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Eins


Eins


Ich laufe die Treppe zur U-Bahnstation herunter, in der Hoffnung die Bahn noch zu erwischen. Schnell begebe ich mich an den richtigen Bahnsteig um dann festzustellen, dass die Bahn zum Glück noch nicht eingefahren ist. Ich lehne mich total aus der Puste mit dem Rücken gegen eine weiße Säule und lasse meinen Blick durch die Masse von Menschen schweifen. Die U-Bahn Station ist total überfüllt und ich muss mich wahrscheinlich sputen noch in die Bahn zu kommen. Die meisten Menschen scheinen abwesend, wie in Trance stehen einige einfach nur da, telefonieren, rauchen oder starren stur in eine Richtung. Alle haben sie den Ausdruck von Gleichgültigkeit in den Augen. Die Gleichgültigkeit, die nur die Menschen auszustrahlen vermögen, die ihr Leben nach strikten Regeln leben und es niemals wagen nach rechts oder links zu blicken. Es sind die Arbeitstiere, die vorgeben mit ihrem Geld glücklich zu sein, es hinter ihrer Fassade aber ganz und gar nicht sind. Über solche Menschen kann ich nur meinen Kopf schütteln. Ich verstehe nicht wie man sein Leben so verschenken kann. Wie man jeden Morgen aufstehen kann mit dem Gedanken an das was man am nächsten Tag tuen wird. Ich bin froh wenn ich nach dem aufstehen weiß was ich den kommenden Tag über tun werde. In den Tag leben - das ist mein Motto und bisher hat das auch ganz gut funktioniert!
Lautstark quietschend fährt mein Zug ein und ich beeil mich an eine Tür zu kommen ohne von den Ellbogen der Leute erschlagen zu werden. Einmal durch die Tür halte ich mich sofort an der erstbesten Haltestange fest, bevor sie mir noch jemand streitigmachen kann. Kaum sind die Türen zu steigt mir ein unangenehmer Geruch in die Nase und ich verbiete mir für kurze Zeit zu atmen. Langsam öffne ich meine Lippen wieder und lasse nach und nach mehr Luft durch meine Nase eindringen. Auch wenn ich mich nie an diesen miefigen U-Bahn-Geruch gewöhnen werde, habe ich gelernt damit umzugehen! Besonders jetzt in der Sommerzeit ist es schlimm, da die U-Bahnen nicht mit Klimaanlagen ausgestattet sind und man regelrecht Arm an Arm aneinander klebt. Jedesmal sage ich mir aber; Es sind nur drei Sationen, dann bist du im Paradies, drei Stationen!
Ich schließe meine Augen und denke an die Wellen, die für heute angesagt sind. Richtige Brecher sollen heute am Candice Beach reinkommen. Ich spüre schon den Wind in meinen Haaren und das Salzwasser auf meinem Gesicht. Ich sehe eine Monsterwelle auf mich zu rollen und mache mich zum paddeln bereit. Dann der perfekte Take-off und ich reite die Welle bis zur Tube, die mich fast zu verschlingen droht. Aber ich schaffe es, komme aus der Tube und beende die Welle mit einem Sprung ins Wasser. Ich spüre wie sich ein Lächeln auf mein Gesicht schleicht und dann einen starken Ruck der durch das ganze Abteil geht. Schnell öffne ich meine Augen und sehe wie die Bahn in die Station einfährt. Ich merke wie mich einige Augenpaare interessiert mustern, aber das ist mir egal. Ein Schritt und ich bin in der sich bewegenden Masse abgetaucht und komme so problemlos aus der Bahn. Ich renne regelrecht die lange Treppe herauf. Die Sonne scheint mir mit ihrer vollen Leuchtkraft ins Gesicht und als ich den Kopf hebe blicke ich in einen strahlend blauen Himmel. Vorfreude überkommt mich. Ich ziehe mein Skateboard aus meinem Rucksack und fahre die Straßen hinunter zum Strand.
