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„Als ich gestern Abend bei Dir war, habe ich zum ersten Mal seit Jahren wieder die Wärme und Liebe eines menschlichen Wesens gespürt.“
Die Stimme war eher ein Flüstern, dennoch schreckte Jacqueline aus dem Schlaf hoch. Ihre Muskeln hielten die Anspannung nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann legte sich eine seltsame Ruhe über ihren Geist – eine Ruhe, die unnatürlich war in Anbetracht der Tatsache, dass er wieder auf dem Sims vor ihrem geöffneten Fenster hockte und mit teils liebkosenden, teils arroganten Blicken auf sie herab schaute.
Jacqueline drehte den Kopf in seine Richtung. Das einzige, was sie sah, war eine Silhouette, die das vom Himmel fallende Mondlicht erzeugte.
„Warum bist du dann gegangen?“, fragte sie.
Deutlich sah sie, wie der Schatten die Schulter hob und dann voller Resignation wieder fallen ließ. Sie musste sich auf die Lippen beißen, um dem Drang zu widerstehen, ihre Frage erneut zu stellen. Sollte er doch reden. Er, der seit Wochen jeden Abend vor ihrem Fenster aufgetaucht war. Zu Beginn hatte sein Erscheinen sie geängstigt, aber je öfter er dort saß und mit ruhiger, wohlklingender Stimme sprach, desto mehr sehnte sie sich nach der Nacht, nach seinem Besuch, nach seinen Berührungen.
Am Abend zuvor war er zum ersten mal vom Fenstersims hinab gestiegen, an ihr Bett getreten, hatte seine Hand sanft in die ihre gelegt, sie umarmt und schließlich geküsst, allerdings nur, um kurz vor dem Augenblick des völligen Fallenlassens wortlos wieder auf den Sims zu steigen und in die Nacht zu fliehen.
Als er bemerkte, dass Jacqueline die Unterhaltung von sich aus nicht weiterführen würde, ergriff er wieder das Wort.
„Alles, was ich die letzten Jahre erlebt habe, erscheint mir wie eine einzige große Lüge.“ Er fügte eine Pause ein, um seinen Worten die gewisse Art von Pathos zu verleihen, sie sie bereits von ihm gewohnt war. „Eine Lüge, die ich selbst jetzt noch, nachdem ich dich geküsst habe, bis auf mein Blut verteidige.“
„Welche Art von Lüge, meinst Du?“, fragte sie.
„Die, dass ich meine Liebe vielleicht schon längst gefunden habe ...“
Jacqueline war nicht klar, ob seine Worte eine Frage oder eine Aussage waren. Vorsichtig richtete sie sich in ihrem Bett auf, erstarrte aber sofort, als sie bemerkte, dass sich seine Muskeln anspannten und er kurz davor war, wieder in das Dunkel der Nacht zu stürzen. Weg von ihr.
Sie verharrte einen Augenblick in ihrer Starre, bis sie sich sicher war, dass seine Anspannung nahezu vollständig verflogen war.
„Hast du?“
Erneut zuckte die Silhouette mit den Schultern, drehte dann den Kopf weg von ihr und starrte in den sternklaren Himmel.
„Vielleicht ...“, antwortete er.
„Warum besuchst du dann mich anstatt deine bereits gefundenen Liebe?“
Wie in Zeitlupe drehte sein Kopf sich zurück zu ihr. Obwohl sein Gesicht völlig im Schatten lag, glaubte Jacqueline in Höhe seiner Augen ein dunkles Leuchten zu sehen. Ein Leuchten, das weniger auf den physikalischen Eigenschaften von Licht beruhte, sondern eher auf denen von gewaltiger, leidenschaftlicher Emotionen.
„Weil du mich in Versuchung führst. Du bist ...“
„Was?“
„... hübsch. Dein Duft berauscht mich mehr als der süßliche Duft des Opiums, den ich vor langer Zeiten in den Reisfeldern von China gerochen habe. Du bist so ... unverdorben, jungfräulich und dennoch nicht dem Risiko abgeneigt, in meiner Nähe zu sein.“
„Weil ich dich will“, flüsterte sie mit einer Stimme, die so brüchig und leise war, dass sie nicht glaubte, die Luft würde sie überhaupt bis zu seinen Ohren tragen. Zu ihrer Überraschung reagierte er dennoch darauf.
„Glaubst du, dass das eine gute Idee ist?“
Noch während er sprach, sprang er vom Fenstersims in ihr Zimmer hinein und ging mit langsamen, bedächtigen Schritten auf sie zu. Mit jedem Meter, den er ihr näher kam, klopfte ihr Herz stärker und schneller. Eine fast unangenehme Wärme breitete sich in ihrem Bauch und Brustkorb aus, die ihren Höhepunkt fand, als er sich an ihren Bettrand setzte und zärtlich eine Hand auf das Tal zwischen ihren Brüsten legte.
Das Atmen fiel ihr schwer und es erschien ihr nahezu unmöglich, auch nur einen einzigen, vernünftigen Gedanken zu fassen. Während seine Hand vorsichtig über ihren Körper wanderte, den sie, in Hoffnung auf einen erneuten Besuch von ihm, unbedeckt gelassen hatte, kroch ein sanftes Stöhnen über ihre Lippen. „Wer sagt dir, dass du mich haben kannst?“, fragte er. „Wer sagt dir, dass es nicht umgekehrt ist, dass ich dich habe, jetzt, in einem einzigen Augenblick der Hingabe, nur in dieser Nacht und danach nie wieder? Wer sagt dir, dass du es bist, der die Freude an dieser Vereinigung hat und nicht ich?“
Jacqueline wollte etwas antworten, irgend etwas, aber ihre Sinne schwammen durch einen dicken Nebel, der ihre jede Möglichkeit stahl, einen klaren Gedanken zu fassen.
„Du willst mich – tatsächlich?“, flüsterte er in ihr Ohr, während seine Lippen die Seite ihres Halses liebkosten.
Wieder entfuhr Jacqueline nur ein Stöhnen – allerdings ein solches, das eindeutig als „Ja“ zu deuten war.
Das war ihm Geständnis genug. Es war mehr als das. Es war eine Einladung, sie zu nehmen. Mit allen Konsequenzen, für ihn und für sie. Er hatte diese Konsequenzen so oft und zahlreich am eigene Leib erfahren, dass er sie schon gar nicht mehr in Zahlen fassen konnte. Ihm war es egal. Sein Gewissen war im Laufe der Jahre derart verkrüppelt, dass ihm Begriffe wie Moral und Ethik wie Worte aus einer weit entfernten Welt erschienen.
Seine Lippen wurden fordernder, öffneten sich, seine Zunge strich sanft über die zarte, weiße Haut und er spürte das Animalische in sich aufsteigen, wie das Lava aus einem Vulkan. Seine Fänge durchbohrten sein kribbelndes Zahnfleisch und zeigten ihm deutlich, dass es kein Zurück mehr gab. Kraftvoll, aber dennoch zärtlich drängten die spitzen Eckzähne durch ihre Haut, wühlten tief im Fleisch ihres Halses, fanden die Aorta carotis und zerrissen sie, während seine Lippen das pulsierende, nach Zimt und Rosenblätter schmeckende Blut aufnahmen.

