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Lustlos schlenderte Torgan über den Weihnachtsmarkt und machte der Rasse der Zwerge wieder einmal alle Ehre. Seine Laune, die eigentlich gar nicht so schlecht war, verbarg er hinter einem grimmigen Gesicht und sein langer, feuerroter Bart verstärkten den Eindruck von Griesgrämigkeit noch. Es fiel ihm nicht sonderlich schwer, abweisend und grummelig zu wirken. Der Gedanke an Weihnachten reichte aus. Die Freude, Liebe und Freundlichkeit der Menschen wirkte auf Torgan lediglich gespielt. Wären die Menschen tatsächlich so, dann würden sie sich das ganze Jahr daran halten und nicht nur zum Weihnachtsfest.
Torgan drückte die Schultern nach hinten und warf sich stolz in seine kleine Zwergenbrust, als er sich dem Stand näherte, an dem ein fetter Mann mit strähnig schwarzem Haar Met, Wein und Gerstensaft ausschenkte.
"Torgan, sei mir gegrüßt", strahlte der Gastwirt, als der Zwerg an die provisorisch aufgebaute Theke trat. "Was kann ich dir Gutes tun?"
"Mir ein Met geben und ausnahmsweise mal kein Geld von mir verlangen?", brummelte Torgan in seinen Bart.
Mit einem Kopfschütteln füllte der Wirt das aromatisch riechende Getränk in einen Tonkrug, stellte ihn auf die Theke und starrte den Zwerg mit einem Lächeln auf den Lippen an.
"Knurrig wie immer", stöhnte er. "Nimm es. Du bist ein Zeitgenosse, der es einem nicht leicht macht, aber auch einer meiner besten Kunden. Also, da Weihnachten ist, nimm dein Met und vergiss das Kupferstück, dass du mir schuldest."
Das war wieder typisch Mensch, dachte Torgan. Gespielte Freundlichkeit, um den Anschein zu erwecken, dass man gemocht wird, allerdings nur um Einen später auszunehmen, wie eine Weihnachtsgans.
Nein, er würde sich nichts schenken lassen. Bevor er den Krug nahm, kramte er in seinem Lederbeutel, den er um die Hüfte trug, zog eine glänzende Kupfermünze heraus und warf sie dem Wirt zu.
Dieser machte nicht einmal den Ansatz, die Münze zu fangen, sondern ließ sie unbeachtet auf den Holzboden fallen, auf dem sie weg rollte und wenige Sekunden später in einer Ritze verschwand.
Mit einem Schulterzucken blickte er dem Zwerg nach, der vor sich hin meckernd in der Menge verschwand.