Auf den Straßen ist von der Gleichgültigkeit der Menschen nichts mehr zu sehen, sie scheinen von der Fröhlichkeit, die die Sonne ausstrahlt, angesteckt zu sein. Sie haben ihre Telefone weggesteckt und bleiben sogar mal stehen um den wunderschönen blauen Himmel zu betrachten. Für einen kurzen Moment vergessen sie den Alltag in dem sie gefangen sind und fühlen sich ein kleines bisschen frei. So frei, wie ich mich fühle wenn ich eine Welle reite. Natürlich habe ich auch Verpflichtungen, wie zur Schule gehen oder in der Strandbar meines Onkels zu arbeiten. Aber das sind alles Dinge die mir Raum zum atmen und frei sein lassen und vor allem Raum zum surfen. Doch sobald diese Menschen den Weg zurück in ihren Alltag einschlagen verblasst die Fröhlichkeit und die Gleichgültigkeit für alles Schöne kommt zurück. Umso mehr geniße ich deshalb gerade die Aussicht auf überwigend glückliche Menschen in den Straßen. Ich meine es ist Nachmittag, die Schule ist aus und ich bin auf dem Weg zu den wahrscheinlich besten Welllen der Woche, wie könnte ich mich da von Traurigkeit anstecken lassen?
Ich kann schon von weitem den Wagen meines Bruders erkennen, der dirket vor dem Strand parkt. Schnell fahre ich runter auf den Parkplatz und schmeiße mein Skateboard auf die Ladefläche. Sofort halte ich ausschau nach Jason, der hier irgendwo herumlungern müsste, er hat mir versprochen auf mich zu warten.
„Jason?“
Doch niemand antwortet. Ich gehe noch einmal um das Auto rum und entdecke dann an der Fahrerseite einen Zettel:

Luna,
bin kurz was besorgen geh schon mal ohne mich raus,
komme dann nach. Dein Board ist auf der Ladefläche!
Jason



„Danke Bruderherz, dass mein Board auf der Ladefläche liegt, darauf wäre ich selbst nicht gekommen. Blödmann!“
Schnell ziehe ich mir meine Sachen aus und suche in meiner Tasche nach meinem Lycra. Übergezogen und nach meinem Board gegriffen laufe ich den Strand hinunter zum Wasser. Schon am Wagen ist mir aufgefallen wie verdammt Recht der Wetterbericht hatte. Die Wellen sind der Wahnsinn. Würde mir jetzt jemand in die Augen sehen so würde er wahrscheinlich eine Mischung aus Leidenschaft, Nervenkitzel und Respekt in ihnen lesen können. Ich stecke mein Board in den nassen Sand um meine Leashe am Fuß zu befestigen und dann gibt es kein halten mehr für mich. Mit meinem Board fest an meiner rechten Seite stürze ich mich in die Fluten und beginne sofort zu paddeln. Schnell habe ich den schwierigen Teil des Weißwassers hinter mir und tauche durch die grünen, wirklich hohen Wellen. An der perfekten Stelle angekommen setzte ich mich auf mein Board und schaue aufs Meer. Für mich gibt es keinen schöneren Platz. Langsam lasse ich meine Hand durch das Wasser gleiten und sehe wie sich weiter hinten am Horizont etwas aufbaut. Sofort drehe ich mein Board richtung Strand und lege mich hin, ein kurzer Blick nach hinten verrät mir, dass die Welle nah genug ist. Jetzt heißt es paddeln für mich. Ich spüre wie die Welle den hinteren Teil meines Boards bereits anhebt. Sie nimmt mich mit, ein letzter Zug mit meiner Hand und ich springe regelrecht auf mein Board und surfe die Welle hinunter. Wasser spritzt mir ins Gesicht und ich merke wie mich die Kraft der Welle versucht vom Board zu drängen, doch nichts von alldem kann mich daran hindern diese perfekte Welle zu reiten. Ein kurzer Blick zum Strand und ich kann Jason erahnen, der jubelnd am Wasser steht und mir winkt. Lachend lasse ich mich ins Wasser fallen und paddele zurück zu Strand.
„Luna, das war der Hammer!“
„Tja, ich habs halt drauf.“
Neckisch zieht er mich in den Schwitzkasten und wuschelt mir durch die nassen Haare.
„Total bescheiden die Kleine!“
Irritiert von der Stimme winde ich mich aus Jasons Armen und blicke hinter ihm. Ein Junge, mindestens einen Kopf größer als ich, steht da und guckt mich schelmisch an. Überfordert von diesem Blick wende ich mich wieder an Jason und zische ihm zu:
„Jason, wer ist das?“
Mit gespielter Unwissenheit dreht er sich um und guckt den Jungen von oben bis unten an.
