Kennen Sie dieses Gefühl, das einen beschleicht, wenn man nachts eine einsame Gasse entlang läuft und plötzlich Schritte hinter sich hört? Schritte, die zuerst ganz leise erklingen, kaum wahrnehmbar, aber doch unterschwellig vorhanden. Vermutlich denken Sie sich zunächst nichts dabei. Erst wenn die Schritte lauter werden, den Eindruck erwecken, als näherten sie sich Ihnen, als säße Ihnen ein Verfolger im Nacken, ein Beil in der Linken und eine rostige Fahrradkette in der Rechten, erst dann fällt es einem von Sekunde zu Sekunde schwerer, sich nicht umzudrehen.
Sie wissen, dass niemand Ihre Schreien hört, wenn der Verfolger Sie überfällt. Andererseits ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich einfach nur um jemanden handelt, den ebenfalls die Schlaflosigkeit in die kalte Novembernacht getrieben hat. Ein Spaziergänger. Harmlos. Und dennoch. Dieses merkwürdige Gefühl, das Sie einfach kennen müssen, bleibt bestehen. Das Gefühl, als würde etwas in Ihrem Kopf explodieren, wenn Sie sich nicht auf der Stelle umdrehen, um sich Gewissheit darüber zu verschaffen, wer Ihnen folgt.
Es gibt Menschen, die können dieses Gefühl einfach ertragen. Sie gehen einfach weiter. Sie drehen sich nicht um. Ich für meinen Teil tue mich sehr schwer damit, dieses Gefühl im Zaum zu halten. So auch in der besagten Novembernacht.
Meine Schritte wurden ein wenig langsamer und mein Atmen tiefer. Die Spannung zog sich durch meinen Brustkorb wie eine Gummiband, mit dem Kinder Twist spielen - bereit, jederzeit zu zerreißen und mir mit einem mörderischen Peitschenknall ins Gesicht zu schlagen. Doch bevor ich es dazu kommen ließ, drehte ich mich um …
… und sah in das Gesicht eines Engels.
Der Engel befand sich nur wenige Schritte hinter mir. In der Zeit, die er zum Reagieren benötigte, kam er noch zwei Schritte näher und raste fast in mich hinein. Doch im letzten Moment kam er zum Stehen, so dicht vor mir, dass ich jede einzelne Lamelle seiner blauen Iris erkennen konnte.
Vielleicht fragen Sie sich, wie ich auf die Idee gekommen bin, dass es sich bei dem blonden Mann, der mir gegenüber stand, um einen Engel handelte? Ich könnte Ihnen nun erzählen, es habe an der Farbe seines Haares gelegen, an den Augen, die so azurblau leuchteten, wie der Himmel an einem späten Sommernachmittag, oder aber an den seltsamen weißen Gewändern, die er trug und die mich unweigerlich an eine römische Toga erinnerten. Doch nichts von all dem trifft den Kern des Ganzen. Ich war mir sicher, dass es sich um einen Engel handelte, weil er es mir sagte.
„Sie sind was?“, fragte ich entgeistert.
„Ja, sie haben richtig gehört“, wiederholte der Mann mit einem Lächeln, bei dem jeder Fernsehmoderator neidisch geworden wäre, „Ich bin Ihr Schutzengel.“
Im ersten Moment wusste ich nicht, ob ich lachen oder mich einfach abwenden und weitergehen sollte. Ich entschied mich für letzteres, kam aber kaum zwei Schritte weit, bevor mich mein vermeintlicher Schutzengel am Ärmel meiner Jacke griff und grob zur Seite zog, so dass wir beide auf dem Asphalt der regennassen Straße landeten.
„Vorsicht“, sagte der Engel und ich fragte mich verzweifelt, warum er mich nicht gewarnt hatte, bevor er mich in den Dreck katapultiert hatte.
„Was soll der Unsinn?“, fragte ich wirsch und rieb mir den schmerzenden Ellenbogen, mit dem ich unsanft auf der Bordsteinkante aufgekommen war. Statt einer Antwort nickte der Engel nur in die Richtung des Gehwegs. Wäre ich nur einen Schritt weiter gegangen, dann wäre ich in einem Hundehaufen gelandet.