Der Met erfüllte Torgan mit einem wollig warmen Gefühl und der Alkohol legte sich wie ein seichter Nebel über seine Sinne. Plötzlich war ihm nach Streit zumute. Er konnte die friedliche Stimmung nicht länger ertragen. Ein Zwerg brauchte hin und wieder eine handfeste Auseinandersetzung. Nichts Ernstes, sondern einfach nur eine freundschaftliche Schlägerei, bei der sich der Verlierer den einen oder anderen blauen Fleck zuzog.
Seine kleinen Beine trugen ihn zum nächsten Stand. Während er den Krug zum Trinken ansetzte, beäugte er angewidert die angebotenen Waren. Kerzen, Duftlämpchen, Stoffe...
"... oder vielleicht eine wunderschöne Schneekugel für eure Tochter?", fragte ihn der Händler mit einer Stimme, die Torgan an einen Schmiedehammer erinnerte, der auf Metall traf. Er hatte Mühe, zu erkennen, was der Mann in der Hand hielt, die er wild vor seinem Gesicht hin und her wirbelte und wollte gerade anfangen loszuwettern, doch dann schafften seine Augen es, den schellen Bewegungen zu folgen und blieben fasziniert an der Schneekugel kleben.
Torgan hasste Kitsch - und Schneekugeln zählten eindeutig dazu. Was ihn verzauberte, war der Inhalt. In der Mitte der Kugel, auf einer kleinen Anhöhe, standen drei Murmeltiere, die ihre Köpfchen neugierig in die Höhe streckten, als würden sie den Duft einer Leckerei wittern, der sie nur schwer widerstehen konnten.
Mit einem Mal befand sich Torgan in einer anderen Welt. In einer Welt abseits des Trubels, die der Weihnachtsmarkt bot. In einer Welt, die nur aus Schnee, den drei Murmeltiere und ihm selbst bestand. Die pelzigen Tiere hüpften auf ihn zu, wohl wissend, dass er die Taschen voller Nüsse hatte. Ihm wurde warm ums Herz – wärmer als aller Met der Welt es ihm machen könnte.
"... nur zwei Silberlinge."
Schlagartig kehrte er aus der Trance zurück. Er wollte die Schneekugel haben, aber wenn ihn jemand beim Kauf beobachten würde, dann wäre er für mehrere Tage, wenn nicht gar Wochen, das Gespräch des ganzen Dorfes. Jeder würde über den weichherzigen Zwergenkrieger lachen, der es nötig hatte, sich etwas zu kaufen, was sonst nur Frauen, Kindern und verweichlichten Halbmännern Freude bereitete.
Während er in seinem Beutel nach zwei Silberstücken fischte, drehte er sich einmal um die eigene Achse, um sicher zu gehen, dass ihn kein Bekannter sah.
Hastig reichte er dem Händler das Geld und wurde unwirsch, als dieser die Kugel in Papier einwickeln wollte. "Gebt es schon her", knurrte er, "oder glaubt ihr, ich habe den ganzen Tag Zeit?"
Hastig nahm er die Schneekugel entgegen und stopfte sie in seine Jackentasche. Gerade rechtzeitig, denn genau im gleichen Augenblick traf sein Blick den von Tadaros, der mit seiner Frau Bolera auf ihn zu spaziert kam.
"Ein Wort über unseren Handel und ich prügel dich, bis du die Sterne siehst", zischte er dem Händler zu, drehte sich auf dem Absatz um und ging mit einem unsicheren Grinsen auf seine Freunde zu.
Tadaros breitete die Arme wie ein Vogel aus und kam mit einer beängstigenden Geschwindigkeit auf Torgan zugelaufen.
"Torgan", rief er erfreut, riss den Zwerg an sich und klopfte ihm freundschaftlich, aber dennoch fest auf den Rücken. "Niemals hätte ich geglaubt, einen Griesgram wie dich auf dem Weihnachtsmarkt zu treffen ..."
Während Tadaros Torgan kräftig durchschüttelte, passierte es. Die Schneekugel fiel aus seiner Tasche, landete auf dem Kopfsteinpflaster des Marktplatzes und zersprang in tausend Scherben. Das Wasser und die Schneeflocken aus gepressten Baumwollkügelchen breiteten sich auf dem Boden aus. Torgan starrte entsetzt auf die drei Murmeltiere, die nun überhaupt nicht mehr neugierig aussahen, sondern eher wie tote Kadaver auf der Seite lagen und von einer reißenden Pfütze ertränkt wurden.
"Oh, verdammt", sagte Tadaros und auch Bolera, die mittlerweile die beiden erreicht hatte, schaute voller Bedauern auf die zerbrochene Kugel.
"Ach, sowieso nur Kitsch", versuchte Torgan abzulenken. Während er die Tierfiguren anstarrte, hatte er allerdings arge Probleme, seine Tränen der Wut und Enttäuschung zurück zu halten.
Bolera legte ihre Hand auf Torgans Schulter. "Nein Torgan, das war einfach nur ungeschickt von Tadaros. Komm wir kaufen dir eine neue Kugel."
Wieder kämpfte Torgan gegen die aufsteigenden Tränen an. "Es gab nur die eine", antwortete er und fügte dann in einem brummigen Ton hinzu: "Wie gesagt, ist sowieso nur Kitsch. Hab das Ding für eine Nichte gekauft. Die ist von solch einem Quatsch entzückt."
Garstig riss er sich von seinen Freunden los, drehte ihnen den Rücken zu und ging wetternd weg. "Sowieso alles Kitsch", hörten Bolera und Tadaros ihn fluchen und schaute sich gegenseitig fragend an. "Braucht kein Mensch, so ein Schwachsinn".