„Na wenn du ihn nicht kennst Luna, dann kann ich ihn auch nicht kennen!“
Ich verstehe nicht was Jason mir damit sagen will und lasse wie zuvor er meinen Blick über den Jungen streifen und tatsächlich ist da etwas in seiner Mimik, dass mir bekannt vor kommt. Wo habe ich diese braunen Augen schon mal gesehen? In meinem Kopf beginnt es zu rumoren. Es ist als ob in meinen Erinnerungen alle Schubladen aufgemacht werden und alle Menschen, die ich bisher kennengelernt habe mit dem Jungen vor mir verglichen werden. Unterschiedliche Bilder fliegen an meinem inneren Auge vorbei, doch keins dieser Bilder scheint zu dem Anblick der sich mir bietet zu passen. Doch halt, eine Erinnerung zeigt mich in einem Garten. Ich sitze dort mit einem pinken Kleid – oh wie habe ich meine Mutter dafür gehasst! – und spiele mit meinem Bruder und einem anderen Jungen. Wenn ich recht überlege ist es der Nachbarsjunge, der damalige beste Freund von Jason. Ich habe immer mit den beiden gespielt, auch wenn sie das nicht immer toll fanden. Aber dann haben sie auch die Vorteile erkannt, die es ihnen ermöglichen ein Fräulein aus den Fängen eines fiesen Drachen zu retten. Wir hatten eine blühende Fantasie wenn es um das Erfinden von neuen Spielen ging! Aber je älter wir wurden, desto weniger spielten wir miteinander. Die Jungs hatten plötzlich andere Dinge, wie Mädchen, im Kopf. Erst verstand ich das alles nicht, doch mit der Zeit entwickelte auch ich andere Interessen und zu meinem Leidwesen galt dieses Interesse dem besten Freund meines Bruders! Als ich vierzehn wurde ist er leider mit seiner Familie weggezogen und ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Jetzt stand er hier wieder vor mir und ein kleiner Teil von mir wollte ihn umarmen, aber der andere Teil warnte mich davor dies zu tun. Wahrscheinlich hatte dieser Angst vor den alten Gefühlen. Ich stehe also einfach nur da und schaue ihn an. Warum will mir bloß sein Name nicht mehr einfallen?
„Hey Luna.“
Unterbricht er die Stille. Was soll ich denn jetzt antworten? Wo versteckt sich bloß sein Name in meiner Erinnerung? Plötzlich schwebt es vor mein inneres Auge, es ist die Abbildung eines Briefes. Der Handschrift nach ein Brief den ich geschrieben habe. In der ersten Zeile steht Lieber Dan. Dan! Der Name, jetzt weiß ich ihn wieder.
„Hi Dan, lang nicht mehr gesehen.“
Und bevor ich noch etwas anderes sagen kann zieht er mich in eine Umarmung, anscheinend hat er davor keine Hemmungen wie ich. So dicht war ich ihm nicht mehr seit wir als Kinder Räuber und Gendarm gespielt hatten und er mich auf den Boden drücken musste, damit ich nicht weglaufen konnte. Er roch noch genauso wie früher. Und tief in meinem Inneren wird mir klar dass dieses verräterische Gefühl in meiner Magengegend nichts mit dem schlechten Mensaessen in der Schule zu tun hat! Schnell löse ich mich aus der Umarmung und gucke verlegen zu Boden, was im Grunde unnötig ist, er kann ja nicht in mich hineinschauen.
„So, Jason, sind wir nicht hier um zu surfen? Die Wellen sind der Hammer.“
Ein schwacher Versuch die Stille zu überbrücken, doch er scheint zu funktionieren. Ein Lächeln stiehlt sich auf das Gesicht von meinem Bruder und er zieht sich sein Shirt über den Kopf und greift nach seinem Lycra sowie seinem Board auf der Ladefläche. Schneller als ich gucken kann ist er auch schon samt Board unter dem Arm an mir vorbei gelaufen.
