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Wie jeden Morgen stand Paul in der Schlange vor der Pforte des Werkes und wartete darauf, dass er an der Reihe war. Auf seinem Gesicht spiegelte sich der gleiche unzufriedene Ausdruck wie auf dem seiner Arbeitskollegen wieder - von dem seiner Kolleginnen ganz zu schweigen.
Während er sich die Füße in den Bauch stand, schweiften seine Gedanken zurück in die Zeit, in der das alles noch einfacher gewesen war. Fast dreißig Jahre lang arbeitete er in dem Werk. Als er mit zwanzig seine Ausbildung begonnen hatte, konnte noch jeder ein- und ausgehen, wie es ihm beliebte. Erst Jahre später, nachdem sich die Fälle von Industriespionage gehäuft hatten, ergriff die Konzernleitung drastische Maßnahmen. Zunächst durften keine eigenen Laptops und Datenträger mehr mit in das Werk genommen werden. Dann waren auch die allseits beliebten Handys mit Kamera tabu. Eine Zeit lang hatte das sogar funktioniert und die Maschinen, die auf dem asiatischen Markt auftauchten, ähnelten nicht mehr so sehr denen des deutschen Unternehmens. Doch irgendwie waren Spione auch immer Überlebenskünstler. Nachdem alle privaten technischen Geräte aus dem Werk verbannt worden waren, hatten die schwarzen Schafe die geheimen Konstruktionspläne in Papierform vom Gelände geschmuggelt. Als dann auch Koffer, Taschen und Kleidung durchsucht wurden, war ein ganz findiger Spion auf die Idee gekommen, sich die geheimen Daten mit einem Filzstift auf den Körper zu malen – und hatte damit den Grundstein für die Schlange gelegt, in der er nun stand.
„Paul Stendow, Nummer 6-1-4-2-5-9“, sagte er monoton.
Die Antwort des des Werksschutzes klang ebenso gelangweilt: „Bitte die Kleidung in diesen Beutel“. Kein Wunder. Wenn man knapp 1000 Angestellten jeden Morgen den gleichen Spruch runterleiern musste, waren die Männer vermutlich froh, vor Langeweile nicht zu sterben. Dass sich keine Euphorie während ihrer Arbeit einstellte, konnte Paul durchaus nachvollziehen.
Nackt wie er war schritt er durch den weißen, gekachelten Korridor und blieb bei der Kleiderausgabe stehen. Die Frau hinter der Durchreiche schob ihm einen blauen Overall über den Tisch. Während er in das Kleidungsstück stieg, warf er einen Blick zurück. Mittlerweile hatte die hübsche Schwarzhaarige sich ausgezogen und ihre Kleidung abgegeben. Er ließ seinen Blick über ihren rasierten Schamhügel gleiten und fragte sich, ob die Männer von der Werksicherheit tatsächlich so professionell und cool waren, dass ihnen der Anblick der nackten Frauen nichts ausmachte. Ihm selbst machte es etwas aus. Auf einmal hatte er große Lust, die Kleine zu bumsen. Er schämte sich für den Gedanken. Auf der anderen Seite stand irgendwo hinten in der Schlage seine Ex, die es auch darauf angelegt hatte, mit einem Arbeitskollegen anzubändeln. Mit Erfolg. Für den Arbeitskollegen - nicht für ihn.
„Kommen sie bitte hier herum!“
Paul runzelte die Stirn. „Aber, ich arbeite in Sektor Gamma 12!“
„Ich weiß“, bestätigte ihm die blonde Frau. „Aber aufgrund jüngster Ereignisse mussten wir unsere Sicherheitsmaßnahmen erhöhen.“
„Erhöhen?“
„Kommen sie bitte mit“, wiederholte sie und zog Paul am Arm in einen kleinen Raum, dessen Fensterscheiben mit Vorhängen verdunkelt waren. „Es dauert nur einen kleinen Moment. Wir brauchen lediglich einen Scan. Eine Sache von 15 Sekunden.“
„Was machen sie da?“, fragte Paul, als eine Kollegin der Blondine ihn auf einen Stuhl bugsiert hatte und ihm mehrere Elektroden auf die Stirn und in den Nacken klebte.
„Wir scannen ihr Gehirn auf einmalige Muster. Damit wird es uns möglich am Abend das komplette Wissen, dass sie sich während der Arbeit angeeignet haben, zu entfernen, zu sichern und am nächsten Morgen wieder aufzuspielen.“
„Sie wollen WAS???“

