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Mark hatte keine Ahnung, wie weit er bereits geritten war. Mit einem letzten Kraftakt hob er sich aus dem Sattel, sprang von seinem Pferd ab und hustete, als der feine Staub durch seine Stiefel aufgewirbelt wurde, die mit einem lauten Klacken auf dem Boden landete.
Durst, das war das Einzige, woran er momentan denken konnte. In Tolentino hatten sie ihn vor der Wüste gewarnt, ihm geraten, genügend Wasser mitzunehmen, und vorwiegend früh morgens, abends und nachts zu reiten, wenn die Temperaturen der mexikanischen Wüste halbwegs zu ertragen waren. Zumindestens die letzte Warnung hatte er in den Wind geschlagen. Bei sengender Hitze war er fast zwanzig Stunden am Stück geritten. Entsprechend schnell hatten sich seine Wasservorräte dem Ende zugeneigt, und nun stand er auf dem staubigen Untergrund, irgendwo im Niemandsland zwischen El Paso und Chihuahua, und war kurz davor, sich auf den Boden zu setzen und zu warten, bis die Sonne ihn ausgetrocknet hatte, wie ein Stück Trockenobst. Wenigstens wäre er dann von diesem Kratzen im Hals und dem wahnsinnigen Durst erlöst.
Seinem Pferd, Raoul, wie es der Viehhändler in Tolentino genannt hatte, schien es auch nicht besser als ihm zu gehen. Aber wenigstens machte es nicht den Eindruck, als würde es sich einfach in den Staub werfen, um auf seinen Tod zu warten.
Raouls Lebenswille brachte ihn dazu, sich wieder aufzurichten und seinen Blick über die scheinbar endlose Einöde der Wüste schweifen zu lassen. Sand, Steine, Geröll, scharf abgegrenzt von dem blauen Himmel, der von keiner Wolke getrübt wurde. Im Südwesten, oder wenigstens vermutete er, dass es Südwesten war, erhoben sich die steilen Klüfte des Gebirges, auf deren Gipfel der weiße Schnee die Sonne reflektierte. Viel zu weit weg, als dass er sie vor seinem Verdursten erreichen könnte.
Doch dann fiel sein Blick auf etwas, das seine Aufmerksamkeit anzog, wie eine Kerze die Stechmücken in einer schwülen Sommernacht. Bäume? Häuser? Er war sich nicht sicher, auf jeden Fall war es etwas, was überhaupt nicht in die Einöde der Wüste zu passen schien. Innerhalb weniger Sekunden war er voller Hoffnung und saß wieder im Sattel von Raoul, der gemächlich nach Süden trottete.
Sie ritten fast zehn Minuten, bis die Konturen des Dorfes als solche sichtbar wurden. Kleine Häuser, zwischen denen in unregelmäßigen Abständen palmenähnliche Bäume aufragten, brachten Mark dazu, sich erschöpft auf den Hals seines Pferdes zu legen und innerlich tief zu seufzen. Vielleicht würde nun doch noch alles gut werden. Vielleicht! Er schloss die Augen und konnte die aufsteigenden Bilder nicht unterdrücken. Das Bild, wie sie ihn aus der engen Röhre des Kernspintomographen zogen, die Bilder, wie er anschließend noch gut eine halbe Stunde lang im Wartezimmer des Krankenhauses sitzen musste, bevor er von der Schwester in das Sprechzimmer gerufen wurde, in dem der Arzt bereits mit einer todernsten Miene auf ihn wartete. Das Bild, wie Tränen seinen Augen füllten, als Dr. Schlüter ihm offenbarte, dass der Tumor, ein Glioblastom, inoperabel war. Mark ließ seine Gedanken noch weiter zurück weichen, hin zu dem Zeitpunkt, an dem diese entsetzlichen Kopfschmerzen begannen, die von Tag zu Tag schlimmer wurden. Er hatte ihnen nicht sonderlich viel Beachtung geschenkt. Erst als er anfing in unregelmäßigen Abständen Doppelbilder zu sehen, wusste er tief in seinem Inneren, dass irgend etwas nicht in Ordnung war. Und er hatte gewusst, dass er daran sterben würde, allerdings hatte er mit einigen schmerzerfüllten Jahren gerechnet, in dem er noch Zeit hatte, mit seinem Leben in Ruhe abzuschließen. Die Worte seines Arztes traf ihn wie ein Faustschlag. Fünf Monate, mit einer Chemotherapie vielleicht zehn. Die schmerzhafte Wahrheit durchfuhr ihn wie ein Muskelkrampf, und er öffnete erschreckt die Augen, um sich in der Wüste von Mexiko wieder zu finden.
Alles würde gut werden. Alles, wenn er es bloß bis nach Chihuahua schaffen und diesen Medizinmann finden würde, von dem er im Internet gelesen hatte. Der, der von so vielen Gesunden als Quacksalber bezeichnet wurde. Klar, die kritischen Menschen waren auch alle gesund. Ihnen war keine tödliche Diagnose gestellt und im gleichen Atemzug mitgeteilt worden, dass die moderne Medizin nichts für sie tun könne. Fünf Monate zu leben, ohne Aussicht auf eine Heilung. Wer würde nicht so handeln wie er, sein letztes Geld zusammen kratzen, und sich auf die Suche nach einem Wunderheiler machen?

Als er in dem kleinen Dorf ankam, wäre er vor Dankbarkeit fast auf die Knie gefallen und hätte seine Arme Gott entgegen gestreckt. Wenn er noch mit Gott reden würde.
