Mit einen Ruckeln, dass selbst einen Mann im besten Alter zum Wanken gebracht hätte, blieb die Straßenbahn stehen. In weiser Voraussicht hatte Carl seine Füße gegen die gegenüberliegende Sitzbank gestemmt und damit verhindert, dass die Fliehkraft ihn nach vorne schleuderte. Er kannte die Strecke. Er kannte sie in- und auswendig. Seit mehr als zehn Jahren brachten ihn die scheinbar wahnsinnig gewordenen Straßenbahnfahrer jeden Abend auf die gleiche Art und Weise nach Hause: durchgeschüttelt. Aber er hatte sich daran gewöhnt und mittlerweile verzichtete er sogar darauf, zu fluchen, wenn die Straßenbahn wieder einmal eine Vollbremsung vollführte.
So auch heute. Anstatt sich aufzuregen, warf er einen Blick aus dem Fenster und betrachtete die Skyline und deren erleuchteten Fenster. Auch seit mehr als zehn Jahren. Das einzige, was neu war, war das Tanzstudio, das vor knapp einer Woche eröffnet hatte. Seitdem brannte dort jeden Abend Licht. Schummriges Licht, das an ein gemütliches Kaminfeuer erinnerte, wenn die Schatten an den Wänden ihre Position öfter mit den warmen Lichtflecken tauschen würden.
Bisher war dort nicht viel los gewesen. Von der Straßenbahnhaltestelle aus hatte Carl einen erstklassigen Ausblick auf das Panoramafenster des Studios. Aber wenn er überhaupt jemanden hinter der Scheibe erblickte, dann war es immer nur die gleiche Frau, die sich zu einer lautlosen Musik bewegte.
Ein Lächeln fuhr über seine Züge. Wie in "Darf ich bitten?", dachte er. Mit dem Unterschied, dass Richard Gere in dem Tanzstudio, das er von der U-Bahn aus erblickte, eine junge, hübsche Frau sehen konnte. Carl hingegen musste sich mit dem abgeben, was Frankfurt so zu bieten hatte – und das waren offenbar nur Frauen in reiferem Alter.
Nicht, dass er an einem Techtelmechtel mit einer jungen Tänzerin interessiert gewesen wäre. Schließlich war er glücklich verheiratet. Dennoch vermisste er manchmal die kleinen Glücksmomente, die Schauspielern immer wieder über den Weg liefen – zumindestens auf der Leinwand.
Er war kein Schauspieler, sondern lediglich ein Bio-Informatiker, mit einer Arbeit, deren Beschreibung die meisten Menschen vermutlich sofort zum Einschlafen gebracht hätte. Er war ein Langweiler, nicht bereit, etwas zu riskieren, immer seinen Weg beschreitend, ohne nach links oder rechts zu blicken. Mehr noch. Er war ein Mann, dem jeglicher Spaß am Leben abhanden gekommen war. Arbeiten, nach Hause, Fernseher an und das war's.
Carls Gedanken verwandelten seinen Kopf in den Abfluss einer Badewanne, der das Wasser in einem unwiderstehlichen Sog im Uhrzeigersinn herumwirbelte und nach unten zog. Er war so in Gedanken, dass er gar nicht bemerkte, wie er seine Aktentasche unter den Arm klemmte, aufstand, den Knopf an der Straßenbahntür betätigte und mit hastigen Schritten die Stufen hinabstieg, die ihn in eine ziemlich heruntergekommene Gegend des frankfurter Industrieviertels beförderten.
Es war bereits dunkel, als er aus der Bahn trat und den Eingang des Studios suchte. Von der Straße aus unterschieden sich die Häuser kaum voneinander. Dennoch fand er recht schnell das richtige Gebäude. Ein großes, hölzernes Tor, das am oberen Ende rundlich zulief und gut drei Meter breit war, bildete den Eingang zu einem Treppenhaus, das irgendwie gar nicht in die Umgebung passen wollte. Während auf der Straße der Wind den Müll umher wirbelte und die kaputten Gehwegplatten im dämmrigen Licht der Laternen zu wahren Stolperfallen wurden, wirkte der Aufgang zum Tanzstudio wie das Foyer eines Nobelhotels. Über der hölzernen Treppe mit den weit ausladenden Stufen lag ein bordeuxroter Teppich. Das Geländer war aus dem gleichen Holz wie die Stufen gefertigt. Auf ihm glänzten im Abstand von je zwei Metern Messingkugeln im Licht der Treppenhausbeleuchtung, die an den Wänden angebracht war.
Für einen kurzen Augenblick stockte Carl der Atem. Dass das Ambiente eines Tanzstudios etwas Besonderes sein sollte, war ihm klar, aber mit solch einem Prunk hatte er nicht gerechnet. Aus seinem stockenden Atem wurde ein Ziehen, dass sich seinen Hals hinunter fortpflanzte und schließlich als penetrantes Brennen in seinem Magen endete. Er fühlte sich, als hätte er sich maßlos überfressen. Mit fast andächtigen Schritten stieg er Stufe für Stufe nach oben und versuchte das unangenehme Gefühl in seinem Bauch zu ignorieren. Er schob die Schmerzen auf die Aufregung – die Aufregung vor dem Unbekannten. Das Gefühl, fremd zu gehen, obwohl er genau wusste, dass das Unfug wahr. Er war auf dem Weg in ein Tanzstudio, nicht in ein Bordell. Und seine Frau Sarah war die Letzte, die Tanzen als fremdgehen definieren würde. Schließlich war sie selbst passionierte Tänzerin und trainierte seit über fünfzehn Jahren mit einem festen Tanzpartner zusammen.
Als er im zweiten Stock ankam und durch eine große, altertümliche Glastür den Tanzsaal betrat, war das Gefühl in seinem Magen bereits verschwunden. Dennoch stockte ihm zum zweiten Mal der Atem, als er die Einrichtung des Studios sah. Nichts erinnerte an eines dieser neumodischen Tanzstudios, die sich hauptsächlich mit Modetänzen und Hip Hop beschäftigten. Stattdessen fühlte er sich in ein anderes Jahrhundert zurück versetzt.