„Sehen Sie?“, fragte der Engel.
„Was soll ich sehen? Statt in einen Haufen Scheiße zu latschen, lande ich auf der Straße.“ Meine linke Hand fuhr zu meinem Ellenbogen und ertastete das Loch in meiner Jacke. „Schauen Sie sich diese Scheiße an“, fluchte ich. „Brandneue Jacke. Dank meines Schutzengels … kaputt!“
Wenn Sie nun glauben, der Engel hätte sich durch meinen Wutanfall beeindrucken lassen, liegen Sie falsch. Selbst als ich mich wieder von der Straße erhoben hatte und wutschnaubend auf den Blonden los stürmte – weniger um ihn anzugreifen, als um ihn einzuschüchtern – stand er wie ein Fels in der Brandung der Nacht und lächelte mich an. Tatsächlich war ich es, der eingeschüchtert war. Der Engel bemerkte das. Als ich nur noch eine Elle weit von ihm entfernt war und abrupt stehen blieb, als wäre ich gegen eine Mauer aus Beton gelaufen, wurde sein Grinsen noch breiter.
„Lassen Sie mich einfach in Ruhe“, presste ich zwischen meinen Lippen hervor, drehte mich um und ging die Straße hinab, ohne noch einmal zurück zu blicken.
Natürlich ließ mein Engel mich nicht in Ruhe. Im Gegenteil. In den darauf folgenden Tagen, tauchte der Blonde immer öfter auf und rettete mich aus Situationen, die zwar nicht gefährlich oder tödlich, aber doch unangenehm hätten enden können. Ich machte mir nicht die Mühe, zu fragen, woher er gekommen war – oder warum. Ich versuchte ihn schlichtweg zu ignorieren, was mir allerdings von Tag zu Tag schwerer fiel. Seine Auftritte waren einfach zu penetrant dafür. Als er mich dann eines Tages auf der Herrentoilette eines Restaurants überraschte, während ich gerade am Pissoir stand, war das der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte.
Ich spürte seine Präsenz, bevor ich das blonde Haar erblickte. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass er an einer Wand lehnte, ein freundliches Lächeln im Gesicht, die Hand vermutlich schon erhoben, um mich zu warnen. Vor einer Pfütze auf dem Boden, einem Stück Seife auf den Fließen, einem kaputten Wasserhahn, aus dem kochend heißes Wasser strömte …
„Es reicht!“, schrie ich und wirbelte herum, nachdem ich meine Hose wieder geschlossen hatte. Während ich auf meinen Engel zu stürmte, spürte ich die Zornesröte in mein Gesicht steigen. Doch der Engel reagierte weder erschrocken, noch ängstlich. Selbst als ich mit beiden Händen den Kragen seines Hemdes ergriff und ihn zu mir heranzog, ihm Angesicht zu Angesicht gegenüberstand und das Gift meiner Wut voller Hass in sein Gesicht sprühte, glaubte ich, so etwas wie ein mildes, vergebendes Lächeln zu erblicken.
„Um ein Haar, wärst du in der Pfütze dort ausgerutscht“, erklärte er und schaute an mir vorbei. Mein Blick folgte dem seinen. Und tatsächlich. Auf dem Boden befand sich eine Wasserpfütze von dem Durchmesser eines Gullideckels. Wäre ich nicht zu ihm gestürmt, sondern direkt zur Ausgangstür der Toilette gegangen, wäre ich unweigerlich in die Pfütze getreten. Vermutlich ausgerutscht, hingefallen, aufgestanden und … ja genau. Nichts wäre passiert. Ein Missgeschick. Mein Engel hatte mich wieder einmal vor einer Situation bewahrt, die täglich Millionen von Menschen widerfährt, und über die sich keiner dieser Menschen sonderlich aufregte.
„Es reicht!“, wiederholte ich. Doch wieder wurde meine Wut nur in Form eines freundlichen Lächelns reflektiert. Ein Lächeln, das sämtliche Bänder sprengte, die den Hass in mir bislang festgezurrt hatten. „Ich hasse Stalker! Lass mich in Ruhe! Verschwinde! Such dir jemand anderen, den du vor diesen Lappalien bewahren kannst!“
Wieder nur ein Lächeln.