Statt dessen stieg er, immer noch halb bewusstlos vor Durst, von Raoul ab und genoss zum ersten mal nach zwei Tagen wieder die Zivilisation. Er bestaunte die Bäume, die aus dem trockenen Sandboden entsprangen, die einfachen Häuser, errichtet von den Menschen, die, geschäftig wie ein Ameisenvolk, über den großen Platz in der Mitte des Dorfes liefen und ihren Tätigkeiten nachgingen. Er stand mitten unter ihnen, drehte sich einmal im Kreis, und ließ seinen Blick schweifen. Alle Häuser waren aus Lehm gebaut, oder zumindestens mit Lehm verkleidet. Vermutlich, um die Bewohner vor der erbarmungslosen Sonne zu schützen und im Inneren halbwegs erträgliche Temperaturen zu garantieren. Auffällig ragte eines der Häuser unter all den anderen hervor. Es war ein Holzhaus, das ausnahmslos keine Lehmverkleidung trug, und über dessen Eingang eine gestreifte Markise angebracht war, in dessen Schatten ein Einwohner seine Siesta hielt. Über der Markise prangte in großen, goldenen Buchstaben, dessen Farbe aber durch den feinen Sandstaub mittlerweile ziemlich angegriffen worden war, der Schriftzug „Hotel – Bar – Restaurante“.
Mark nahm sich gerade noch die Zeit, Raoul an eine Tränke an der Nebenseite des Hotels zu führen, und ihn dort anzubinden, bevor er mit schleppenden Schritten Schutz unter der Markise suchte und den Mexikaner ansprach.
„Sed...Tienen agua?“
Der Mexikaner, hob langsam seinen Kopf, so dass Mark das Gesicht, das vorher durch den riesigen Sombrero verdeckt worden war, erkennen konnte.
„Ich spreche deine Sprache, mein Junge.“, sagte der Mexikaner in nahezu akzentfreiem deutsch, und erhob sich ebenso langsam, wie er aus seiner Siesta erwacht war. „Natürlich habe ich Wasser für dich. Komm mit.“
Eine alte, faltige Hand, streckte sich Mark entgegen. „Mein Name ist Miguel.“
Mark erwiderte die Begrüßung und stellte sich ebenfalls vor. Insgeheim wünschte er sich aber, dass ihm der Alte endlich etwas zu trinken anbieten würde.

Als Mark die Vorhalle des Hotels betrat, blieb ihm fast die Luft weg. Während Miguel sich an einem altmodischen Wasserspender zu schaffen machte, wurde sein Hals noch trockener. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit solch einer Innenausstattung.
Die Rezeption bestand aus dunklem Kirschbaumholz im Kolonialstil und konnte kaum noch wuchtiger wirken. Der Boden, entweder handelte es sich um echten Marmor, oder aber um ein ziemlich gutes Marmorimitat, schien noch vor kurzem gewischt worden zu sein und reflektierte die altertümliche, antike Ausstattung der Vorhalle. Dort, wo sich nichts spiegelte, lagen teure Orientteppiche, auf denen kleine Sitzecken, ebenfalls alle aus Kirschbaumholz, angeordnet waren.
„Hier, dein Wasser.“ Miguel reichte Mark ein Glas, in dem sich eine glasklare, eisgekühlte Flüssigkeit befand. Das erste echte Wasser, seitdem er in Mexiko angekommen war. Die anderen „Wasser“ hatten eher eine rostbraune Farbe gehabt und auch so geschmeckt.
„Danke. Was schulde ich ihnen dafür“, fragte Mark.
Miguel zuckte nur mit den Schultern, drehte sich um und ging in Richtung Ausgang. Ein verächtlicher Laut verlies seine Lippen, bevor er sprach. „Eine Geschichte, mein Junge. Ich bin alt, und hier passiert nicht mehr viel Aufregendes. Der Preis für das Wasser...“, sagte er, während er im Gehen seinen Kopf kurz zu Mark umdrehte, „...ist deine Geschichte. Komm, wir setzen uns vor die Tür, und du erzählst mir, was dich in die beschissenste Gegend von ganz Mexiko verschlagen hat.“ Ein Lachen, das sich anhörte, als würde man Sandstein mit einem Reibeisen bearbeiten, kam aus seiner Kehle. „Für wahr... wirklich die beschissenste Gegend von allen...“
Als Mark vor die Tür trat und ihn die Hitze wieder umwallte, saß der Alte schon wieder auf seinem Stuhl und hatte sich gemütlich nach hinten gelehnt. Mit einem kurzen Winken wies er auf die Bank, die ihm gegenüber stand.