In dem Saal hätte man gut und gerne vier Wohnungen unterbringen können. Wie im Treppenhaus, war auch hier nur indirektes Licht vorhanden, das ein sanftes orangenes Glühen an die Säulen warf, die am Rande des Parketts die Decke zu stützen schienen. An den Wänden hingen Ölgemälde. Nichts Neumodisches, sondern klassische Kunstwerke, die elegant gekleidete Paare beim Tanz zeigten. Dem Eingang gegenüber, in dem Carl stand, befand sich eine Bar, die wirkte, als wäre sie direkt aus den zwanziger Jahren in diese Zeit versetzt worden.
Inmitten dieser Welt tanzte sie mit Bewegungen durch den Saal, die höchste Ästhetik darstellten. Obwohl Carl schon zahlreichen Turnieren seiner Frau beigewohnt hatte, war ihm noch nie aufgefallen, wie ästhetisch Tanzen wirken konnte. Sie bemerkte ihn nicht, sonder tänzelte mit Bewegungen, die leicht aussahen, aber vermutlich jahrelanges Training benötigten, durch den Raum und ließ sich von der leisen Musik im Hintergrund tragen.
Zum dritten Mal innerhalb kürzester Zeit stockte sein Atem. Und erneut pflanzte sich das Gefühl in seinen Bauch fort. Dieses Mal allerdings weitaus heftiger. Das latente Ziehen wurde zu einem Brennen, dann zu einem Stechen, als würde ihm jemand glühende Nadeln in den Magen treiben. Gepresst atmete er aus und schlug seine Hände vor den Bauch. Innerhalb von Sekundenbruchteilen wurde der Schmerz so schlimm, dass er das Gefühl hatte, es würde ihn zerreißen. Seine Knie sackten ein und mit einem dumpfen Schlag landete er auf dem Boden.
Jetzt erst bemerkte die Tänzerin ihn. Mit schnellen Schritten war sie bei ihm und kniete sich nieder, während Carl immer noch verkrampft auf dem Boden lag und sich den Bauch hielt. Das Gefühl ging weit über ein Unwohlsein hinaus, das er allein auf seine Aufregung schieben konnte.
"Mein Gott", keuchte die Frau, noch völlig außer Atem von ihrer tänzerischen Darbietung. "Was haben sie? Soll ich einen Arzt rufen?"
Einen Arzt? Ebenso schnell, wie der Schmerz in Carl aufgestiegen war, verging er auch wieder. Auf einmal war er völlig verschwunden und er fragte sich, was ihn dazu gebracht hatte, sich auf dem Hochglanzparkett zu winden.
"Ich ...", stotterte er. "Nein. Ich ... mir war nur einen kleinen Augenblick unwohl." Die Frau runzelte ungläubig die Stirn. Carl war klar, dass seine Antwort ziemlich untertrieben auf die Frau wirken musste. Niemand, der sich ein wenig unwohl fühlte, führte ein solch theaterreifes Schauspiel wie er auf. Als die Frau ihm unter den Arm greifen wollte, um ihm auf die Beine zu helfen, entledigte er sich mit einer schnellen Bewegung ihres Griffes und stand selbst auf. Die Schmerzen, die ihn eben noch in Todesangst gewiegt hatten, waren wie in Luft aufgelöst. Geblieben war nur das schnelle Hämmern seines Herzens, das seinen ganzen Leib auszufüllen schien.
"Es tut mir leid", nahm er den Faden wieder auf. "Ich wollte sie nicht erschrecken. Es war wirklich nur ein kleiner Moment. Nun ist alles wieder in Ordnung."
Das Gesicht der Frau ließ keinen Zweifel, dass sie ihm nicht glaubte.
"Kommen sie", sagte sie und nahm ihn bei der Hand. Dieses mal ließ er es zu, dass sie ihn berührte und ihn sanft zur Bar zog. "Möchten sie ein Glas Wasser?"
Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern nahm eines der teuer aussehenden Kristallgläser, die auf dem Regal standen, öffnete eine Flasche mit Mineralwasser, das einzige, das Carl daran erinnerte, in welcher Zeit er sich wirklich befand, und schenkte ihm ein halbes Glas ein.
Nachdem er hastig getrunken hatte und sich sein Herzschlag beruhigt hatte, reichte sie ihm die Hand. "Mein Name ist Alena."
"Carl Steinmann", stellte er sich vor, während er ihre Hand schüttelte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie alt war. Die Haut ihrer Handfläche fühlte sich glatt an, dennoch war sie von tiefen Falten durchzogen. Es fiel ihm schwer, ihr Alter zu schätzen.
"Wie das Klavier?", fragte Alena.
Carl grinste. Er hatte diesen Namensvergleich bereits oft gehört. Allerdings nicht sehr oft. Meist waren es alte, gebildete oder künstlerisch engagierte Menschen, die in seinem Namen auch den des berühmten Klavierherstellers sahen.
"Ja, genau wie das Klavier", antwortete er.
"Also, was kann ich für dich tun, Carl?" Noch bevor sie die Frage zu Ende gesprochen hatte, zuckte sie zusammen. "Entschuldigen sie", unterbrach sie sich selbst. "Ich bin es so gewohnt, meine Schüler zu duzen, dass ich fast vergessen habe, wie es ist, jemanden in der dritten Person anzusprechen."
Carl zuckte mit den Schultern. "Kein Problem", beschwichtigte er sie. "Letztendlich ist es ja genau das, was ich mir wünsche."
"Das ich sie duze?", fragte Alena.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. "Nein, ich meine, ja. Also ... eigentlich bin ich gekommen, um ihr Schüler zu werden."
"Oh." Sein Lächeln wirkte ansteckend und pflanzte sich auf Alenas Gesicht fort. "Das freut mich."
Dann nahm sie wieder einen sorgvollen Ausdruck an und musterte ihn von unten nach oben. "Sind sie sicher, dass es ihnen wieder gut geht?"