„Was ist jetzt du lahme Ente, gehen wir surfen oder was?“
Jason grinst mich schelmisch an und als auch noch seine Zunge zum Vorschein kommt ist mein Ehrgeiz gepackt. Schnell mache ich meine Leashe wieder an meinem Fuß fest und renne hinter ihm her. Ich stürze mich in die Fluten und erlaube mir einen kurzen Blick zum Strand. Dan ist am Auto geblieben. Er war noch nie ein Fan vom Wasser. Jedesmal wenn wir schwimmen oder surfen gehen wollten hat er sich rausgeredet und ist zu Hause geblieben. Warum habe ich nie verstanden. Kopfschüttelnd wende ich mich wieder den Wellen vor mir zu, zum Glück, denn gerade kommt eine große auf mich zu, über die ich unmöglich rüberkomme. Kurzerhand greife ich an die Seiten von meinem Board und tauche mit der Nase voran unter der Welle hindurch. Das wiederauftauchen ist eines der besten Dinge beim surfen. Ich fühle mich danach immer so befreit. Als würde das Wasser meinen Kopf leerspülen und mir ermöglichen, die Welt mit anderen Augen sehen. Beste Voraussetzungen für einen guten Wellenritt. Etwas weiter vor mir sitzt Jason auf seinem Board und wartet auf eine gute Welle. Als er hört wie ich mich näher dreht er sich lächelnd zu mir um.
„Na, auch endlich mal da!“
„Ja, ja mach dich nur über mich lustig. Auch wenn du vielleicht schneller paddelst als ich, die Wellen beherrsche ich hundertmal besser als du!“
„Das glaubst auch nur du Schwesterherz.“
Bevor ich was erwiedern kann stößt Jason mir so stark gegen die Schulter, dass ich das Gleichgewicht verliere und vom Board falle. Das hat er nicht umsonst gemacht, denke ich und tauche unter meinem Board hindurch und ziehe ruckartig an seinem Fuß. Doch damit scheint er gerechnet zu haben, denn es tut sich nichts. Lachend tauch ich auf, was im ersten Moment nicht ganz durchdacht ist von mir, denn ich verschlucke mich. Schnell greift Jason nach meinem Arm um mich über Wasser zu halten. Perfekter geht’s doch gar nicht, kurz täusche ich noch einen Hustanfall vor und dann ziehe ich ihn blitzschnell ins Wasser.
„Das wirst du bitter bereuen!“
„Uhh, jetzt hab ich aber Angst!“
Schnell greife ich mein Board und setzte mich wieder hin. Jason macht es mir gleich und spritzt mich dabei nass. Als wenn ich nicht sowieso schon nass wäre! Plötzlich schießt mir eine Frage in den Kopf, für die es keinen besseren Moment zum fragen gibt.
„Jason, warum ist Dan wieder da?“
Ich hab erwartet, dass Jason mich anguckt und mir erzählt, was für eine lustige Geschichte dahinter steckt und dass er es schon seit Wochen weiß. Doch nichts dergeleichen kommt über seine Lippen. Stattdessen blickt er in die Ferne des Ozeans und sagt lange Zeit gar nichts. Dann dreht er sich samt Board um, legt sich hin und beginnt zu paddeln. Eine große Welle bahnt sich ihren Weg zu uns und Jason hat die perfekte Startposition. Bevor die Welle ihn erreichen kann suchen seine Augen die meinen. Als sie sich treffen sagte er lediglich:
„Ich habe keine Ahnung Luna.“
Mit diesen Worten ergreift ihn die Welle und Jason kommt auf ihrer Spitze zum stehen.

Auf der Fahrt nach Hause ist es ziemlich still im Jeep. Die Gespräche, die Jason und ich sonst führen kommen mir heute falsch vor, während Dan mit uns im Auto sitzt. Es wäre nicht richtig über die Schule zu sprechen oder den nächsten Surf-Contest, denn mit all diesen Sachen hat Dan nichts mehr zu tun. Eigentlich könnten wir uns viel erzählen, die vergangenen Jahre revue passieren lassen oder uns über alte Geschichten amüsieren. Doch wir sitzen einfach nur still im Auto und schauen gedankenverloren aus den Fenstern. Als Jason und ich vorhin aus dem Wasser kamen hat Dan uns fasziniert angeguckt.
„Was ist aus der kleinen Luna von früher passiert?“, hatte er gesagt.
Ich hab nur beschämt auf meinen Zehen geschaut und nichts erwiedert, was hätte er auch von mir hören wollen? Dass ich mich verändert habe, konnte er ja wohl rein vom Äußerlichen schon erkennen.
Jason hatte er nur anerkennend auf die Schulter geklopft und ihm etwas ins Ohr geflüstert, was ich leider nicht verstehen konnte. Kurz danach saßen wir dann im Auto und keiner sprach mehr ein Wort.