„Und?“
„Nun“, sagte Mark, während er sich setzte, „eigentlich gibt es da nicht viel zu erzählen.“
Wieder erklang das Reibeisen, als Miguel lachte. Dieses mal herzhaft und aus vollem Leibe. Als er seinen Mund aufriss, glänzte Mark pures Gold entgegen. Mein Gott. Dieser Mann war alt, aber sicherlich nicht arm. Kein einziger echter Zahn war in seinem Mund zu sehen, statt dessen nur goldene Kronen. Als Miguel sich wieder beruhigt hatte, drängte er Mark weiter. „Kein Mensch glaubt dir, dass du dich auf einem alten Gaul auf den Weg machst, durch die Hitze, mit zu wenig Wasser, nur um die trostloseste Gegend der Welt zu bestaunen.“ Er überlegte kurz, bevor er fortfuhr. „Nun ja, die Wüste Gobi ist vielleicht noch ein bisschen trostloser als das hier.“
„Ich bin auf der Durchreise“, erklärte Mark, „ich möchte so schnell wie möglich nach Chihuahua, um dort jemanden zu treffen.“
„So so.“ Miguel nickte. „Nach Chihuahua. Ja, da wollen sie alle hin.“ Er blickte auf , fast so, als würde er jemanden auf dem Platz suchen. Unwillkürlich folgte Mark seinem Blick, und zum ersten Mal fiel im etwas auf. Im ersten Moment konnte er gar nicht genau sagen, was es war. Die Menschen hier waren komisch. Ihr Gang war komisch. So leblos, und doch durchsetzt mit Energie, so als ob sie alle eine wichtige Aufgabe zu erledigen hätten. Dann bemerkte er es plötzlich. Keiner von ihnen bewegte die Arme. Alle Menschen, die über den Dorfplatz schlenderten, schlenderten eben nicht, sondern gingen wie Roboter. Die Arme hingen an ihren Seiten, aber schwangen nicht vor und zurück, so wie es normalerweise der Fall sein müsste.
„Was ist mit den Leuten?“, fragte er Miguel.
„Was soll mit ihnen sein? Alles Reisende, die nach Chihuahua wollten, sich dann aber anders entschieden haben.“
„Anders entschieden?“
Miguel wandte Mark das Gesicht zu. Mit einem Mal erschien ein teils bedauernder, teils belustigender Ausdruck in seinen Augen.
„Ja, anders entschieden. Weil sie letztendlich gemerkt haben, dass das, wonach sie streben oder suchen, eigentlich schon gar keine Rolle mehr spielt.“ Plötzlich strahlten seine Augen nur noch eine tiefe Traurigkeit aus. „Hier kommt keiner mehr weg, mein Junge. Schau sie dir an“, flüsterte er und zeigte mit seiner Hand in Richtung des Dorfplatz.
Und Mark schaute, aber das was er sah, wollte ihm überhaupt nicht gefallen. Alles an den Menschen hier war leer, so als hätten sie einmal große Träume gehabt, die allesamt wie Seifenblasen geplatzt waren. Der Gang der Menschen war leblos. Ihr Gesichtsausdruck war leblos. Vielleicht war ihm das vorher nur nicht aufgefallen, weil diese Leblosigkeit so gut zu der Umgebung passte. Ein merkwürdiges Gefühl griff nach ihm. Er hatte das Verlangen aufzustehen und weg zu laufen, widersetzte sich diesem Drang aber. Tief durchatmen, sagte er sich, tief durchatmen, und alles wird gut. Aber es wurde nicht gut. Im Gegenteil, es wurde schlimmer, als einer der Dorfbewohner nur wenige Meter an ihnen vorbei schlenderte. Er würdigte sie keines Blickes, aber dennoch konnte Mark kurz in sein lebloses Gesicht schauen. Da war nichts. Alle Muskeln schienen erschlafft zu sein, die Augen blickten starr nach vorne. Verdammt! Die Augen. Das war das Schlimmste an diesem Gesicht. Sie sahen so anders aus. Die Iris war nicht grün, blau, braun oder grau, sondern schien einfach nur ein Spiegelbild dieser verdammten Wüste zu sein und schimmerte in einem gelb-beigen Ton, den er noch niemals in den Augen eines Menschen gesehen hatte.
Er konnte sich nicht mehr zurück halten. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass die Temperatur nochmals um zehn Grad angestiegen war. Hastig trank er das Glas Wasser aus, stellte es auf die Lehne der Bank und sprang auf.
„Ich muss los.“, erklärte er Miguel, der weiterhin ruhig auf seiner Bank saß. „Ich muss dringend nach Chihuahua.“
Mark hatte sich schon fast zum Gehen abgewandt, als Miguel reagierte. „Klar. Nur zu, mein Junge.“
„Können... können sie mir etwas Wasser mitgeben?“
Wieder zuckte Miguel nur mit den Schultern. „Sicher. Aber das Wasser wird dich auch nicht retten. Hast du nicht die Hochebenen im Südwesten gesehen. Dort oben ist es verdammt kalt. Auf einigen Gipfeln liegt sogar Schnee. Das was du heute noch als Hitze verdammt hast, wirst du dir heute Nacht sehnlichst herbeiwünschen, wenn die eiskalten Winde von der Ebene um deine Ohren sausen.“
Mark hielt inne. „Kalt?“
„Verdammt kalt“, bestätigte Miguel und nickte.
Es entstand ein nachdenkliches Schweigen zwischen den beiden. Mark war immer noch danach, einfach davon zu laufen. Weg von diesen komischen Menschen und vor allen Dingen weg von diesem Miguel, der ihm mit seinen Weisheiten wahrscheinlich nur Angst machen wollte – was ihm erstaunlich gut gelang.
Miguel kramte in seinen Taschen herum und zog etwas in seiner geschlossenen Hand hervor. „Hier, fang!“, rief er Mark zu, und ihm selben Moment flog ein Schlüssel in seine Richtung. Geistesgegenwärtig streckte er die Hand nach vorne, und fing ihn auf.
„Was ist das?“
„Ein Schlüssel.“
„Ja, das sehe ich, aber was soll ich damit?“
Miguel schüttelte leicht den Kopf, als müsste er sich mit einem Begriffstutzigen unterhalten und könnte es nicht länger ertragen.