Es kostete Carl einige Anstrengung, um Alena davon abzuhalten, ihn zu einem Arzt zu schicken. Schließlich aber gab sie nach, wobei sie ein Seufzen nicht unterdrücken konnte.
"Was möchten sie von mir lernen?", fragte sie und schenkte ihm erneut ein Glas Wasser ein. "Standard oder Latein?"
"Ich denke Standard", antwortete Carl und hoffte, dass "Standard" auch das war, was seine Frau tanzte. Es war ihm unangenehm zuzugeben, dass er vom Tanzen absolut keine Ahnung hatte.
"Okay. Fangen wir gleich an", sagte sie. Ihre Hand griff die seine und verdrehte seinen Arm auf eine Art und Weise, die ihm klar machte, dass professionelles Tanzen weitaus mehr war als nur Spaß.
Plötzlich war das üble Gefühl in seinem Magen wieder da. Nicht so stark wie vorher, aber dennoch existent. Dieses Mal schob er es tatsächlich auf die Aufregung, denn er hatte nicht erwartet, dass er bereits heute seinen ersten Unterricht bekommen würde. Zu dem Ziehen in seinem Magen paarten sich nun Schweißperlen auf seine Stirn.
"Ich glaube ich würde lieber erst erfahren, was mich das Ganze kostet", sagte er mit zitternder Stimme.
Alena ließ ihren Arm, und damit auch seinen, sinken und schaute ihm mit einem Lächeln direkt in die Augen.
"Aufgeregt?", fragte sie, als könnte sie seine Gefühle erraten.
"Nein, es ist nur ... ich ..."
"Also gut. Kommen sie" Ohne auf Carl zu warten, verließ sie wieder die Tanzfläche, ging zur Bar und schenkte sich einen Whiskey ein. Carl folgte ihr zögernd und stand wie ein gescholtenes Kind vor der Bar.
"Möchten sie auch einen?", fragte sie und hob das Glas hoch.
"Ich ... Nein, ich würde, glaub ich, einfach nur gerne erfahren, was mich eine Stunde bei ihnen kostet."
Alena nickte. "Ich verstehe. Der Zeitdruck. Ich habe es nie verstanden." Sie senkte ihre Augen, so als ob sie versuchte, alte Erinnerungen wieder aufleben zu lassen. "Sie haben keine Zeit? Schauen sie mich an. Was soll ich sagen? Ich bin älter als sie. Viel älter. Und ich weiß nicht, wie lange ich noch anderen Menschen helfen kann, bevor meine Knochen nicht mehr mitmachen. Sie können nicht von heute auf morgen tanzen lernen. Das braucht Zeit. Das ist etwas, das sie noch haben, meine dagegen ist ziemlich begrenzt."
Es brauchte einige Sekunden, bis sich die Worte in seinem Kopf setzen konnte. Er überlegte krampfhaft, ob er ihr widersprechen sollte, ihr sagen sollte, dass sie sicherlich noch viel Zeit hatte, anderen Menschen das Tanzen beizubringen, ganz gleich, wie viel älter sie sein mochte. Flüchtig glitt sein Blick über ihr Gesicht und es kam ihm vor, als würde er auf einer uralten Schotterstraße Fahrrad fahren. Seine Augen blieben auf Dutzenden von Falten hängen und überzeugten ihn, keine Diskussion über ihr Alter zu beginnen. Er wollte gerade den Mund aufmachen, um die Stille zu brechen, da fuhr Alena fort.
"Ich nehme zehn Euro die Stunde. Wann wollen sie anfangen?"
Ihre Stimme klang kühl und beleidigt. Carl fühlte sich verantwortlich, wusste aber nicht, was er erwidern sollte, um ihre Stimmung wieder aufzubessern.
"Das ist nicht viel", sagte er und kam sich im gleichen Moment ziemlich dämlich vor.
Alena zog die Mundwinkel nach oben und zauberte ein sehr feines Lächeln auf ihre Lippen. Sie sah ihn eine zeit lang einfach nur stumm lächelnd an. "Glauben sie, dass das, was ich den Menschen vermittle, bezahlbar ist? Ich bin sicher, mein wahrer Preis wäre ihnen viel zu hoch, um ihn auch nur ansatzweise zu begleichen."
Carl war sich nicht bewusst, wie schnell die Zeit verging. Fast zwei Monate lang hatte er jeden zweiten Abend Alena in ihrem Studio besucht. An jedem Abend hatte er ein klein wenig mehr gelernt. Am Anfang erschien im jeder Schritt wie ein riesiger Meilenstein, aber mit der Zeit lies das euphorische Gefühl nach und er bemerkte nur noch geringe Fortschritte. Einen Tag vor Heilig Abend hatte er das Gefühl, auf der Stelle zu treten und einfach nicht mehr weiter zu kommen. Alena versuchte ihm verzweifelt beizubringen, seine Körperneigung im langsamen Walzer zu verbessern. Nach drei völlig vergeblichen Anläufen gab sie es auf.
"Setzen wir uns, Carl", sagte sie und ging ohne seine Reaktion abzuwarten in Richtung Bar. Carl folgte ihr zögernd.
"Aber ... Die Stunde ist noch nicht um."
Alena ignorierte seinen Einwand, stellte sich hinter den Tresen und mischte ihnen beiden einen Gin Tonic. Etwas, was sie sonst nie tat. Hin und wieder hatten sie sich nach dem Training an der Bar niedergelassen, etwas getrunken und über Gott und die Welt geplaudert, aber noch nie hatte Alena ihm einen alkoholischen Drink serviert.
"Setz dich", sagte sie erneut, als er an der Bar angekommen war und mit verdutztem Gesicht das Glas entgegen nahm, das sie ihm hin hielt. "Wir müssen reden."
Carl hatte das dumpfe Gefühl, dass sie ihm sagen wollte, dass sie die Trainerstunden nicht weiter führen würde ... dass er nicht gut genug wäre. Umso verwunderter war er, als sie das Gespräch mit einer Frage begann.