Die Prozedur dauerte tatsächlich nur einen kleinen Augenblick, der sich für Paul aber hinzog wie ein Kaugummi der Marke „extrazäh“. Währenddessen erklärte ihm die Frau, dass Konstruktionspläne des Konzerns wieder vermehrt im Ausland aufgetaucht seien. Gestohlen und in die Hände der Konkurrenz getrieben – nicht durch technische Spielzeuge wie USB-Sticks und Kameras, nicht in Form von Papierausdrücken und abwaschbaren Tattoos, sondern in ihrer reinsten Form: als Gedanken in den Köpfen korrupter Ingenieure.
Das Scannen von Pauls Gehirn stellte sich als völlig schmerzlos heraus. Ebenso das abendliche Löschen der Erinnerungen, die mit der Arbeit und dem Konzern zu tun hatten, sowie das morgendliche Aufspielen des Backups. Doch nach jeder Löschprozedur brauchte Paul einige Minuten, um die Verwirrung in seinem Kopf zu ordnen. Es fühlte sich an, als suche man nach einem Wort, dass einem auf der Zunge liegt, auf das man aber doch nicht kommt. Je mehr man es versucht, desto weiter rückt es in die Ferne. Genauso verhielt es sich mit seinem Wissen über die Maschine, die … die … verzweifelt stellte er jeden Abend fest, dass er nicht einmal genau wusste, was er hinter den Stahlbetonmauern des Konzerns eigentlich entwickelte.
Die morgendliche Prozedur dahingegen verschaffte ihm jedes Mal einen kleinen Kick. So als hätte man aufgehört, an das entfallene Wort zu denken, und es einem genau in diesem Augenblick durch die Hirnwindungen schoss. Es war wie ein Geistesblitz, ein plötzliches Erwachen. Die Erleuchtung, von denen die Buddhisten träumten, nur millionenfach konkreter. Jedes Mal, wenn Paul die „Backup-Kammer“, wie er den abgedunkelten Raum mittlerweile nannte, verlassen hatte, konnte er es kaum erwarten, an seinem Rechner Platz zu nehmen und die überaus komplizierten Konstruktionspläne noch weiter zu verfeinern.
Doch an diesem Morgen war irgendetwas anders.
Anstatt sich ohne Umwege zu seinem Arbeitsplatz zu begeben, schlenderte er durch die endlosen Gänge, welche die verschiedenen Sektoren miteinander verbanden. Er wusste nicht genau, warum er das tat. Es war so, als ob er etwas suchte. Nur hatte er keine Ahnung, was das sein sollte.
Mit einer leichten Verwirrung betrat er die Küche und warf ein 50 Cent Stück in den Kaffeeautomaten. Er wählte einen Cappuccino mit extra Zucker, nur um feststellen zu müssen, dass das Getränk widerlich süß schmeckte. Eigentlich nicht verwunderlich, da er seinen Kaffee sonst schwarz trank.
Und dann betrat ER den Raum.
Paul spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Der knapp vierzigjährige Mann trug ein weißes Hemd, dessen oberen Knöpfe er offen gelassen hatte. Um seinem lässigen Auftreten ein wenig der Laszivität zu nehmen, trug er ein schwarzes Jackett.
„Darf ich mal?“, fragte er Paul und drängte sich ohne eine Antwort abzuwarten an ihm vorbei. Der Geruch eines schweren, herben Parfüms stieg in Pauls Nase. Es duftete betörend. So verdammt gut. Er wollte irgendetwas erwidern, doch die Worte blieben in seinem Hals stecken. Stattdessen bemerkte er, wie eine leichte Erektion den Schritt seiner Hose ausbeulte.
Mein Gott! Er war scharf auf den Kerl!
Blitzschnell verließ er die Küche. Er trabte den Gang hinunter und bog eilig um eine Kurve, bevor ihm der Mann im weißen Hemd noch einmal über den Weg laufen und ihn eventuell zu Dingen animierte, die er später bereuen würde.
Dann, mit fast zwanzig Minuten Verspätung, fand er endlich sein Büro und nahm vor seinem Rechner Platz. Immer noch verwirrt von der Begegnung in der Küche, begann er zu arbeiten. Klickte hier, schob ein paar Bilder von A nach B, schrieb ein paar Texte, löschte sie wieder, nur um danach wieder die gleiche Buchstabenfolge einzugeben. Er arbeitete unkonzentriert und wie in Trance.
„Was machen sie da?“, riss ihn eine scharfe Stimme aus seiner Träumerei. „Sie sollen hier arbeiten und nicht … was immer sie da auch machen“.
Paul starrte seinen Chef erstaunt an. Der Mann war sichtlich sauer. Wie immer, wenn ihm irgendetwas nicht schnell genug ging.
„Sehen sie zu, dass sie die Pläne für die Motorsteuerung noch diese Woche fertig bekommen. Ich habe keine Lust, dass unsere Abteilung wieder einmal die Produktion hinauszögert!“
Mit diesen Worten drehte sich Pauls Chef auf dem Absatz herum und verließ den Raum.
„Was zum …“, entfuhr es Paul. Ungläubig starrte er auf den Monitor. Er hatte gearbeitet wie ein wilder, ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken, was er tat. Herausgekommen war eine – für seinen Geschmack viel zu bunte – Powerpoint-Präsentation einer der Maschinen, die er eigentlich nicht bewerben, sondern konstruieren sollte.
„Irgendetwas stimmt hier nicht“, brummelte er.
Und tatsächlich. Schon der Start des CAD-Programms bereitete ihm Schwierigkeiten. Als das Fenster mit den zahlreichen, nur mit Hieroglyphen beschrifteten Knöpfen sich geöffnet hatte, saß er völlig ratlos vor dem Monitor.
„Das kann nicht sein!“