„Das“, sagte er, „ist ein Schlüssel für ein Hotelzimmer, mein Junge.“
„Ich.. ich kann nicht“, stotterte Mark. „Ich muss dringend nach Chihuahua.“
„Ja, das sagtest du schon. Der Schlüssel ist ein Angebot. Nimm es an, übernachte hier, oder gib ihn mir wieder, steig auf dein Pferd und morgen kümmern sich die Geier um deine Überreste. Mir ist das ziemlich egal.“
Mit diesen Worten lehnte sich Miguel wieder zurück, schloss die Augen, und es sah tatsächlich so aus, als würde er schlafen. Mark stand vor der Bank und versuchte seine Gedanken zu ordnen, und vor allen Dingen, seine Furcht in den Griff zu bekommen. Gut, der alte war merkwürdig, schien aber nicht gefährlich zu sein. Die Menschen waren auch merkwürdig, aber keine war ihm bislang zu nahe gekommen. Verdammt. Eigentlich wünschte er sich sogar, dass ihm einer näher kommen würde, den Mund aufmachen und nur einen vernünftigen Satz mit ihm wechseln würde, selbst wenn er auf spanisch wäre. Dieser Ort war der merkwürdigste Ort, den er jemals besucht hatte, aber er war nur merkwürdig, versuchte er sich einzureden. Merkwürdig, aber nicht gefährlich. Wenn Miguel allerdings recht hatte, dann könnte es ein verdammt gefährliches Unterfangen sein, heute Nacht durch die Wüste zu reiten. Er versuchte jegliches Gefühl in sich zu unterdrücken und analytisch zu denken. Wenn er nicht nach Chihuahua kam, würde er sterben. Wenn er nachts durch die Wüste ritt, könnte er eventuell sterben. Wenn er hier im Hotel blieb, wären nur ein paar Stunden verloren, und hatte zumindestens eine Chance, den Kampf gegen das Geschwür in seinem Kopf zu gewinnen.

Als Mark das Hotelzimmer betrat, war er wenig überrascht, dass es im gleichen altmodischen Stil wie die Rezeption eingerichtet war. Miguel hatte ihm zweihundertfünfzig Pesos für das Zimmer berechnet, was ihm recht fair vorkam, vor allen Dingen, wenn er bedachte, in welcher Gegend er sich befand. Nachdem sein Blick aber einmal durch das komplette Zimmer gewandert war, empfand er den Preis nicht mehr nur als fair oder preiswert, sondern als spottbillig. Miguel hatte scheinbar einen Faible für den alten Kolonialstil. Bett, Schreibtisch, Schrank und Minibar waren alle aus dem dunklen, glänzenden Holz gearbeitet, das er bereits in der Rezeption bestaunt hatte. Der Raum hatte nur ein Fenster, welches glücklicherweise nach Norden zeigte, so dass er im Laufe des Tages nicht unnötig durch die Sonne aufgeheizt wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite des Fensters befand sich ein Kamin, der mit terracotta farbenen Sandstein verkleidet worden war, und obwohl es für eine Wüstengegend recht unwahrscheinlich klang, war der Kamin definitiv schon benutzt worden. Längliche Rußspuren zogen sich an der Verkleidung entlang nach oben, und schienen wie Flammen zu lodern, um an dem gerahmten Ölgemälde zu nagen, dass direkt über dem Kaminsims angebracht worden war. Das Bild zeigte Miguel in einer erhabenen Pose vor seinem Hotel. Obwohl seine Gesichtszüge unverkennbar waren, wirkte er auf dem Bild um jahrzehnte jünger.
Erschöpft ließ sich Mark auf einen viktorianischen Sessel fallen, der in sanften Grüntönen gehalten und mit allerlei Zierrat versehen war. Es fiel ihm schwer, die Augen zu schließen und zur Ruhe zu kommen. Immer wieder fielen die Bilder der Dorfbewohner in seinen Verstand, wie sie rastlos über den Platz wanderten, scheinbar zu keiner Emotion imstande. Gott! Wie sehr wünschte er es sich, keine Emotionen zu haben, zumindestens für den Augenblick. Aber er hatte Angst. Und Wut. Eine perverse Mischung aus beiden Gefühlen brachte ihn dazu, die Hände zu Fäusten zu ballen und seine Tränen zu unterdrücken. Mark war wütend auf Gott. Wütend, weil dieser ihn mit einer Krankheit für eine Tat bestraft hatte, derer er sich nicht einmal bewusst war. Und diese Krankheit machte ihm Angst. Furchtbare Angst. Er ließ die zurückliegenden Wochen in Bildern vor seinem geistigen Auge vorbei ziehen. Sein noch angenehmer Flug in die USA. Die Autofahrt nach El Paso, die netten Menschen, die er getroffen hatte, die aber, sobald sie den Grund für seine Reise gehört hatten, in ein betroffenes Schweigen fielen und nur noch mitleidige Blicke für ihn übrig hatten. Er sah die Wüste, spürte die euphorische Stimmung, als er in Tolentino aufbrach, und er noch der Meinung war, dass der Ritt durch das Geröll zwar langweilig, aber nicht unbedingt ein Kraftakt sein würde. Wieder kehrte der Durst in seine Kehle zurück, obwohl er mittlerweile genügend getrunken hatte. Er sah das kleine Dorf, als er kurz vor dem Verdursten war, und Miguel, wie er in einer erhabenen Position auf dem Dorfplatz stand, umgeben von den Dorfbewohnern. Es war eine äußerst merkwürdige Szene. Mark schien so etwas wie eine Art Predigt zu beobachten. Er stand vor dem Hotel. Miguel war ihm zugewandt und hatte in jeder Hand eine mexikanische Rassel, mit der er einen monotonen, einschläfernden Rhythmus fabrizierte. In einem Halbkreis angeordnet standen die Einwohner des Dorfes um ihn herum. Sie wandten Mark den Rücken zu und schienen völlig im Bann von Miguels Rasseln zu stehen.