"Warum tanzt du?", fragte sie ohne Umschweife.
Wieder stutzte er. Bislang hatte er nicht darüber nachgedacht, warum er den Unterricht bei Alena begonnen hatte. Zum ersten Mal seit zwei Monaten versuchte er, in sich zu gehen und den Grund für sein Handeln zu finden.
"Ich ... ich glaube, einfach, um fit zu sein. Tanzen ist sportlich und gleichzeitig ästhetisch. Das fasziniert mich."
"Aber sie haben keine fester Partnerin", entgegnete Alena.
Das dumpfe Gefühl schlich sich wieder in seinen Magen. Es kehrte regelmäßig wieder, seit dem er das Tanzen begonnen hatte. Mal blieb es bei einem dumpfen Gefühl, mal wurde es zu einem Brennen und einige wenige Male mutierte das Brennen zu einem solch ausgewachsenen Schmerz, dass er sich entschuldigte, auf die Toilette rannte und sich über dem Klobecken krümmte. Zwei Mal hatte er dabei blutig erbrochen, sich danach aber merkwürdigerweise wieder derart fit gefühlt, dass er ohne Probleme das Training fortgeführt hatte. Diese Mal schien es bei dem dumpfen Gefühl zu bleiben. Er war sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen oder es bedauern sollte. Alena hatte etwas auf dem Herzen und er fragte sich, ob es etwas Positives oder Negatives war.
"Sie brauchen eine Partnerin, wenn sie weiterkommen möchten", fuhr Alena fort. Mit einem Nicken deutete sie auf den goldenen Ring an seiner rechten Hand.
"Sie sind verheiratet", stellte sie fest.
Carl nickte stumm.
"Vielleicht sollten sie ihre Frau fragen, ob sie mit ihnen tanzen möchte?!"
Ihr Satz war wie der entscheidende Hinweis in einem komplizierten Rätsel. Mit einem Schlag wusste er, warum er das Tanzen begonnen hatte. Es war nicht die sportliche Betätigung, die er vermisst hatte. Es war auch nicht die Ästhetik des Tanzens, sondern er hatte einzig und allein damit begonnen, weil er mit seiner Frau Sarah tanzen wollte. All die Jahre hatte sie das Parkett immer ohne ihn betreten. Immer war ein anderer Mann an ihrer Seite, obwohl er es sein sollte, der sie dem Publikum präsentierte. Er war ihr Mann. Er war es, der sie zum Tanz auffordern sollte, nicht irgendein schwuler Egozentriker, der nur tanzte, damit er für wenige Minuten am Abend im Mittelpunkt stehen konnte.
Das dumpfe Gefühl in seinem Magen wurde zu einem Brennen, als er Alena antwortete. "Sie tanzt", erklärte er kurz und bündig. "Turniertanz. Schon lange. Und ich glaube, ich war nicht ehrlich zu dir. Ich habe das Training angefangen, weil ich die Hoffnung hatte, dass ich irgendwann auch einmal mit meiner Frau tanzen könnte."
"Warum tust du es dann nicht einfach?"
Carl legte unauffällig die Hand auf seinen Bauch und drückte dagegen. Das Brennen wurde dadurch nicht besser. Im Gegenteil. Plötzlich hatte er das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Er nahm einen Schluck aus dem Glas und spürte, wie die prickelnde Flüssigkeit seine Speiseröhre hinunter glitt und der Alkohol seinen Magen weiter reizte.
"Sie ... sie ist zu gut. Sie tanzt Turniere – schon seit Jahren."
Alena schüttelte den Kopf.
"Carl. Sag es ihr einfach. Es kommt nicht darauf an, ob du gut oder schlecht bist. Es kommt darauf auf, ob du sie mit Stolz und Liebe auf das Parkett führst. Der Rest ergibt sich von ganz alleine."
"Ich ... ich kann nicht", stöhnte er und presste seine Knie gegeneinander, während er sie gleichzeitig in Richtung seines Unterleibes zog. Auch das verbesserte das grausame Brennen nicht, das dem Schnitt eines Messers gleich kam. "Ich würde lieber noch, ein paar Stunden nehmen. Nur zur Sicherheit. Ich ... ich will mich nicht blamieren vor ihr."
"Carl!", fuhr ihn Alena an. "Das ist Unsinn! Und du weisst das. Fordere sie zum Tanzen auf und tue es bald!" Ihr Blick wurde glasig, so als ob sie sich an irgendetwas zu erinnern versuchte. "Du hast nicht alle Zeit der Welt, das weißt du, oder?"
Er konnte nicht mehr. Um aufzustehen und auf die Toilette zu rennen, war es zu spät. Das schneidende Gefühl in seinen Bauch zog sich in den Rücken, in den Unterleib und von dort aus in seine Hoden und bevor er fähig war, aufzuspringen, übergab er sich mit tränenden Augen auf das glänzende Parkett.
Die Bescherung an Heilig Abend glich denen der letzten Jahre. Im Gegensatz zu den Weihnachtsfesten, die er als Kind erlebt hatte, fehlte heute die Überraschung. Er hatte mehr als nur geahnt, dass Sarah ihm die beiden Golfschläger schenken würde, die ihm noch für ein komplettes Set gefehlt hatten und sie hatte zu lange mit bettelndem Blick vor der James Bond Filmsammlung im Kaufhaus gestanden um nicht an seinem Gesichtsausdruck zu erkennen, dass er daraus ein Weihnachtsgeschenk machen würde. Und doch war dieses Jahr etwas anders. Einen Trumpf hatte er noch im Ärmel. Sarah hielt diesen Trumpf in Form eines Umschlages in der Hand und öffnete ihn mit vor Aufregung zitternden Händen.
"Ein Gutschein?", fragte sie.
"Ja, aber du errätst niemals wofür."
Sarah faltete den Zettel, den sie aus dem Umschlag gezogen hatte, auseinander und las die mit zahlreichen Schnörkeln versehenen Buchstaben mit einem freudigen Lächeln.
