Die Frau war etwa Mitte Vierzig und torkelte sturzbetrunken auf Jonie zu. Im ersten Moment beachtete er sie gar nicht. Erst als sie keine zwei Meter von ihm entfernt auf dem Asphalt aufschlug, erkannte er ihr Gesicht. Er war versucht, ihr die gleichen Worte entgegen zu schleudern, wie sie es vor zehn Jahren getan hatte. Doch dann betrachtete er mitleidvoll, wie sie halb bewusstlos und mit blutender Stirn, eine Wodkawolke ausdünstend, vor ihm auf dem Boden lag und erinnerte sich daran, dass er damals keineswegs besser gewesen war als die Frau. Vor seinem inneren Auge erschien wieder dieser Tag, der alles geändert hatte.
Damals war seine Kleidung schmutzig und zerfetzt gewesen, aber das hatte ihn nicht interessiert. Er hatte jede Mark für seinen Stoff gebraucht.
An jenem sonnigen Augusttag war er über den Bahnhof geschlendert, hatte seinen Stammdealer gefunden, zwei Viertel Gramm Heroin gekauft und sich schleunigst aus dem Staub gemacht, bevor ihn einer der zahlreichen Zivilbullen anhalten konnte.
Er war am Ende gewesen. Wirklich am Ende, nämlich an dem Punkt, an dem er ernsthaft mit der Fixerei aufhören wollte, aber feststellen musste, dass er es nicht mehr konnte. Zwölf Stunden ohne Druck und das Zittern seiner Hände gab der Angst in seinem Kopf und den Krämpfen in seinen Beinen die Hand.
Jonie sah sich nicht um, als er über die Straße rannte, wurde fast von einem silbernen Mercedes umgenietet, der mit hoher Geschwindigkeit die Fahrbahn hinunter bretterte und erreichte wohl nur durch seine Schutzengel die gegenüberliegende Seite, wo er im Park verschwand und sich ein dichtes Gebüsch suchte.
Er schüttete das hellbraune, kristallene Pulver auf den Esslöffel, den er in seiner Tasche trug und versetzte es mit ein wenig Zitronensaft. Während er den Schuss über einem Feuerzeug erhitzte, beobachtete er ungeduldig, wie sich die Kristalle lösten. Seine Hände begannen bereits zu zittern, als er den Stoff in die Einwegspritze aufzog. Es wurde Zeit.
Doch dann riss der Vorhang aus Zweigen und Blättern auf. Hätte er das Heroin nicht bereits in die Spritze aufgezogen gehabt, so hätte er es sicherlich vor Schreck verschüttet. Für einen Augenblick setzte sein Herz aus. Er dachte, einer der Zivilbullen hätte ihn in flagranti erwischt. Doch dann sah er nur einen kleinen Jungen vor ihm stehen und mit großen Augen auf die Spritze in seiner Hand starren.
„Was machst Du da?“, fragte der Junge.
„Nichts“, erwiderte Jonie. „Und nun mach, dass Du wegkommst.“
Doch der Junge machte keine Anstalten, das Gebüsch zu verlassen.
„Hörst Du nicht?“, fragte Jonie. „Geh zu Deiner Mutti.“
Blitzschnell wirbelte der Kopf des Jungen herum, dann wieder zurück zu Jonie und seine Augen wirkten auf einmal glasig und feucht.
„Ich weiß nicht, wo die ist“, schluchzte er.
„Oh Scheiße“, fluchte Jonie leise vor sich hin. Er legte die Spritze vorsichtig auf den Boden, bedeckte sie mit Laub und stand auf.
„Komm“, sagte er, während er den Jungen an der Hand nahm und mit ihm aus dem Gebüsch schritt, um sich auf die Suche nach dessen Mutter zu machen.
Er brauchte nicht sonderlich lange suchen. Kaum hatten sie das Versteck verlassen, hörte er auch schon die Schreie. Einen Augenblick später sah er die Frau auf ihn zurennen.
„Asozialer Abschaum“, kreischte sie und entriss ihm den Jungen. „Hau ab und lass mein Kind in Ruhe ...“
„Aber Mama ...“, protestierte der Junge.
„Nichts da! Du kommst sofort mit! Siehst Du nicht, dass das ein Penner ist? Willst Du genauso werden wie er?“
Voller Erniedrigung hatte Jonie sich in das Gebüsch zurück geschleppt. Dann hatte er sein Besteck gesucht, das Heroin auf den Sandboden gespritzt und sich auf seinen ersten, ernsthaften Opiatentzug gefasst gemacht.
Seit zehn Jahren war er nun clean. Und nun, nach so langer Zeit, schien es, als hätten sich die Rollen gedreht. Nochmals sah er die Frau an, und nochmals überlegte er, ob er sie als Schlampe bezeichnen und sie einfach liegen lassen sollte.
Doch dann ging er zu ihr, nahm ihre Hand und half ihr auf die schwankenden Beine.
„Kommen Sie“, sagte er. „Ich bringe sie nach Hause.“
Tag der Veröffentlichung: 13.05.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch ist meiner Schwester Claudia gewidmet, die am 10. Juli 1999 an dem Heroin starb, das ihren Geist verwirrte