In der Nacht konnte Torgan kein Auge schließen. Es hatte ihn sichtlich Überwindung gekostet, die Kugel zu kaufen. Es war sein persönliches Weihnachtsgeschenk. Seit er vor fast siebzig Jahren aus dem Clan seiner Familie augezogen war und sich unter die Menschen gemischt hatte, bekam er keine Geschenke mehr zu Weihnachten und so hatte er es sich zur Regel gemacht, sich selbst eine kleine Freude zu machen.
Unruhig wälzte er sich in seinem kleinen Bett hin und her. Nach zwei Stunden gab er den Versuch einschlafen zu wollen auf, sprang hoch und setzte einen Topf mit Met auf dem Herd auf.
Als dieser kochte, goss er sich einen großen Krug ein, nahm auf seinem Sessel Platz, zündete sich ein Pfeifchen an, dessen aromatischer Rauch die kleine Hütte innerhalb weniger Minuten einer Opiumhöhle gleichen ließ und begann zu schnitzen.
Er bearbeitet das Stück Kaminholz mit viel Hingabe, ohne zu wissen, was er schnitzte. Die halbe Nacht formte, feilte und kerbte er und vergaß dabei völlig die Zeit. Erst als die Sonne aufging und die ersten Lichtstrahlen durch das Fenster einfielen, wachte er aus seiner Trance auf und bestaunte sein Kunstwerk. Aus dem Stück Holz war ein Zwerg geworden, der auf dem Boden kniete und Krümel auf denselben streute. Umringt wurde er von kleinen Nagetieren, die zutraulich zu ihm aufschauten und sich über die unerwartete Fütterung freuten.
Er stellte die Skulptur auf den Tisch, gähnte genüsslich und machte sich auf den Weg nach draußen, um Brot und Fleisch für das Fest zu kaufen. Es war heilig Abend und er war beruhigt. Die Schneekugel war zwar kaputt, aber ein selbstgemachtes Geschenk war ohnehin mehr Wert als ein gekauftes.
Er warf seine Jacke über die Schultern, zog seine Stiefel an, öffnete die Tür und blieb steif wie ein Stock stehen. Mitten auf dem Weg stand ein Paket. Vorsichtig blickte er sich um. Wollte ihm jemand einen Streich spielen? Irgendwelche naseweisen Kinder, die nichts besseres zu tun hatten, als den Zorn eines Zwerges zu wecken und sich ein paar gesalzene Ohrfeigen einzukassieren?
Weiterhin die Umgebung beobachtend nahm er das Päckchen und verschwand schnell wie ein Wiesel wieder in seiner Hütte. Obwohl er dem Ganzen misstraute, riss er voller Neugier den Karton auf. Er griff hinein und zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus, das mit schwarzer Tinte beschrieben war.

Frohe Weihnachten wünschen Dir
Tadaros und Bolera

Mehr nicht. Erneut griff er die Packung und seine Augen begannen zu glänzen, als er die Schneekugel betrachtete, die er ans Tageslicht beförderte. Sie hatte die gleiche Form wie die Kugel, die am Tag zuvor zu Bruch gegangen war, aber in ihr waren keine Murmeltiere, sondern ein Kaninchen, das Torgans Herz aber nicht minder berührte. Eine Träne der Freude kullerte seine Wange hinab und mit einem Schlag traf ihn die Erkenntnis, dass er zum ersten Mal seit siebzig Jahren ein Weihnachtsgeschenk von jemand anderem bekommen hatte... und dass er selbst nichts für seine Freunde hatte.