Eine ungewohnte Spannung machte sich in Carl breit. Es dauerte fast eine volle Minute, bis seine Frau auf sah. Zunächst war er sich nicht sicher, ob sie sich über den langsamen Walzer, den er ihr zu Weihnachten schenkte, freute. Erst als sie ihm mit einem Lachen um den Hals fiel, wusste er, dass er es zum ersten Mal in all den Jahren geschafft hatte, ihr ein besonderes Weihnachtsgeschenk zu machen.
"Carl, das ist super!", jauchzte sie. Dann löste sie die Umarmung und sah ihm tief in die Augen. Ihre Nasenflügel flatterten ein wenig. "Wo hast du tanzen gelernt?", fragte sie ihn.
Carl zuckte mit den Schultern. "Es gibt ein neues Tanzstudio, unten in der Siegriedstraße. Ich bin da einfach rein marschiert und habe tanzen gelernt", grinste er. Dann fügte er hinzu: "Nur für dich."
Ein Runzeln legte sich auf Sarahs Stirn. "Da gibt es ein Tanzstudio?"
Carl nickte. "Ich zeig's dir. Heute nacht um Zwölf bekommst du deinen Mitternachttanz mit mir."
Fünf Stunden später saß Carl mit seiner Frau in der Straßenbahn und fuhr mit ihr in Richtung Industrieviertel.
"Warum fahren wir nicht mit dem Auto?", fragte Sarah.
Carl musste einen Augenblick überlegen, bevor er selbst eine Antwort auf diese Frage wusste. "Vermutlich aus sentimentalen Gründen", erklärte er seiner Frau. "Ich habe das Studio zum ersten mal aus dieser Bahn heraus gesehen. Und auch als ich den Unterricht begonnen habe, bin ich aus dieser Bahn ausgestiegen. Also ..." So richtig überzeugen konnte ihn seine Argumentation nicht einmal selbst. "Na, egal. Wir sind gleich da", sagte er, stand auf und betätigte den Halteknopf an einer der silberfarbenen Stangen.
Sarah folgt ihm, zog aber nachdenklich die Augenbrauen zusammen. "Carl ...", begann sie. "Das hier ist ein Industrieviertel. Hier gibt es kein Tanzstudio ..."
Mit einem Ruckeln kam die Straßenbahn zum Stehen. Die Falttür öffnete sich mit einem schleifenden Geräusch und ohne auf Sarahs Worte zu achten trat Carl in die kühle Nacht hinaus. Er blickte auf seine Uhr. Es war viertel vor zwölf. Sie würden es also noch locker bis um Mitternacht schaffen. Sarah trat von hinten an ihn heran und hakte sich bei ihm unter. Ihr Blick schweifte über die verlassenen Lagerhallen, die sie umgaben.
"Carl?"
Er schaute sie fragend an, zog sie aber dennoch in Richtung des großen Gebäudes, dessen Glasfront des ersten Stockes vom dämmrigen Licht des Tanzsaals erleuchtet wurde.
... erleuchte worden war. Abrupt blieb er stehen.
"Carl?", fragte Sarah erneut. "Wo gehen wir hin? Hier ist nichts!"
Ihren Einwand völlig ignorierend, ging Carl noch ein paar Schritte weiter, so als würde der Maschendrahtzaun, der das ganze Grundstück, auf dem sich das Tanzstudio befand, beziehungsweise auf dem es sich befunden hatte, nicht existieren. Ungläubig krallte er seine Hände in die kalten Metallstreben der Absperrung und blickte ungläubig auf das alte Gebäude, das nicht nur im Dunkeln lag, sondern dessen Wände teilweise eingestürzt waren. Es war eine Ruine. Nichts erinnerte an das Tanzstudio, in dem er sich so oft mit Alena getroffen hatte.
"Carl. Lass uns zurückfahren! Bitte! Ich fühle mich hier ... unwohl", flehte Sarah ihn an.
Erneut ignorierte Carl seine Frau und begann an dem Maschendrahtzaun zu rütteln. Am unteren Ende, lag dieser mit nur geringer Spannung auf dem Boden auf. Carl zog kräftig daran und schaffte es, den Draht so weit nach oben zu biegen, dass ein Erwachsener in gebückter Haltung durchschlüpfen konnte. Als er auf der anderen Seite des Zauns stand, hielt er Sarah zur Aufforderung die Hand hin.
"Komm. Ich habe dir einen Mitternachtstanz versprochen, und einen Mitternachtstanz sollst du bekommen."
Sarah zögerte.
"Carl, hier ist kein Studio!"
"Spielt das eine Rolle?", fragte er und hielt ihr erneut die Hand hin, während er mit der anderen den Drahtzaun noch ein wenig höher zog, so dass Sarah sich nicht so tief bücken musste. Zögernd folgte sie ihm.
Er blickte sich kurz auf dem Gelände um. Nichts erinnerte mehr an den Tanzsaal und seine pompöse Aufmachung. Carl war fast versucht, die Augen zu schließen und sich ausschließlich durch seine Gefühle leiten zu lassen.
Er setzte sich in Bewegung, griff vorher nach Sarahs Hand und zerrte sie förmlich hinter sich her. Sie betraten das offensichtlich einsturzgefährdete Gebäude durch die herausgerissene Vordertür. Carls Schritte wurden hektischer, während er die Treppe hoch stolperte.
"Wir sind gleich da", versuchte er Sarahs Zweifel zu zerstreuen.
Und dann standen sie in dem Ballsaal. Es war alles andere als ein Saal. Eine graue Fläche bildete den Boden und die Wände unterschieden sich von diesem nur in der Schattierung des Grautons. Carl konnte sich nicht erklären, was hier passiert war, aber er wusste, dass er an diesem Ort das Tanzen erlernt hatte. Über Monate hinweg hatte er jeden Abend diesen Saal betreten und mit Alena trainiert. Der Saal mochte nicht mehr existieren, dennoch konnte er seine durch die Zeit getragene Präsenz förmlich spüren.