Genervt von dieser unerträglichen Stille wende ich meinen Blick vom Fenster ab und schalte das Radio ein. Gerade berichtet der Moderator von dem morgigen Wetter und ein Lächeln huscht über meine Lippen. Ein kurzer Blick zu Jason und ich erkennen den Selben Ausdruck auch auf seinem Gesicht. Wir beide wissen, dass die morgigen Wellen die heutigen übertreffen werden!
Als der Moderator das nächste Lied ankündigt drehe ich das Radio etwas lauter. Zum Glück spielen sie einen Song, der mir nicht unbekannt ist und so breche ich die Stille im Jeep und fange an mitzusingen. Das Lied ist von einer Band, die Jason und ich total gerne hören. Wir haben sogar schon ein Konzert von ihnen besucht. Natürlich wussten Mum und Dad nichts davon. Wir haben uns nach dem Abendessen rausgeschlichen und sind dann heimlich mit dem Jeep zum Konzert gefahren. Ich hatte zwar anfangs ein paar Bedenken, die sich aber in Luft aufgelöst haben, als die Band endlich angefangen hatte zu spielen.
Das Lied, welches gerade im Radio ertönte war das Eröffnungslied vom Konzert, ich hatte damals während des Liedes zu Jason gesagt, dass uns dieses Lied immer an diesen besonderen Abend erinnern wird, so wie jetzt.
Es dauert nicht lang da stimmt auch Jason mit ein und wir singen beide lautstark mit. Dan, der auf der Rückbank sitzt ist auf einmal vergessen und es ist als würden wir einfach an einem ganz normalen Tag vom Strand nach Hause fahren. Zumindest bis zu dem Moment als ich neben Jasons ziemlich tiefen Stimme, eine Zweite höre. Verwundert drehe ich mich um und sehe in die belustigten Augen von Dan, der ebenfalls das Lied mitsingt, ja geradezu brüllt!
Nach unglaublichen drei Minuten ist das Lied vorbei und der Moderator meldet sich wieder zu Wort und ich drehe das Radio wieder leise.
„Ich hab ja nicht gedacht, dass du auf solche Musik stehst, Dan!“
Jason guckt kurz in den Rückspiegel um zu signalisieren, dass die Frage an ihn gerichtet ist.
„Ich hätte auch nicht gedacht, dass unsere kleine Luna irgendwann mal einen Musikgeschmack mit dir teilen wird!“
War ja klar. Die kleine Luna.Ich hatte es früher schon nicht gemocht wenn sie mich so genannt hatten. Damals hat es ja vielleicht noch gestimmt, von der Größe her waren sie mir total überlegen. Ich bin zwar immernoch ein Jahr jünger als Dan und Jason, aber ich bin alles andere als klein. Gerade will ich klarstellen, dass ich alles andere als klein bin, da kommt mir Jason zuvor.
„Komm schon Dan, das die - kleine - Luna - Getue kannst du dir doch jetzt schenken. Du siehst doch selbst, dass Luna nicht mehr das kleine Mauerblümchen von früher ist. Ich mein sieh sie dir doch mal an. Meine Schwester ist ein echt heißer Feger geworden und macht nicht nur auf dem Surfbrett eine gute Figur!“
Fassungslos starre ich Jason an, was hat er gerade gesagt? Ich spüre wie ich rot werde und blicke schnell aus dem Fenster um zu vermeiden, dass meine Röte auffällt. Schnell lasse ich mich tiefer in den Sitz sinken und hoffe, dass die Ampeln auf meiner Seite sind und wir schnell zu Hause ankommen. Die wortlose Bitte an Jason, das Gespräch über mich zu beenden, scheint er nicht verstanden zu haben.
„Ich hab doch recht Dan, oder?“
Herausfordernt blickt er in den Rückspiegel und wartet auf eine Antwort.
„Klar, ihr habt euch beide ziemlich verändert. Natürlich nur zum Guten. Hoffe ich doch!“
„Hey!“, gespielt empört zeigt Jason den Zeigefinger so in den Rückspiegel, dass Dan ihn sehen kann.