Jacqueline war bereit. Sie wollte ihn, ganz gleich, was er mit ihr anstellen mochte. Seine Küsse und das zarte Streicheln ihres Halses fühlte sich noch intensiver an als am Abend zuvor. Sie stöhnte. Seine Hand, die ihren Nacken stütze, hielt dem Gewicht ihres nach hinten sinkenden Kopfes stand, so dass sie sich völlig entspannen und gehen lassen konnte. Genießen konnte.
Doch dann kam der Schmerz. Es war ein infernalischer Schmerz, der sich anfühlte, als würde ihr Geliebter siedendes Öl in ihre Adern pumpen. Dennoch unterdrückte sie jegliches Aufbäumen oder auch nur den Ansatz einer Abwehrreaktion. Sie hatte ihm offenbart, dass sie ihn wollte und damit hatte sie ihm gleichzeitig das Einverständnis gegeben, sich zu nehmen, was er wollte.
Gerade als sie glaube, der Schmerz müsse nun nachlassen oder zumindestens geringer werden, verstärkte sich das Brennen in ihren Blutgefäßen. Es zerrte, nagte und riss an ihrer Seele wie eine Raubkatze an einem toten Stück Fleisch. Gnadenlos, voller Hingabe und Gier. Und dennoch spürte sie noch etwas anderes. Ein unterschwelliges Gefühl von Liebe, Vertrauen und ein Versprechen seinerseits, an das sie zu glauben gewillt war, obgleich er ihr diese höllischen Schmerzen bereitete.
Dann senkte sich Ruhe über sie. Es war das gleiche Gefühl, dass sich einst nach einer langen, befriedigenden Liebesnacht mit ihrem Gatten eingestellt hatte – nur millionenfach stärker.
Seine Hand, die immer noch unter ihrem Nacken lag, hob ihren Oberkörper mühelos an und sie konnte ihm kurz in seine dunklen, von Leidenschaft erfüllten Augen blicken.
„War es das, was du wolltest“, fragte er.
Sie wollte nicken, aber ihre Muskeln gehorchten kaum noch. Mit letzter Kraft, nahm sie einen letzten Atemzug, sog den Duft seiner herben Männlichkeit ein und verwendete die dann ausströmende Luft für eine letztes „Ja“.
Sanft ließ er sie auf ihr Bett zurück sinken. Einen kurzen Augenblick sah er sie noch voller Hingabe an, neigte dann seinen Kopf und berührte ihre Lippen mit den seinen. Das Blut, das er darauf hinterließ, glitzerte im Mondlicht, das sich wie eine Schneedecke über sie legte und ihr Gesicht bleich wie Elfenbein färbte.
„Dann schlafe jetzt!“, flüsterte er ihr zu, stolzierte gestärkt durch ihr Blut wieder zum Fenster, setzte sich auf den Sims und schaute seiner wahren Liebe in die Augen.
Er wusste, dass sie sich dem Ende neigte. Bald würde die Sonne aufgehen, deren Strahlen ihn zwangen, in seine Gruft zurück zu kehren.
Trotz allem glaubte er, dass diese Liebe niemals sterben würde. Einen halben Tag später würde sie wieder den schützenden Mantel der Nacht über ihm ausbreiten ...

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Tag der Veröffentlichung: 02.05.2009

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