Ein Lächeln legte sich auf seine Gesicht, als er den Saal wie durch eine rosarote Brille betrachtete. Plötzlich waren da wieder Farben. Parkett, der rote Teppich und die kleine Bar, an der er mit Alena mehr als nur einmal gesessen und noch einen alkoholfreien Drink zu sich genommen hatte.
"Und?", fragte er Sarah. "Wie findest du es?"
"Carl ...?". Sarahs Stimme schwankte zwischen Angst und grenzenlosem Mitleid. "Carl ... du ... du hast nie wirklich Tanzen gelernt, oder?"
Wenn er es nicht besser gewusst hätte, so hätte er die Frage seiner Frau als Beleidigung aufgenommen. Stattdessen lächelte er sie an. "Das ist mein Geschenk an dich", sagte er nur.
Dann setzte die Musik ein. Er wusste, dass die Musik lediglich in seinem Kopf existierte. In seiner Erinnerung, aber für ihn war sie real. Er ging zwei Schritte zurück, streckte seinen Oberkörper und baute sich vor ihr wie ein Turniertänzer auf. Währenddessen lauschte er der Musik in seinem Kopf. Dann hob er die Hand und forderte seine Dame zum Tanz auf.
Zögernd ergriff Sarah mit ihrer rechten Hand die seine und legte ihre Linke auf seiner Schulter ab. Für einen winzig kleinen Moment loderte in Carl die Unsicherheit wie eine kleine Flamme auf, wurde aber sofort wieder erstickt, als die Musik in seinem Kopf lauter und deutlicher wurde und er sich an all das erinnerte, was ihm Alena beigebracht hatte.
Er gab sich dem Gefühl hin, genoss die Musik und machte sich keine Gedanken mehr darüber, was er als nächste Figur tanzen würde, sondern tat es einfach instinktiv. Er führte und Sarah ließ sich führen. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, noch nie im Leben etwas Anderes getan zu haben. Es war das erste Mal, dass es keiner Worte zwischen ihnen bedurfte, um zu kommunizieren.
Und dann war es wieder da – das stechende Gefühl in seinem Magen. Die ersten Vorboten trafen ihn wie eine dunkle Vorahnung. Nach wenigen Schritten steigerte sich der Schmerz von einer Ahnung ins Unangenehme und kurze Zeit später ins Unerträgliche.
Carl versuchte, sich zu entspannen und den Tanz zu genießen. Stattdessen bemerkte er, wie seine Hand sich verkrampfte und Sarahs Finger weißlich schimmerten, während er ihnen durch seinen Druck die Blutzufuhr abschnitt.
"Was ist los?", fragte sie ihn. Ihre Stimme schob die Musik in seinem Kopf in den Hintergrund. Das Einzige, was übrig blieb war der Schmerz, der von Sekunden zu Sekunde bohrender wurde. Mit einem Ruck blieb er stehen. Seine imposante Tanzhaltung brach zusammen und er krümmte seinen Oberkörper nach vorne, während er seine Hände druckvoll auf den Bauch presste.
"Carl?"
"Es ... Es geht gleich wieder", brachte er stöhnend hervor. Seine Beine fühlten sich an, als wären sie aus Gummi. Mit einem schmerzgeplagten Stöhnen ließ er sich in die Hocke sinken. "Ich habe das in letzter Zeit immer öfter", gestand er. Sarah sah mit einem teils erschrockenem teils mitleidigem Blick auf ihn hinab.
"Hat ... Hat dir der Tanz gefallen?", fragte Carl. Sarah schüttelte leicht den Kopf – nicht als Antwort auf seine Frage. Vielmehr war es ein ungläubiges Kopfschütteln, als fragte sie sich, wie ihr Mann, der sich vor Schmerz krümmte, auf die Idee kam, das Thema so abrupt zu wechseln.
"Natürlich", antwortete sie.
"Das ist das Wichtigste", presste Carl hervor und zuckte dann vor Schmerz heftig zusammen. Wenn sein Schmerzverlauf eine Achterbahnfahrt war, dann hatte er jetzt erst die Spitze der Auffahrt erreicht. Vor ihm lag die Abfahrt, die senkrecht nach unten führte. Sein Wagen bewegte sich über den höchsten Punkt und dann begann er zu fallen. Der Schmerz wurde nun unerträglich. Carl biss die Zähne aufeinander, stöhnte. Ohne auf den verdreckten Betonboden zu achten, ließ er sich auf die Seite fallen und zog die Beine fast bis zur Brust heran. Die Illusion der Musik und des Ballsaals, die ihn noch vor wenigen Augenblicken umklammert hatte, löste sich in Luft auf und wurde durch eine Hölle ersetzt, die wie glühendes Lava durch seinen Bauch strömte.
"Carl", stieß Sarah voller Panik hervor. "Was ist mit dir? Ich ..." Sie kramte in ihrer Handtasche, die sie am Rande des Betonfläche abgestellt hatte und zog ihr Handy hervor.
"Ich ruf einen Arzt."
Carl blickte zu ihr auf und versuchte sich wenigstens für den Bruchteil einer Sekunde zusammen zu reißen. "Nein", flehte er sie an. "Warte. Sie haben es schon bemerkt. Sie kommen."
Fragend starrte Sarah ihn an. Als das Telefon in ihren Händen anfing zu klingeln und zu vibrieren, hätte sie es fast auf den harten Boden fallen lassen. Sie brauchte einen Augenblick, um ihren Blick von Carl zu lösen.
Wie in Trance hob sie das Handy hoch und starrte ungläubig auf die Nummer des Anrufers, die im Display mit bläulichen Ziffern angezeigt wurde: 112 – die Notrufnummer!
Das Klingeln bohrte sich wie eine Fräsmaschine in ihren Verstand und verursachte einen leichten, aber dennoch störenden Druck hinter Sarahs Stirn. Verstört suchte sie nach ihrem Handy. Sie erinnerte sich, es gerade eben noch in der Hand gehalten und auf die Notrufnummer gestarrt zu haben. Nun war es dunkel. Und mollig warm.