„Das Gleiche hoffe ich auch für dich. Wir haben eine Menge nachzuholen!“
„Das sehe ich genauso. In den vergangenen Jahren ist viel passiert.“
Kurz erlaube ich mir einen Blick nach hinten. Dan hat den Kopf gesenkt und blickt auf seine ineinander gehakten Hände. Bevor er den Kopf wieder heben kann habe ich mich schon wieder umgedreht und schaue aus der Frontscheibe. Noch eine Kurve und unser Haus lässt sich auf der rechten Straßenseite erkennen. Das Haus, welches ich schon mein Leben lang als mein zu Hause bezeichnen kann. Für mich ist es unverstellbar hier irgendwann mal weg zu müssen. Ich liebe es hier zu wohnen. Wenn es nach mir ginge würden Jason, Mum, Dad und ich hier für immer so leben!
Jason parkt den Jeep auf dem Seitenstreifen vor unserem Haus. Das tut er seitdem nach einem nächtlichen Ausflug die geliebte Bank von Mum nicht mehr ihren Dienst leisten konnte. Es wurde nicht darüber gesprochen, nicht ein Gedanke daran verschwendet, aber seitdem parkt Jasson vor dem Haus und fährt nicht mehr die Auffahrt rauf.
Erst jetzt fange ich an mich zu wundern, warum Dan immernoch im Jeep sitzt und Jason ihn nicht nach Hause gebracht hat.
Bevor ich jeoch fragen kann kommt Jason mir wiedereinmal zuvor. Es ist fast schon gruselig, als ob er meine Gedanken lesen kann!
Auf dem Weg zum Haus fasst er mich am Arm und flüstert mir mit gesenktem Kopf etwas zu.
„Ich hab ihm gesagt, er kann bei uns Abendbrot essen, vielleicht bekommen wir ja dann heraus warum er damals gegangen ist und jetzt wieder da ist!“
Bevor Dan unser kurzes Gespräch mitbekommen kann hat Jason schon wieder von mir abgelassen und legt ihm freundschaftlich den Arm um die Schulter.
„Ich hoffe du hast noch den gleichen Geschmack wie früher und hast keine Angst vor dem Essen meiner Mum!“
Das Essen von Mum war tatsächlich etwas eigenartig, zumindest für diejenigen, die es nicht gewöhnt waren. Da Jason und ich aber nie etwas anderes gegessen hatten und Dan auch oft bei uns gegessen hatte war es für uns normal.
„Klar, es gibt doch nichts über das Essen von Fiona.“
Dan nannte meine Mutter seit dem Tag bei ihrem Vornamen an dem ihr klarwurde, dass die Anrede Miss Glace, sie unglaublich alt erscheinen lassen würde. Nicht nur Dan musste sie von da an Fiona nennen, sondern auch alle anderen Freunde von Jason und mir, die jemals bei uns zu Besuch waren, kannten unsere Mutter nur als Fiona. Wenn es sie glücklicher macht!
Beim öffnen der Tür kommt uns schon der Duft von Mums berühmten Auflauf entgegen. Keiner weiß was drin ist aber alle mögen es!
„Wir sind zu Hause Mum!“
Kaum ausgesprochen, steht meine Mutter auch schon im Flur.
„Hab ich doch richtig gehört dass da zwei Füße zu viel durch die Tür gekommen sind. Hallo, ich bin Fiona.“
Meine Mutter geht auf Dan zu und schüttelt ihm die Hand. Dan versteht die Situation erst nicht, reicht ihr aber auch die Hand. Jason sieht mich an und nach einem Wimpernschlag lachen wir beide lautstark los. Mum dreht sich total überrumpelt zu uns um und guckt uns fragend an.
„Hab ich Käse im Haar oder warum lacht ihr so dämlich?“
Dabei streicht sie sich mit der Hand durch die Haare um den vermeintlichen Käse zu entfernen und ihr Blick verändert sich zu misstrauisch.
Jason fängt sich als Erster wieder und klärt Mum auf.
„Mum, erkennst du ihn etwa nicht? Das ist Dan!“
Verwundert dreht sie sich wieder um.