Noch mehr Zorn, der in mir hoch brodelte, wie Lava in einem Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand. Ohne darüber nachzudenken, löste ich meine Rechte von seinem Kragen, holte aus und schlug zu.
Meine Faust traf ihn mit voller Wucht ins Gesicht. Ein stechender Schmerz fuhr durch meine Finger, doch die Wut in mir überdeckte diesen fast gänzlich.
Der Engel grinste weiter. In die Freundlichkeit hatte sich ein hämischer Ausdruck gelegt, der wie ein Brandbeschleuniger auf meine Wut wirkte. Ich schlug erneut zu. Wieder und immer wieder. Ich war wie in Trance und beachtete weder den Schmerz in meiner Hand, noch das Blut, das aus seinem zerberstendem Gesicht gegen die weiße Wand der Toilette spritzte und dort skurrile Figuren hinterließ. Sie erinnerten an die Schmetterlingsbilder, die Psychologen kleinen Kindern zeigten, und diese dann fragten, was sie darin erkannten.
Der Körper des Engels wurde schwerer und schwere in meiner linken Hand. Nach einer Weile stellte ich fest, dass der Blonde nur noch stand, weil ich ihn mit der Linken gegen die Wand drückte. Sein Bewusstsein hatte sich schon längst verabschiedet.
Erschrocken darüber, was ich getan hatte, ließ ich ihn los. Der Körper rutschte an der Wand hinab und blieb bewegungslos auf den kalten Fließen liegen.
Ein Gefühl der Angst überkam mich. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, wie lange ich auf den Engel eingedroschen hatte. Verdammt, ich wusste nicht einmal, ob er noch lebte. Doch ich traute mich auch nicht, mich zu der Gestalt hinab zu beugen und nach dem Puls zu tasten.
Die Angst wurde zu Panik, als ich Stimmen auf dem Flur hörte. Männliche Stimmen, die langsam näher kamen.
Scheiße. Ich hatte einen Menschen – entschuldigen Sie, ich meine „Engel“ - zusammen geschlagen, vielleicht sogar getötet. Jeder logische Gedanke in meinem Kopf setzte aus. Mechanisch sprangen meine Muskeln an. Die Beine bewegten sich, auf die Tür zu. Ich riss sie auf und stürzte wie ein 100-Meter-Sprinter aus dem Raum, rannte dabei die beiden Männer in grauen Geschäftsanzügen fast über den Haufen. Es war mir egal. Ich musste einfach nur raus hier. Weg vom Ort des Geschehens.
Durch das Restaurant, an den verwirrt drein blickenden Kellnern vorbei, geradewegs zu auf die gläserne Eingangstür. Der Anblick hinter dem Glas versprach frische Luft. Freiheit.
Ich hechtete nach draußen. Ohne mich nach rechts oder links umzudrehen, stürmte ich los, schnitt den Passanten zu beiden Seiten den Weg ab und fand mich plötzlich mitten auf der sechsspurigen Straße wieder.
Und das war der Zeitpunkt, an dem mein Verstand langsam wieder einsetzte. Allerdings viel zu langsam. Zu viele Informationen strömten auf mich ein. Die Schreie der Passanten, so als wäre ein blutverschmierter Mörder aus einem Restaurant gestürmt – bis mir klar wurde, das genau das der Fall war. Das Hupen der Autos, der Fahrtwind der LKWs, die an mir vorbei rasten und der Blick des Engels hinter dem Steuer des Touareg, der mit hoher Geschwindigkeit genau auf mich zu kam. Plötzlich wünschte ich mir doch wieder einen Beschützer, doch der einzige der in erreichbarer Nähe war, hatte seinem Gesichtsausdruck zufolge nicht vor, mir ein weiteres Mal zu helfen. Im Gegenteil. Je näher er kam, desto deutlicher konnte ich sein Gesicht erkennen. Das blonde Haar, die tiefblauen Augen, und der abgrundtiefe Hass, der mir aus ihnen entgegen schlug.
Tag der Veröffentlichung: 15.11.2010
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