Torgan überlegte den ganzen Tag hin und her, aber ihm wollte kein geeignetes Geschenk einfallen. Doch dann fiel im plötzlich die Holzskulptur ins Auge. Hoffnung keimte in ihm auf wie ein Funke. Dann ergriff ihn Euphorie. Mit zittrigen Händen verpackte er die Schnitzerei in dem Karton der Schneekugel, verschloss ihn, kleidete sich wieder an und stapfte durch die Dämmerung zu dem Haus von Tadaros und Bolera.
Die Straßen waren mittlerweile leer. Alle Menschen saßen in ihren Hütten und feierten Weihnachten. Plötzlich kam sich Torgan sehr allein vor.
Die ersten Schneeflocken begannen zu fallen, es wurden mehr und mehr und noch bevor er an der Hütte am Rande des Dorfes ankam, hatte bereits eine dicke weiße Schicht den Boden bedeckt. Nun würde sich wirklich kein Mensch mehr auf die Straße wagen. Torgan sollte es recht sein. Niemand musste sehen, dass Torgan, der Zwerg, Weihnachtsgeschenke machte.
Leise schlich er sich an das Haus heran. Der Schnee dämpfte seine Schritte. Er vermied es, in das hell erleuchtete Fenster zu schauen, stellte das Paket vor die Tür, zog den Hebel der Glocke nach vorne und rannte so schnell weg, wie es seine kleinen Beine zuließen.
Er rannte, bis er das Gefühl hatte, seine Lunge würde platzen. Dann verfiel er in einen schnellen Gehschritt und war froh, als er sein eigenes Heim wieder erreichte.

Zuhause angekommen, machte er es sich gemütlich. Unter Gemütlichkeit verstanden alle Zwerge das Gleiche: Ein Pfeifchen, einen Krug mit Met und einen gemütliche Sessel. Nur eins fehlte ihm: Ein ordentliches Festmahl. Die Angst, seinen Freunden kein Geschenk machen zu können, hatte ihn so angetrieben, dass er vergessen hatte, auf dem Markt einen Braten und Brot zu kaufen.
Er durchwühlte die Schubladen seines Schrankes, das einzige was er aber fand waren ein paar getrocknete Pflaumen und eine handvoll Haselnüsse. Das musste reichen.
Er wollte gerade wieder auf seinem Sessel Platz nehmen, als es gegen die Tür klopfte. Ein Blick durch das Fenster zeigte ihm, dass es draußen nicht nur schneite, sondern mittlerweile ein Sturm aufgekommen war, der selbst einem Seemann Angst gemacht hätte – und Zwerge waren bekanntlicherweise alles andere als seetauglich.
Teils neugierig, teils voller Misstrauen schritt Torgan zur Tür, legte den Hebel zurück und blickte in die verfrorenen Gesichter von Tadaros und Bolera. Ohne auf eine Aufforderung zu warten, drängten sie sich in die Hütte. Bolera schloss die Tür hinter sich und stellte zwei große Töpfe auf den Tisch, die mit einem herzhaft duftenden Eintopf gefüllt waren.
"Da sind wir", sagte Tadaros freudestrahlend und nahm den murrenden Zwerg freundlich in die Arme.
"Tausend Dank für die hübsche Schnitzerei", fiel Bolera in die Begrüßung ein und fügte dann hinzu: "Wir hoffen, dass dir die Schneekugel auch gefallen hat."
"Jaja", meckerte Torgan und versuchte sich aus der Umarmung seines Freundes zu befreien. "Ist schon okay."
Plötzlich war er wieder ganz Zwerg. Geschenke, Weihnachten, Liebe und Freude, all das stieß er mit einem Mal von sich und gab sich wieder als derjenige, den alle kannten: Der kleine, immerzu meckernde Zwerg.
In seinem kleinen Zwergenherzen strahlte dennoch eine Wärme, wie sie der stärkste Met nicht hervorrufen konnte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.12.2008

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