Fast geräuschlos glitt der Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.
Der Name des Mannes war Luigi und er stammte ursprünglich aus dem kleinen Ort Curcuraci auf Sizilien. In diese Richtung fuhr auch der Zug. In ihm saß sein bester Freund, Jürgen, und Luigi wusste, dass er ihn nicht mehr wiedersehen würde. Wenn der Zug in Villa san Giovanni, am südlichsten Zipfel von Italien, ankommen würde, stünde dort bereits sein Onkel bereit, um Jürgen mit dem Auto nach Sizilien zu bringen und ihn dort mit einem Betonblock an den Füssen im Hafenbecken zu versenken. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Achtlos warf Luigi seine abgebrannte Zigarette auf die Bahngleise und starrte in die Nacht. Die Lichter des Zuges waren schon längst nicht mehr zu sehen. Er drehte sich um und ging in Richtung Bahnhofshalle.
Jürgen war ein netter Junge und eigentlich konnte er nichts für die ganze Geschichte. Na gut, er hatte sich in Luigis Freundin verliebt, war ein paar mal mit ihr im Bett gewesen, aber sowas kann passieren. Was ihn wirklich nervte war Julias Treuebruch. Auch das kann passieren, obwohl ... einem deutschen Mann – nicht einem echten Sizilianer.
Er kickte eine Coladose, die ihm im Weg lag, zur Seite und fluchte.
Warum war Julia auch so bescheuert, die ganze Fremdgeherei detailliert in ihrem Tagebuch zu beschreiben und es nicht einmal ordentlich zu verstecken?
Er schüttelte den Kopf, so als wollte er die Erinnerungen abschütteln, wie ein Hund das dreckige Flusswasser, in dem er gebadet hatte.
Das eigentliche Problem, Jürgen, war beseitigt. Was zählte war einzig und allein seine Julia. Diese mal würde sie noch keine Konsequenzen für ihr Handeln tragen müssen, aber wenn er sie noch einmal dabei erwischen würde, wie sie durch fremde Betten hüpft, dann würde er ihr das Gesicht zerschneiden. Schließlich war er Sizilianer – und in solchen Dingen nicht sonderlich zimperlich.
Als Luigi in seiner Penthousewohnung ankam, fiel ihm als ersten auf, das etwas fehlte: Julia!
„Farabutta“, fluchte er vor sich hin, schaltete das Licht ein und warf seinen Mantel achtlos auf den Boden. Kurz darauf folgten seine Schuhe, wobei er darauf achtete, dass sie möglichst weit getrennt voneinander auf dem Parkett des Flurs landeten.
Er schaute in jedes Zimmer, aber seine Freundin war definitiv nicht zu Hause.
„Die Schlampe kann was erleben, wenn sie kommt!“
Zielstrebig ging er in das Schlafzimmer, hob die Matratze am Kopfende hoch und kramte nach Julias Tagebuch. Er würde sich in die Küche setzen, darin lesen, bis sie nach Hause kam und ihr dann auf sizilianische Art erläutern, was er von ihren literarischen Ergüssen hielt. Von einer auf die andere Sekunde hatte er seine Meinung geändert. Sie würde bluten – noch heute nacht.
Mit dem Tagebuch und einer halbvollen Flasche Wein bewaffnet, die er im Wohnzimmer gefunden hatte, ging er in die Küche und began zu lesen.
„Liebes Tagebuch, Luigi ist hinter die Affäre zwischen mir und Jürgen gekommen. Er hat Jürgen in den Zug gesetzt und ihn zu seinem Onkel geschickt, angeblich um ein Paket mit Koks für ihn abzuholen.
“
Der Wein schmeckte abscheulich. Auch dafür würde Julia bezahlen müssen. Luigi hielt Ausschau nach etwas anderem Alkoholischem, da er aber nichts fand, stürzte er das Glas Wein in einem Zug hinunter. Hauptsache das Zeug würde schnell wirken.
„Was Luigi nicht weiß ist, dass ich das Telefonat zwischen ihm und seinem Onkel abgehört habe und das Jürgen bereits in Scilla aussteigen wird. Dort können wir endlich unser neues Leben beginnen.
“
Luigi fluchte innerlich. Glaubte sie tatsächlich, dass Onkel Giorgo nicht auch nach Scilla fahren würde, um sie beide aus dem Weg zu räumen. Schnaubend laß er weiter.
„Was Luigi auch nicht weiß, ist, dass die offene Flasche Wein im Wohnzimmer mit Blausäure versetzt ist, aber ich bin sicher, dass er es spätestens bemerken wird, wenn er diesen Tagebucheintrag zu Ende gelesen hat.
“
Tag der Veröffentlichung: 09.11.2008
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