„No hay dolor – no hay sed“, die Worte die Miguel in einem Singsang murmelte, drangen klar und deutlich zu Marks Ohren vor. Die Rasseln pausierten, und die ganze Szene wurde für ein oder zwei Sekunden in eine dramatische Stille getaucht. Mark stellten sich die Armhaare auf. Es war eine bedrückende Stille, aber noch schlimmer war die chorale Antwort der Dorfbewohner, die darauf folgte.
„Mìranos, Mìranos y usted“
Wie zur Untermalung der Worte hob Miguel beide Hände in den Himmel und die Menschen drehten sich langsam aber synchron zu Mark um und schauten ihn aus leeren ausdruckslosen Augen an. Die Perversion der Natur, die allen diesen Menschen eine beigefarbene Iris gegeben hatte, veranlasste, sein Herz schneller schlagen zu lassen. Ein dünner Schweißfilm sammelte sich auf seiner Stirn, aber er war zu gebannt von der Szene, als dass er seine Hand hätte heben, und seine Stirn abwischen können.
Wieder öffneten die Menschen ihren Mund, aber dieses mal sprachen sie deutsch. „Hier kommt keiner mehr weg.“
„Sieh sie dir doch an“, fiel Miguel mit in den Chor ein, und Marks Herz blieb stehen.

Ein Zucken durchfuhr Marks Körper, als er mit dem Wiedereinsetzen seines Herzschlages aus dem Albtraum erwachte. Er musste eingeschlafen sein. In seinen Ohren hörte er immer noch die Rasseln, und er brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren. Der Raum sah anders aus, aber vermutlich nur, weil mittlerweile kein helles Tageslicht mehr durch das Fenster fiel, sondern der Raum, bis auf ein warmes, aber schwaches Licht von draußen, in orangefarbene Töne getaucht wurde.
Er schüttelte sich, als wolle er die Nachwirkungen des Albtraums von sich werfen, wie ein nasser Hund die Regentropfen von sich abschüttelt. Es funktionierte nicht. Immer noch hallten die Rasseln in seinen Ohren, und mit einem mal hatte er einen entsetzlichen Verdacht. Seine Muskeln schmerzten durch die Strapazen in der Wüste, als er aufsprang, mit zwei großen Schritten zum Fenster hechtete, und den eingerosteten Fensterrahmen nach oben drückte.
Seine Ahnung wurde bestätigt. Sie waren dort. All die Menschen aus seinem Traum, standen auf dem Dorfplatz. Miguel mitten unter ihnen, die Rasseln hin und her schwingend. Nachdem die ersten Schreie an sein Ohr gedrungen waren, wurde er sich der Situation wirklich bewußt. Schreie, die unmenschlicher kaum sein konnten, ließen ihn zittern. Er spürte, wie sich seine Armmuskeln versteiften.
In den Feuerschein zahlreicher Fackeln gehüllt, konnte er die Menschen sehen. Konnte sehen, wie einige einfach auf der Stelle standen. Andere schlugen mit knüppelähnlichen Gegenständen auf ihre Mitbürger ein, wiederum andere trieben es ungehindert in der Öffentlichkeit.
Mark sah, wie eine Frau mittleren Alters mit schnellen, aber dennoch roboterhaften Schritten versuchte, den Rand des Dorfplatzes zu erreichen. Doch bevor ihr das gelang, wurde sie von zwei jungen Männern auf den Boden gerissen. Während der eine ihr die Kleider vom Leib riss, so dass sie sich gänzlich nackt auf dem steinigen Boden wälzte, hatte sich der andere bereits zwischen ihre Beine gedrängt und began sie im Rhythmus der Rasseln zu vergewaltigen. Ob die Frau aus Lust, Angst oder Schmerz schrie, konnte Mark nicht beurteilen. Er wusste aber, dass es der Schmerz war, der über die Lippen der Frau drang, als der erste Mann sich zu ihrem Gesicht hinunter beugte. Zuerst dachte er, der Mann wolle sie küssen, aber dann wurde ihm klar, dass er begann, das Gesicht der Frau zu zerbeißen. Er riss große Fleischstücke aus ihren Wangen und spuckte sie auf den Unterkörper der Frau, der weiter von dem zweiten Mann rhythmisch bearbeitet wurde.
„Nein“, entfuhr es Mark, „Nein, nein, nein. Das kann alles nicht wahr sein!“
Fast so als ob Miguel seine Worte gehört hatte, pausierten die Rasselgeräusche und er schaute zu ihm auf. Die goldfarbenen Kronen blitzen auf, als er sein Gesicht zu einer grinsenden Grimasse verzog. Dann began er wieder, seine Rasseln hin und her zu schwenken und die Luft mit einschläfernden Geräuschen zu schwängern, die aber nicht die Schmerzens- und Lustschreie der Menschen auf dem Platz übertönen konnten.