„Dan? Tatsächlich. Meine Güte bist du groß geworden, aber immernoch so gutaussehend wie früher!“
Dabei dreht sie sich kurz zu mir um und zwinkert mir zu. Am liebsten würde ich jetzt im Erdboden versinken, warum musste ich auch mein Tagebuch auf meinem Schreibtisch liegen lassen? Mum hatte es damals beim Wäschebringen entdeckt und die aufgeschlagene Seite gelesen. Leider bleibt mir zum im Boden versinken keine Zeit, denn Mum wendet sich wieder Dan zu und spricht weiter:
„Was machst du denn hier?“
„Ich hatte Sehnsucht nach deinem Auflauf!“
„Ach Gott, und noch genauso charmant wie früher! Na dann komm mal rein, schnapp dir noch einen Teller und dann essen wir!“
Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Schnell laufe ich die Treppe rauf um meine Strandsachen gegen normale Kleidung einzutauschen. Die nassen Sachen bringe ich noch schnell in die Garage zum trocknen und begebe mich dann schnell in die Küche. Ich will die Erste sein, die den Auflauf ansticht. Denn der Käse auf dem Auflauf ist heiß begehrt und jetzt wo ich weiß, dass Dan mit isst muss ich mich beeilen. Doch kaum stehe ich im Esszimmer ist meine Hoffnung verloren; Jason und Dan sitzen bereits am Tisch und füllen sich ihre Teller voll.
„Keine Sorge Luna, wir haben dir noch etwas Käse übrig gelassen!“
Dan guckt mich genauso an, wie früher und kurzzeitig vergesse ich mein eigentliches Vorhaben, welches das Hinsetzten beinhaltete. Wie festgeklebt, stehe ich im Türrahmen und gucke stur auf den Esstisch, zumindest hoffe ich dass ich nicht allzu auffällig Dan anschaue.
„Luna, jetzt zick nicht rum und setz dich einfach hin, die Beiden haben sich wirklich zurückgehalten und dir was übrig gelassen!“
Meine Mutter zwinkert mir zu und durchbricht meine Schockstarre. Schnell ziehe ich meinen Stuhl hervor und setzte mich. Mum hatte Recht, es ist tatsächlich noch etwas vom Besten übrig geblieben.

Am Abend sitze ich in meinem Zimmer an meinem Schreibtisch und mache meine Hausaufgaben. Gerade verzweifele ich an einer Übersetzungsaufgabe als Jason in der Tür auftaucht.
„Hey!“
Das ist alles was er von sich gibt. Er steht da und lässt Gedankenverloren seinen Blick im Zimmer schweifen. Schlimmer geht es für mich wirklich nicht.
„Du bist doch nicht hier um ‚hey’ zu sagen? Was ist los?“
Jason setzt sich auf mein Bett und ich drehe meinen Stuhl so, dass wir uns gegenüber sitzen. Er sieht nicht bedrückt aus, also kann es schonmal nichts Schlimmes sein, was er mir sagen will.
„Es geht um Dan, wir haben uns vorhin unterhalten. Er hat mir erzählt, dass er hierbleibt, dass er nicht nur zu Besuch ist. Er ist in das kleine Strandhaus am Holy Ground Beach gezogen, weißt du, das wo wir immer unsere Handtücher über die Veranda hängen.“
„Ich weiß schon, dass Haus von dem wir immer gehofft hatten, dass Mum und Dad es für uns kaufen würden.“
Ein Grinsen huscht über die Lippen von Jason.
„Genau dieses Haus, schon verrückt dass es jetzt Dan gehört. Vielleicht ist es auch gar nicht so schlecht. In den nächsten Wochen sollen am Holy Ground Beach die Wellen besser sein als am Candice Beach. Außerdem sind bald Ferien. Dan lässt uns sicher mal bei ihm auf der Veranda oder so schlafen, dann sind wir die Ersten morgens!“
Jetzt hat auch mich das Grinsen angesteckt. Besser könnte es für uns gar nicht laufen. Mit den kommenden Ferien beginnt nämlich auch wieder das Training für die Stadtmeisterschaften im Surfen. Die besten dürfen dann zu den Landesmeisterschaften und schafft man es da auf ein Podest darf man das Land bei den internationalen Surfcontests vertreten. Die letzten Jahre war ich noch zu jung um zu starten, doch ich habe trainiert, trainiert um es dieses Jahr zu beweisen. Jason hat Recht, wenn ich gewinnen will muss ich früh morgens im Wasser sein um die besten Wellen zu bekommen. Früh morgens raus damit noch kein Anderer am Strand oder im Wasser ist, der mir die Wellen streitig machen kann.