Zehn Minuten später stand er an der Tür der Werksicherheit und versuchte der Blondine das Unerklärbare zu erklären. „Irgendetwas muss heute morgen schief gegangen sein.“
Die Blondine schüttelte den Kopf. „Unwahrscheinlich. Sie wären der Erste.“
„Einer ist immer der Erste“, entgegnete Paul. „Auf jeden Fall ist da was drin …“, er klopfte mit dem gekrümmten Zeigefinger gegen seine Schläfe „was da nicht drin sein sollte.“
Mit einem Mal nahm das Gesicht der Werksicherheit einen ernsten Ausdruck an. „Setzen sie sich“, forderte die Frau ihn auf. Innerhalb weniger Sekunden hatte sie die Elektroden an ihn angeschlossen und starrte mit einem Stirnrunzeln auf die Monitore, auf denen seltsam aussehende Linien hin und her sprangen, zu deren Interpretation es vermutlich eines Studiums der angewandten Neurologie bedurfte.
„Sie haben versehentlich das Backup von einer Kollegin eingespielt bekommen“, erklärte die Frau leidenschaftslos. „Ich werde diese Informationen aus ihrem Gehirn löschen und durch ihre eigene Kopie ersetzen.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, dreht sie an verschiedenen Knöpfen und drückte auf ein paar Tasten. Das leichte Kribbeln an den Schläfen verriet Paul, dass der Vorgang fast abgeschlossen war. Das übliche Gefühl der Desorientierung stellte sich ein. Nur für einen kleinen Moment, dann begannen seine Augen zu leuchten.
„Alles in Ordnung?“, fragte die Blondine.
„Ja, jetzt ist es besser.“ Paul erhob sich von dem Sessel und lächelte dankbar. „Viel besser.“