Übelkeit stieg in Mark auf. Er roch Blut, Schweiß und den süßlichen Geruch von Sex, der in der Luft hing. Er sah die Gier, aber auch die Brutalität, mit der die Menschen ihre Bedürfnisse zelebrierten. Scheiße! Die Leute hatten nicht einfach nur Sex miteinander, sie fraßen sich gegenseitig auf. Sie traten, kratzten, fielen anderen Mitmenschen in den Rücken, nur um diese brutal zu vergewaltigen, oder aber um sie mit Holzstücken zu schlagen, und den Gesichtern der Gepeinigten des Ausdruck von Kartoffelbrei zu verleihen.
„Ich muss hier weg“, murmelte er zu sich selber. „Scheiße! Ich muss hier sofort weg!“
Dennoch stand er wie gebannt am Fenster, und konnte seinen Blick nicht von dem schrecklichen Schauspiel abwenden. Ein Mann saß nackt auf dem Boden, während eine Frau auf ihn zukroch. Als der Mann die Finger ausstreckte, und sie danach griff, dachte Mark zunächst, dass sie seine Finger liebkosen würde, aber als das hässliche Krachen von Knochen sich mit den unmenschlichen Schreien des Mannes mischten und durch die Luft zu seinem Fenster getragen wurde, wusste er es besser. Er dreht sich schlagartig herum und wollte in das Badezimmer eilen, bei dem Versuch blieb es allerdings, weil er sich bereits während des Drehens übergab und die Wand mit gallefarbigem Erbrochenen sprenkelte.
„Das kann nicht sein“, sagte er immer wieder zu sich selbst. „Nein.“
Dann kam die Panik. Keine Angst, keine Furcht, sondern pure, nackte Panik, die ihn veranlasste, einfach los zu rennen. Er musste zu seinem Pferd. Während das Adrenalin durch seinen Körper gepumpt wurde und seinen Muskeln die Kraft gab, aufzuspringen, schaltete er seinen Verstand völlig ab. Den letzten bewussten Gedanken verschwendete er an eine Waffe, konnte aber nach einem kurzen Rundblick durch das Zimmer nichts besseres finden, als das Schüreisen, welches in einem Halter am Kamin stand.
„Notausgang“, schrie eine unsichtbare Stimme in seinem Kopf. Er konnte unmöglich durch den Vordertür des Hotels verschwinden, denn dann würde er direkt auf dem Dorfplatz und in der Meute der Verrückten landen. Statt dessen lenkte er seine Füße geistesabwesend um die Rezeption herum, in einen Hinterraum, der als kleines Büro eingerichtet war. Eine Sackgasse. Mark holte aus, schwang das Schüreisen mit Kraft nach vorne und schlug es mitten in die Scheibe, die ihn von einer kleinen Gasse auf der Rückseite des Hotels trennte. Den Schmerz, den die Scherben auf seinen Händen hinterließen, als er durch den mit Glas gezahnten Schlund kroch, spürte er nicht, eben so wenig den harten Aufprall, als er aus fast zwei Metern Höhe mit der Längsseite auf den kalten, harten Steinboden aufschlug. Leicht benommen rappelte er sich auf und bohrte seine Blicke in die Dunkelheit der Seitengasse.
Es dauerte einige Sekunden, bevor sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, doch dann sah er sie. Zwei Schönheiten, wie von dem Titelblatt eines Hochglanzmagazins standen vor ihm. Ihre Kleider waren zerrissen, und die Haut, die darunter sichtbar wurde, waren mit tiefen Kratzern und Schnitten übersäht, aber dennoch waren die Frauen irgendwie hübsch.
„Komm zu uns“, krächzte die Blonde von den Beiden, mit einer Stimme, die ganz und gar nicht zu einer schönen Frau passte, sondern eher dem heisere Stöhnen einer uralten Hexe gleich kam.
„Ja, gib uns dein saftiges Fleisch.“, fiel die Dunkelhaarige ein.
„Hier kommt keiner mehr weg.“
Langsam, mit torkelnden Bewegungen und völlig leerem Gesichtsausdruck kamen die Frauen auf ihn zu. Während sie sich ihm näherten, streckten sie die Hände aus und erweckten den Eindruck, sie seien Schlafwandler.
Mark wollte schreien, aber das hätte vermutlich die anderen Zombies vom Dorfplatz angelockt. Außerdem war sein ganzer Brustkorb versteift vor Angst. Das Atmen fiel ihm schwer, und obwohl die Nachtluft sehr kühl geworden war, hatte er das Gefühl, als würde er brennenden Schwefel einatmen.
„Komm, nimm uns.“, krächzten die Frauen wieder im Chor, „wir sind auch noch fast frisch.“
„Ja, fast frisch“, wiederholte die Blonde.
Mark schrie. Aber nur für einen ganz kleinen Moment, dann setzte jeder Gedanke aus, und sein Gesichtsausdruck wurde fast so leblos wie der der anderen Menschen in dem Dorf. Auf einmal spürte er das schwere Gewicht des Schüreisens in seiner rechten Hand, und ohne nachzudenken holte er aus, schwang das Eisen durch die Luft, die mit einem pfeifenden Geräusch zerschnitten wurde, und schlug es mit aller Kraft in das Gesicht der blonden Frau.
Die Blonde ging nicht einfach zu Boden. Als das Eisen ihren Kopf berührte, zerplatze dieser wie ein Luftballon, in das ein Kind eine Nadel gesteckt hatte. Fleisch und Knochenfetzen flogen durch die Luft, gemischt mit einem braun-gelben Brei, der entsetzlich nach Eiter stank. Der Torso der Frau blieb noch für ein oder zwei Sekunden aufrecht stehen und pumpte das Blut, wie ein kleiner Springbrunnen, aus den abgetrennten Halsaterien, bevor er umkippte und eine rote Pfütze unter sich bildete.