„Das heißt wir stellen uns einfach weiterhin mit Dan gut und dann haben wir die besten Chancen auf die besten Wellen!“
„So siehts aus Schwesterherz. Nur dir muss klar sein, dass dein Training dementsprechend härter wird!“
Jason ist zwar ein leidenschaftlicher und sehr guter Surfer, doch von Wettkämpfen hat er noch nie viel gehalten, auch wenn er locker gewinnen könnte. Das einizig positve daran ist, dass er statt selbst zu trainieren mich unterstützen kann. Manchmal wünschte ich zwar er würde es nicht tun, da er echt sehr streng sein kann. Sein Training ist hart und anstrengend und ich würde es nicht tun wenn ich nicht wüsste dass er weiß was ich brauche und was mich stark macht. Jason ist nicht nur mein Bruder, Jason ist mein bester Freund und als solcher vertraue ich ihm in diesem Thema voll und ganz.
„Du weißt doch, ich liebe hartes Training! Jeden Tag surfen, das ist alles was ich will!“
„Du wirst mich noch anbetteln mal einen Tag nicht surfen zu gehen, meine Liebe!“
„Das bezweifel ich aber Jay!“
„Wir werden sehen.“
Jason sieht mich eindringlich an und ich versuche seinem fiesen Blick mit einem ebenso fiesen Blick standzuhalten, kann aber ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Ich habe bei diesen Spielen noch nie gegen Jason gewinnen können, also wende ich meinen Blick auf meine Finger und lasse meinem Grinsen freien Lauf.
„Ach und noch was. Dan wird auf deine Schule gehen. Er musste da wo er vorher zur Schule gegangen ist eine Klasse wiederholen, also ist er jetzt in deiner Jahrgangsstufe. Es liegt also nicht nur an mir sich mit ihm gutzustellen!“
„Du willst damit also sagen ich soll mich etwas um ihn kümmern damit er nicht so verloren ist die letzten Wochen vor den Ferien?“
„Ich hätte es nicht ganz so formuliert, aber im Grunde schon!“
„Ich denke, das dürfte kein Problem sein!“
„Na, du kannst manchmal auch ganz schön biestig sein Schwesterherz!“
Fassunglos blicke ich ihn an und erkenne in seinem Gesichtsausdruck, dass er das nur sagt um mich zu ärgern. Ohne darüber nachzudenken habe ich schon meinen Radiergummi nach ihm geworfen. Doch anstatt, wie geplant, ihm am Kopf zu treffen, landet dieses direkt in seiner Hand. Kurz überprüft Jason den Gegenstand, den er gerade gefangen hat und grinst mich schelmisch an.
„Danke, die sammel ich!“
Ohne ein weiteres Wort verlässt er mein Zimmer.
„Hey, warte, das ist mein Einziges und ich muss noch Mathe machen!“
Jede andere Schwester würde jetzt aufspringen und ihrem Bruder folgen um sich das radiergummi zurückzuholen. Ich aber bleibe sitzen und zähle in Gedanken bis zwölf. …Neun, zehn, elf… . Noch bevor ich zwölf nur denken kann steht Jason wieder neben mir und legt mir das Radiergummie neben mein Matheheft.
„Ich möchte doch nicht Schuld sein, wenn dein Matheheft aussieht wie das eines Erstklässlers!“
Gespielt beleidigt ziehe ich einen Schmollmund und boxe ihm leicht in die Seite. Kurz wuschelt Jason mir durch die Haare und macht anstalten zu gehen. Im Türrahmen dreht er sich jedoch noch einmal zu mir um.
„Tiki?“
Fragend blicke ich von meinem Matheheft auf. Bevor ich ihm jedoch den tausendsten Vorwurf über meinen Spitznamen machen kann, den ich meiner Vorliebe für eine bestimmte Surfboardmarke zu verdanken habe, spricht Jason schon weiter.
„Vielleicht findest du ja heraus, warum Dan wieder da ist!“
Ohne eine Antort abzuwarten verlässt er mein Zimmer und zieht hinter sich die Tür ins Schloss.
Tiki. Eigentlich habe ich mich schon lange an den namen gewöhnt, doch ich konnte es mir nicht nehmen lassen mit ihm darüber zu streiten. Meist endete so ein Streit zwar in einem Lachkrampf, doch das war es uns beiden wert. Umso erstaunlicher ist es daher für mich, dass er ohne ein Wort von mir abzuwarten mein Zimmer verlassen hat.

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Bildmaterialien: Cover von google
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2012

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Widmung:
Life is a wave. Your attitude is your surfboard. -Drew Kampion-

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