Sarah brauchte einige Sekunden, bis sie registrierte, dass sie auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer lag. Sie musste eingeschlafen sein, während sie auf Carl gewartet hatte. Langsam setzte sie sich auf und drehte ihren Kopf. Mit Ausnahme der Lichterkette, die sie zusammen am Weihnachtsbaum angebracht haben, war es völlig dunkel. Carl war offenbar immer noch nicht zu Hause.
Als es erneut klingelte, zuckte sie zusammen. Automatisch griff sie neben sich, spürte den kalten Marmor des Wohnzimmertisches und suchte, ohne etwas zu sehen, nach ihrem Handy. Nach dem sie es gefunden hatte, stutzte sie. Es klingelte nicht. Keine Notrufnummer, die auf dem Display aufleuchtete, sondern lediglich die Uhrzeit. Es war sechs Uhr abends.
Es musste noch zwei mal Klingeln, bevor sie in ihrer Schlaftrunkenheit bemerkte, dass jemand vor der Tür stand. Sarah sprang schwankend auf. Carl wollte spätestens um fünf Uhr zurück sein. Nun war es sechs. Normalerweise dachte sie optimistisch und wäre davon ausgegangen, dass ihr Mann sich verspätet hatte, seinen Schlüssel vergessen oder verloren hatte und nun Sturm klingelte. Aber irgendetwas sagte ihr auf dem Weg zur Tür, dass dem nicht so war. Ihre düstere Vorahnung bestätigte sich, als sie schwungvoll die Tür öffnete und in das Gesicht zweier junger Männer blickte. Sie trugen Uniformen. Polizeiuniformen.
"Frau Steinmann?", fragte sie der kleinere der beiden Beamten und hielt ihr seinen Ausweis so dicht vor die Nase, dass sie nicht einen Buchstaben darauf entziffern konnte. "Sarah Steinmann?"
Sarah nickte stumm. Sie hatte es bereits geahnt, als sie durch den dunklen Flur gestapft war. Ihr Mann war tot.
"Carl Steinmann ist ihr Ehemann?", hakte der Polizist nach. Wieder nickte sie. Dann versuchte sie zu sprechen. Ihr Hals fühlte sich wie ein Reibeisen an, so dass sie sich räuspern musste, bevor sie überhaupt ein Wort heraus brachte.
"Ist ... Ist er tot?"
"Nein, keine Angst", kam der andere Mann seinem Kollegen zur Hilfe. "Aber er hatte einen schweren Verkehrsunfall."
"Ich will ihn sehen", brach es aus Sarah heraus.
"Deswegen sind wir hier. Wenn sie sich anziehen, dann fahren wir sie ins Krankenhaus und ..."
Der Beamte brach mitten im Satz ab und schluckte.
"... er liegt auf der Intensivstation", fügte er schließlich hinzu und Sarah konnte sehen, wie schwer es ihm fiel, das Wort auszusprechen.
Die beiden Polizisten hatten Sarah mit ihrem Dienstwagen ins Krankenhaus gefahren und dafür Sorge getragen, dass sie, obwohl die Besuchszeit bereits seit mehr als einer Stunde vorbei war, in das Zimmer gelassen wurde, in dem Carl alleine, von zahlreichen, technischen Apparaten umgeben, in einem Bett lag und schlief. Aus seinem Mund ragte ein durchsichtiger Plastikschlauch, der mit Pflasterstreifen an dem Mundwinkel befestigt war und pumpte unentwegt Luft in seine Lungen. An seinem Oberkörper klebten zahlreiche Elektroden, die zu einem Monitor führten, der oberhalb des Bettes befestigt war und seine Herztätigkeit aufzeichnete. Sarah ließ ihren Blick über die kompliziert aussehenden Geräte gleiten, bevor sie sich wieder dem Gesicht ihres Mannes zu wandte. Er lag so friedlich im Bett, dass es aussah als schliefe er.
"Er bekommt Medikamente, die ihn am Schlafen halten", sagte eine Stimme hinter ihr. Sarah wirbelte herum und sah in das Gesicht einer Krankenschwester, die urplötzlich im Türrahmen aufgetaucht war und dort stehen blieb, als wartete sie darauf, von Sarah die Erlaubnis zum Eintreten zu bekommen. Doch dann betrat sie doch das Zimmer und kam humpelnd auf Sarah zu.
"Es tut mir leid, für ihren Mann", sagte sie und Sarah hatte das Gefühl, dass es nicht nur mechanische Worte waren, sondern dass die Schwester diese Worte durchaus ernst meinte.
"Wird ...", Sarahs Stimmt stockte. Ihr Hals erschien ihr so trocken wie ein Stück Kaminholz. "Wird er es überleben?", setze sie ihren Satz fort, nachdem sie sich geräuspert hatte. Die Schwester kam noch einen Schritt auf sie zu und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter, während sie auf den schlafenden Körper des Patienten schaute. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. Die Bewegung war als solches kaum wahrzunehmen, da Sarah aber ohnehin damit gerechnet hatte, registrierte sie diese mit einem niedergeschlagenen Blick.
"Seine Verletzungen", erklärte die Schwester, "sind einfach zu groß. Er hat zahlreiche, innere Blutungen. Die Ärzte haben ihn operiert, aber das was in seinem Bauch übrig ist, ist mit dem Leben einfach nicht mehr vereinbar."
Tränen stiegen in Sarahs Augen auf. Die Schwester sah sie noch einen kurzen Augenblick ernst aber mitleidsvoll an und löste dann die Hand von Sarahs Schulter.
"Ich lasse sie jetzt alleine", sagte sie. "Wenn sie etwas brauchen, dann kommen sie ins Schwesternzimmer. Mein Name ist Schwester Alena." Mit diesen Worten drehte sie sich um und verlies das Zimmer. Sarah war wieder alleine mit Carl, zog einen Hocker, der am Fußende des Bettes stand, heran und setzte sich.
Sie versuchte sich vorzustellen, was gerade hinter seiner Stirn passierte.
... was in seinem Bauch übrig ist, ist mit dem Leben einfach nicht mehr vereinbar ...
