden.

Als ich dann am Nachmittag zu dem kleinen Häuschen kam, dass ich bis jetzt mein ganzes Leben zu Hause genannt hatte, konnte ich den Gedanken an den Umzug nicht mehr verdrängen. Lange stand ich auf der Auffahrt, die zu dem kleinen Häuschen, mein Zu hause, führte. Ich versuchte mir jedes Detail meines Heims zu verinnerlichen. Die weißen Fensterläden, der lange geschwungene Weg zur Tür, die weiße, milchige Glastür, die rote Farbe des Daches und die bunten Blumenbeete vor den Fenstern. Es sah so friedlich aus, so wie immer.
Bevor ich den Schlüssel in die weiße Haustür steckte, atmete ich noch einmal tief ein, um den Anblick, der mich Innen erwarten würde, verkraften zu können. Dann öffnete ich die Tür. Trotz meiner geistigen Vorbereitungen, schockierte mich das Bild, das sich mir hier bot. Überall waren braune Kartons im Flur gestapelt. Kartons mit meinen Sachen, wie ich im Näher kommen, lesen konnte. Wut stieg in mir auf. Wie konnten sie nur einfach an meine Sachen gehen? Was fiel meinen Eltern eigentlich ein, meine Sachen in braune, hässliche Kartons zu verpacken? Ich kochte quasi vor Wut und stapfte in die Küche, die genauso kahl aussah, wie die restlich Zimmer des Hauses. Nur noch der Esstisch und zwei Stühle sowie die nötigsten Küchengeräte standen dort. Vor dem Herd sah ich meine Mutter stehen. Sie rührte verträumt grinsend in einem Topf herum und bemerkte mich gar nicht, was mich noch wütender machte. Zornig warf ich meine Schultasche auf den Boden und schnaufte verächtlich durch die Nase, bevor ich anfing sie an zu schreien.
Ich ließ meinen ganzen Frust, der sich in den letzten Wochen angestaut hatte, an ihr aus. Meine ganze Wut schien mit einem Mal aus mir heraus zu brechen und mit jedem Wort wurde sie weniger, bis ich nur noch den Schmerz spürte. Schließlich fing ich an laut zu schluchzen und registrierte verwundert, dass meine Wangen ganz feucht waren. Ich musste wohl angefangen haben zu weinen. Auch war es jetzt, wo ich aufgehört hatte zu schreien, seltsam ruhig. Langsam schloss ich meine tränen nassen Augen und wartete auf die Reaktion meiner Mutter.
Seufzend öffnete ich meine Augen wieder und sah die Frau, die mich aufgezogen hatte, abwartend an. Ich rechnete mit allem, doch auf das was jetzt folgte, war ich nicht vorbereitet. Die versteinerte Maske meiner Mutter nahm plötzlich einen schmerzverzerrten Ausdruck an. Mit langsamen Schritten kam sie auf mich zu, nahm mich in ihre Arme und drückte mich fest an ihre Brust. Ich spürte, wie ihr Körper von Schluchzen erschüttert wurde und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Das wollte ich nicht. Ich wollte ihr zwar ein schlechtes Gewissen machen, wollte, dass sie sich mal in meine Lage versetzt, aber ich wollte sie doch nicht so mit meinen Worten und meinem Zorn verletzen. Meine Mutter weinte und ich war daran Schuld.
Das war ganz falsch. Sie weinte doch nie!
„Ach, Sarah. Schatz! Wir wollen doch nur das beste für dich. Wirklich! Ich wünschte, wir könnten dir den Grund für unseren Umzug sagen“, flüsterte meine Mutter leise, so leise, dass ich sie fast nicht gehört hatte und stockte bei ihrem letzten Satz. Sie löste sich von mir und sah mir entschuldigend in die Augen.
Fast im gleichen Augenblick kam mein Vater in die Küche. Er trug wie immer, wenn er von der Arbeit kam, einen schwarzen Anzug und hatte seine schwarze Aktentasche in der rechten Hand. Ich hatte mich mit seinem Beruf nie wirklich beschäftigt. Aber ich wusste, dass er als einer der besten Staatsanwälte in ganz Deutschland sehr wenig Zeit für seine Familie hatte. Als ich klein war, hatte ich ihn kaum zu Gesicht bekommen. Immer wenn er Heim kam, schlief ich schon und wenn ich aufstand, war er schon wieder bei der Arbeit oder er saß in seinem Arbeitszimmer, dass ich nicht betreten durfte. Weiß der Geier, warum ich dort nicht rein durfte.
„Schatz, ich muss mit dir reden. Es ist wichtig! Sarah, geh bitte auf dein Zimmer“, erklärte mein Vater ungewohnt trocken und rief mich so aus meinen Gedanken.
Als ich ihm in die Augen sah, glaubte ich einen kurzen Moment lang, Angst und Verzweiflung zu sehen. Doch im nächsten Moment sah ich wie immer den liebevollen, aber bestimmten Blick meines Vaters und keine Spur von Angst war in seinen Augen zu erkennen. Ich musste es mir eingebildet haben.
„Ja, schickt mich nur wieder auf mein Zimmer! Es muss ja äußerst wichtig für euch sein, alles vor eurer Tochter bis zum letzten Augenblick geheim zu halten! So wie diesen beschissenen Umzug“, zischte ich bissig und drehte mich auf meinen Absätzen um und marschierte in mein Zimmer.
Hinter mir schloss ich die Tür und drehte den Schlüssel im Schloss um. Ich wollte allein sein. In letzter Zeit waren meine Eltern so komisch. Vielleicht lag es an unseren Umzug. Aber wenn sie auch nicht umziehen wollten, warum taten sie es doch und zwangen mich mitzukommen. Mein Vater hatte hier doch auch einen tollen Job und verdiente nicht gerade wenig.
Wie so oft in letzter Zeit starrte ich vor mich hin. Ich konnte mir das seltsame Verhalten meiner Eltern einfach nicht erklären. Es wollte mir einfach nicht gelingen. Schließlich schlief ich erschöpft ein und fiel in einen unruhigen Schlaf.

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Tag der Veröffentlichung: 27.12.2010

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