Mark stand regunglos vor dem sterbenden, blutenden und nach süßlichem Eiter stinkenden Körper und konnte seine eigene Brutalität nicht fassen. Fast spürte er etwas wie Mitleid, als sich die dunkelhaarige Frau zu ihrer Partnerin hinab beugte und laut zu schluchzen began.
„Du hast sie kaputt gemacht“, schrie sie. „Sie sie dir an! Ihr Kopf ist gar nicht mehr auf ihrem Hals. Du hast sie kaputt gemacht.“
Marks Beine weigerten sich loszulaufen. Diesen Impuls gab sein Unterbewusstsein erst, als die Frau aufstand und wieder mit nach vorne gestreckten Händen auf ihn zu kam.
„Jetzt werde ich dich kaputt machen.“, stöhnte sie. Ihre Tonfall war ein Gemisch aus tiefer Trauer und abgrundtiefem Hass. „Ich werde dir deine Männlichkeit ausreissen, und dich zwingen dich selbst zu fressen.“ Ihr Blick fiel kurz wieder auf die Frau am Boden. „Sieh, was du getan hast. Hier kommt keiner mehr weg.“
Mark sah das ein wenig anders. Als das Schüreisen in den Schädel der zweiten Frau einfuhr, und der zerplatzende Kopf ihn abermals mit Eiter und Blut bespritzte, war er völlig emotionslos. Er brauchte nicht einmal den Ekel zu unterdrücken. Wie von selbst bewegten sich seine Beine und liefen um die Ecke des Hotels, wo sein Pferd immer noch an dem Wassertrog angebunden war.

Mark war schon fast zehn Minuten geritten und konnte immer noch das Feuer der Fackeln im Dorf sehen, wenn er sich umdrehte. Es war kalt. Verdammt kalt, aber der Ritt durch die Kälte war mittlerweile die einzige Möglichkeit, um zu überleben.
Er versuchte seine Gedanken zu unterdrücken, so wie man versucht die Erinnerungen an einen Albtraum zu unterdrücken, wenn man mitten in der Nacht aufwacht und Angst davor hat, wieder ein zu schlafen.
Raoul schien nichts von all der Aufregung bemerkt zu haben und ritt mit gemächlichem Schritt in das Dunkel der Wüste hinaus.
Das erste, was Mark bemerkte, waren seine Finger, die steif wurden. Kalt. So entsetzlich kalt. Die Worte von Miguel kamen ihm nun fast wie ein Fluch vor. Es konnte nicht sein, dass es nachts in der Wüste so kalt wurde, dass seine Finger fast ab starben.
Dann folgten seine Füße, die nach und nach von jedem Gefühl verlassen wurden. Sein Gesicht fror, und hätte er nicht gewusst, dass er mitten in der mexikanischen Wüste war, so hätte er geschworen, er würde sich auf einer Expedition auf dem Mount Everest befinden.
Seine Hand fuhr über seine Stirn und durchkämmte das von Eiskristallen durchsetzte Haar.
Raoul ritt tapfer weiter. Raoul war das einzige Wesen, dem Mark momentan noch vertraute, und so legte er sich nach vorne, presste sein Gesicht, seinen Oberkörper und seine Hände eng an den Hals des Tieres, um wenigstens ein wenig von seiner Wärme ab zu bekommen. Müdigkeit durchfuhr ihn. Er erinnerte sich, irgendwo gehört zu haben, das Erfrieren gar nicht so schlimm sei, sondern dass der Kreislauf einfach herunterfährt und man irgendwann einschläft.

Als Mark aufwachte, spürte er Sand. Er brauchte einige Sekunden, bis er sich orientiert hatte. Die ganze Welt war blendend weiß, und der Sand war in seine Kleidung gekrochen, in seine Schuhe, sogar in seinem Mund knirschte es, wenn er den Kiefer bewegte. Dann kroch nach und nach sein Bewusstsein ans Tageslicht, und mit ihm kamen die Erinnerungen an die letzte Nacht. Er zuckte zusammen und setzte sich abrupt auf. Sein Kopf wirbelte einmal im Kreis herum, nur um sicher zu gehen, dass ihn keiner dieser Zombies verfolgt hatte. Aber die Wüste war leer und ruhig. Nur Raoul stand treuherzig neben ihm und wartete. Langsam, um seinen Kreislauf zu schonen, erhob er sich aus dem Sand, trat neben sein Pferd und klopfte ihm freundschaftlich auf den Hals.
Die Sonne stand noch nicht sonderlich hoch, aber dennoch zerrte schon wieder der Durst an seiner Kehle. Er erinnerte sich an die zwei großen Plastikflaschen mit Wasser, die ihm Miguel mitgegeben hatte.
„Verdammt“, fluchte er. Die Wasserflaschen hatte er natürlich während seines schlagartigen Ausbruches aus dem Hotel liegen lassen. Statt dessen funkelte ihn das Schüreisen an, dass harmlos neben Raoul im Sand lag. Es erschien ihm wie ein böser Traum, dass es noch vor wenigen Stunden eine Waffe war, mit der er zwei, ..., was auch immer getötet hatte.
„Na dann los, alter Junge“, sagte er und stieg seitlich auf sein Pferd auf, das sich nach einem kurzen Schnalzen mit der Zunge gemächlich in Trab setzte.