Auf einmal schossen ihr Alenas Worte wieder durch den Kopf, gefolgt von den Bildern des Traumes, den sie unmittelbar vor dem Eintreffen der Hiobsbotschaft hatte. Sie erinnerte sich, dass er sich in ihrem Traum vor Schmerzen gekrümmt und seine Hand auf den Bauch gepresst hatte. Zweifel stiegen in ihr auf. War das wirklich ein Traum gewesen?
"... oder hast du wirklich das Tanzen für mich gelernt?", flüsterte sie.
Sarah ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Es wirkte sauber, mehr noch, fast völlig steril. Eben das, was man von dem Zimmer einer Intensivstation erwarten würde. Die persönlichen Dinge ihres Mannes, die in der Fensterbank lagen, störten auf eine merkwürdige Weise die Sterilität des Zimmers. Mit einem leeren Ausdruck im Gesicht stand Sarah auf, ging zu Carls Kleidung und begann die Taschen zu durchsuchen. Nachdem sie fast jedes Kleidungsstück sorgfältig betastet hatte, fand sie in der Jacke seines Jackets endlich das, was sie gesucht hatte. Es war ein unscheinbar aussehender Umschlag in einem knalligem Rot, auf dem in großen, verschnörkelten Buchstaben "Für Sarah" stand. Sie zögerte einen kleinen Augenblick und kam sich vor, als würde sie heimlich seine Post durchwühlen, doch dann rief sie sich wieder ins Bewusstsein, dass der Umschlag an sie adressiert war.
Sie kannte den Inhalt bereits, bevor sie das Kuvert aufgerissen und seinen Inhalt betrachtete hatte. Die Tränen der Trauer wurden durch Tränen der Freude abgelöst, während sie den Gutschein für einen Mitternachtstanz betrachtete.
Sie steckte den Zettel wieder in den Umschlag zurück und verfrachtete den Brief in ihrer Handtasche.
Genau in diesem Moment ging der Alarm los. Nicht ein durchgehender, sanfter Piepton, wie man ihn aus dem Fernsehen kannte, sondern ein schrilles Pfeifen, das eher an die Sirene eines Notarztwagens erinnerte. Laut wie ein Presslufthammer und penetrant, wie ein Fingernagel, der über eine Tafel kratzte. Obwohl Sarah es wie eine Ewigkeit vorkam, brauchte Schwester Alena vermutlich keine zehn Sekunden, bevor sie an dem Monitor stand und den Alarm ausschaltete.
"Es tut mir leid", wiederholte sie und stand mit herab gezogenen Schultern vor dem Monitor.
Sarah betrachtete die flache Linie, die anstelle des EKGs über den Bildschirm flimmerte und nickte still.
Dann zog sie den Umschlag aus der Tasche und hielt ihn in Schwester Alenas Richtung.
"Er hat das Tanzen für mich gelernt ...", sagte Sarah und bei den letzten Worten brach ihre Stimme und ging in ein hemmungsloses Weinen über.
"Ich weiß", erwiderte Schwester Alena. Dann fügte sie mit einem aufmunternden Lächeln hinzu: "Oder warum glauben sie, humpele ich?"
Sarah sah die Schwester ungläubig an.
"Einige Dinge kann man auch noch kurz vor dem Tod erledigen", erklärte Alena. "Ich wusste, dass er stirbt. Und ich habe mit ihm gesprochen – in Gedanken. Ich wusste, dass er ihnen eine letzte Freude machen wollte. Und ich wusste, dass sie sich darüber freuen würden, wenn er einen letzten Tanz mit ihnen tanzt."
Wieder schüttelte Sarah ungläubig den Kopf.
"Wer ... was sind sie?", fragte sie die Schwester.
Alena lächelte sanft. Es sah aus wie das Lächeln eines Engels. Lediglich der Heiligenschein um ihren Kopf herum fehlte.
"Sind sie ... ein Engel?"
Alena antwortete weiterhin nicht, sondern stand nur lächelnd im Raum, so als wartete sie auf irgendetwas, das Sarah nicht begreifen konnte.
"Wenn sie ein Engel sind ... warum ..." Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Sarah schluckte und sprach die Frage mit zittriger Stimmer zu Ende: "... warum kann ich sie dann sehen?"
Das Lächeln auf Alenas Lippen wurde zu einem nachdenklichen Ausdruck. Ihre Augen senkten sich, als versuchte sie eine uralte Erinnerung in ihrem Kopf wieder abzurufen. Dann, nach einer halben Ewigkeit, beantwortete sie die Frage mit einer Gegenfrage: "Erinnern sie sich, wo sie waren, als der Unfall passierte?"
Sarah schüttelte den Kopf.
"Auf dem Sofa?", fragte Alena. "Ja, ich glaube sie sind sicher, dass sie auf dem Sofa lagen, auf ihren Mann gewartet haben und ... diesen Traum hatten." Sie machte eine Pause und wartete. Als Sarah nicht reagierte, sprach sie weiter. "Sie haben es vergessen, nicht wahr? Sie haben vergessen, dass ihr Mann längst nach Hause gekommen war. Sie haben vergessen, dass sie nochmals in den Wagen gestiegen sind, um den Wein zu kaufen, den er vergessen hatte." Wieder schüttelte Sarah ungläubig den Kopf.
"Sarah!", sagte die Schwester mit eindringlicher Stimme. "Sie lagen nicht auf dem Sofa. Als der Unfall passierte, saßen sie neben Carl im Auto!" Sie ging einen Schritt auf Sarah zu und ergriff ihre Hand. Mit eine leichten Zug führte sie Sarah in Richtung Tür. Wo vorher ein hell erleuchteter Flur zu sehen war, gähnte nun ein riesiges, schwarzes Loch. Leere. Stille. Langsam aber dennoch fordernd zog Schwester Alena sie in Richtung Dunkelheit. "Es wird Zeit, Sarah!", sagte sie. "Lassen sie uns gehen!"
Tag der Veröffentlichung: 02.05.2009
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