Erneut hatte er Probleme, auf Anhieb sein Zimmer zu finden. Doch schließlich nahm er entspannt, immer noch ein Lächeln auf den Lippen, vor seinem Rechner Platz und begann wieder mit seiner Arbeit. Seine Finger flogen über die Tastatur. Wort für Wort füllte den Bildschirm, und genau rechtzeitig zum Feierabend beendete er sein Werk. Nun fehlte nur noch eine Kleinigkeit. Eine Kleinigkeit, die ihm den Kopf kosten würde. Dennoch war er sich sicher, dass es sich lohnte.
Er öffnete sein Email-Programm und setzte ein Schreiben an sich selbst auf: an seine private Adresse. In den Anhang der Mail packte er sein Tageswerk. Als der Mauszeiger über dem Sende-Knopf schwebte, zögerte er noch eine Sekunde, doch dann bewegte sich sein Zeigefinger unbarmherzig nach unten.
KLICK.
„Mail versendet“, stand auf dem Bildschirm.
Sie würden ihn dafür bekommen. Der Mailverkehr war die dümmste Art und Weise, Betriebsspionage zu betreiben, denn er wurde überwacht. Mit Hilfe der Logfiles würden die Verantwortlichen innerhalb kürzester Zeit herausfinden, wer an wen was gesendet hat. Und dann würden sie vor seiner Haustür stehen: der Werksschutz, die Polizei und vermutlich eine Traube sensationsgieriger Reporter und Fotografen.
Theoretisch!
Doch in diesem speziellen Fall würde es anders aussehen.

Nachdem Paul das Werk verlassen hatte, stellte er sich auf einen gemütlichen Fernsehabend ein. Pizza vom Bringdienst, eine nette DVD und später vielleicht noch einen kleinen Abstecher in die kleine mexikanische Bar bei ihm um die Ecke. Er brauchte dringend etwas zu ficken.
Doch als er zu Hause ankam und den Inhalt seines privaten Email-Accounts abrief, ahnte er schon vage, dass der Abend anders verlaufen würde. Und tatsächlich. Die nächsten vier Stunden war er mit tippen, lesen und telefonieren beschäftigt. Er verhandelte mit Menschen am Telefon, er feilschte um Geldbeträge, lachte, schwitzte vor geistiger Überanstrengung uns wusste nun sicher, dass es mit der mexikanischen Bar und einem One-Night-Stand der dort verkehrenden, alleinerziehenden, sexuell unterforderten Hausfrauen nichts werden würde. Er schob den Gedanken beiseite. Das hier war lohnender. Mit den Informationen, die sich auf seinem privaten Rechner befanden, würde er morgen vermutlich so viel Geld verdient haben, dass die alleinerziehenden, sexuell unterforderten Hausfrauen in Zukunft Models von Lagerfeld und Jope weichen würden.
Um kurz nach Zwölf lehnte er sich ausgelaugt aber zufrieden in seinem Bürostuhl zurück. Es war vollbracht. Und dieser verdammte, vermutlich von Scientologen verseuchte Industriekonzern würde andere Probleme haben, als ihn wegen Industriespionage zu verfolgen. Zuerst einmal würden sie versuchen, ihren eigenen Arsch an die Wand zu bekommen.

Zum ersten Mal seit Wochen wachte Paul vor dem Weckerklingeln auf und fühlte sich ausgeschlafen und zufrieden. Die Sonne fiel durch die Schlitze der schwarzen Schalosie und kitzelte in seiner Nase.
Gut gelaunt stand er auf. Ohne Hektik. Zähneputzen, duschen. Dann schlüpfte er in seine Kleidung vom Vortag und machte sich auf den Weg zum Bäcker, nicht ohne auf dem Rückweg noch eine Zeitung mitzunehmen.
Wieder zu Hause angekommen, setzte er einen Kaffee auf, lehnte sich genüsslich in dem Campingstuhl auf seinem Balkon zurück und schlug die Zeitung auf.

„Skandal im Konzern – lesen sie alles über die perversen Sexspiele der Führungsetage!“

Eine hetzerische Schlagzeile, nicht sein präferierter Stil, aber dennoch war es eine Schlagzeile, die ihm mehr Geld eingebracht hatte als fünf Jahre anstrengende Arbeit in dem Konzern.

Wissen ist Macht! Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, was dieser Satz wirklich bedeutete. Doch noch besser als hart angeeignetes Expertenwissen war das Wissen über die Geheimnisse in den Köpfen anderer Menschen. Er hatte den Industriekonzern hassen gelernt. Doch nun war es an der Zeit eine kurze, geistige Dankesrede zu halten.

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Tag der Veröffentlichung: 23.04.2011

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