Er ritt fast zwei Stunden lang, bevor er am südlichen Horizont Zeichen von Leben sah. Kein Dorf wie das letzte. Es schien es sich eher um eine Art Fort zu handeln. Rings um das Dorf zogen sich Palisaden aus dicken Baumstämmen. Das Dorf war nur als solches zu erkennen, weil einige wenige Gebäude größer als die Stämme waren und imposant über dem Zaun aufragten.
Mark schlug seinem Pferd die Schuhe in die Flanken und wies es an, schneller zu laufen. Je näher sie dem Dorf kamen, je größer die Palisaden vor seinen Augen wurden, desto deutlicher fühlte er auch das kratzige Gefühl des Durstes in seinem Hals. Erschöpft wie nach einem zweihundert Meter Sprint kam er an dem großen Tor des Baus an und erfreute sich an dem Schatten, den die hohen Palisaden spendete.
Er sprang von Raoul ab und verfluchte sich, dass er das Schüreisen im Sand hatte liegen lassen, denn die Baumstämme erschienen so massiv, dass ein einfaches Klopfen mit der Faust wohl kaum Aufmerksamkeit auf der Gegenseite erregen würde.
Allerdings war das auch gar nicht notwendig, denn als er sich bis auf wenige Schritte genähert hatte, schwangen beide Flügel des Tores wie von Geisterhand auf, und Mark blickte in die blendend weiße Sonne, die von zahlreichen Goldkronen reflektiert wurden.
„Ich habe dir doch gesagt, dass hier keiner weg kommt, mein Junge!“
Resigniert ließ Mark die Schultern und den Kopf nach vorne sacken. Einen einzigen wehmütigen Blick warf er zurück und blickte auf Raoul, der sich langsam wieder in Bewegung setzte und nach Norden lief. Vermutlich zurück zu seinem Herrn in Tolentino.
Mit hängenden Armen und ausdruckslosem Gesicht ging Mark an Miguel vorbei, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. Als er das Tor durchschritten hatte, schloss es sich ebenso geheimnisvoll, wie es sich zuvor geöffnet hatte, und er mischte sich unter das Ameisenvolk, das geschäftig über den großen Platz in der Mitte des Dorfes lief.

Noch bevor der große Kastenwagen vor dem General Hospital in El Paso zum stehen kam, rannten Dr. Jeffry, ein Assistenzarzt und eine Schwester auf den Innenhof, um den Patienten entgegen zu nehmen. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel, und keiner der drei hatte große Lust auf einen Notfall. Die klimatisierten Räume des OP Aufenthaltsraumes waren wesentlich angenehmer, als Jemanden in der Notfallaufnahme versorgen zu müssen, aber das war nun mal ihr Job.
„Und, was bringt ihr heute wieder“, fragte Dr. Jeffry leicht genervt.
Während zwei Rettungssanitäter damit beschäftigt waren einen Mann auf einer Trage aus dem Wagen zu balancieren, trat der Rettungsarzt an den Diensthabenden heran.
„Mann, mittleres Alter, vermutlich Mitte dreißig, Ausweispapiere hatte er nicht dabei. Die Mexikaner haben ihn kurz hinter Tolentino aufgesammelt und uns gerufen, weil sie fester Meinung sind, dass er Amerikaner ist.“
„Naja, wie ein Mexikaner sieht er auch nicht unbedingt aus“, entgegnete Jeffry.
„Wie auch immer. Wir haben ihn bewusstlos aufgefunden. Pupillendifferenz, Druck bei 180 zu 110, Frequenz bei 50. Als wir ihn her gefahren haben ist er kurzzeitig zu Bewusstsein gekommen und hat irgendwas von einem Miguel und Zombies erzählt. Das hat ihn fürchterlich aufgeregt. Wir haben ihm 20 Milligram Diazepam i.v. gegeben und mussten ihn dann leider beatmen.“
Jeffry starrte noch genervter, als er es ohnehin schon war, auf den Tubus, der aus dem Mund des jungen Mannes ragte und durch einen langen Plastikschlauch mit einem Beatmungsgerät verbunden war, dass einer der Rettungssanitäter mit fast grober Gewalt aus seiner Verankerung des Wagens entfernte.
„Weiterhin hat er Paresen“, fuhr der Rettungsarzt fort, „hauptsächlich den rechten Arm betreffend. Den konnte er gar nicht bewegen. Mittlere bis schwere Sprachstörungen, aber die können auch erst gekommen sein, als wir ihm das Diazepam gegeben haben.“
„Herrlich“, grunzte Jeffry und ging seine Diagnosen im Kopf durch, „Schlaganfall?“
„Würde ich nicht drauf tippen. Blutdruck und Puls weisen eher auf eine Hirndrucksymptomatik hin. Dazu die Halluzinationen... Vielleicht eine Blutung.“
„Oder ein Tumor“, ergänzte Jeffry und wies seinen Assistenten und die Schwester an, den Patienten ins Gebäude zu bringen.
„Wie dem auch sei“, rief er ihnen zu, „ruft mal oben durch und sagt denen, dass sie ihn durch den Kernspintomographen schieben sollen.“
„Wird gemacht“, entgegnete sein Assistent fast gut gelaunt und grinste breit. Eine Reihe goldfarbener Kronen blitzte Dr. Jeffry entgegen, dann verschwand der Patient zusammen mit Schwester Angela und seinem Assistenten Miguel El Sanchoz im Inneren des Gebäudes.

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Tag der Veröffentlichung: 26.09.2008

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