Torgan kickte das Gehölz weg, das ihm den Weg versperrte, ging in die Hocke und tastete prüfend, ob das Gras unter ihm halbwegs trocken war. Dann ließ er sich mit einem Stöhnen auf den Hosenboden fallen und nahm einen großen Schluck aus seinem Krug mit Met. Das süße Gesöff ran seine Kehle herunter wie Öl und hinterließ eine mollige Wärme auf dem Weg in seinen kleinen Zwergenbauch. Eigentlich unnötig, denn das letzte was er gerade brauchte, war Wärme. Innerlich kochte er vor Zorn. Es war Mainacht, und er saß ganz allein im Dunkeln auf der Wiese, während seine Freunde es sich wahrscheinlich im Festzelt gut gehen ließen.
Er überlegte, wer diesen dümmlichen Streit überhaupt angefangen hatte, er oder einer seiner Kumpanen. Das Denken fiel ihm, allein schon bedingt durch seinen Metkonsum, äußerst schwer, tatsächlich konnte er sich nicht einmal daran erinnern, um was es in dem Disput überhaupt ging.
„Bei Goras!“, fluchte er, während er seine zweischneidige Axt aus dem Gurt zog und sie wutentbrannt dem nächstliegenden Baum entgegen schleuderte. Mit einem hämmernden „Plonk“ bohrte sich die scharfe Kante der Waffe in den Baum.
„Verflucht!“
Torgan stand mit einem weiteren Ächzen auf, trottete mit gesenktem Kopf und nach vorne gebeugten Schultern zu dem Baum und zog seine Axt heraus. Nachdem er sie wieder in seinem Gurt festgeschnallt hatte, ließ er sich wieder ins Gras plumpsen und stieß einige weitere Zwergenflüche aus, die einem Menschen vermutlich die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätten.
Das sollte also nun seine Mainacht sein? Allein in einem Park, während alle anderen des Dorfes ausgelassen feierten? Sein Zorn machte kurzzeitig Platz für ein wenig Selbstmitleid und Trauer. Trauer, weil er nicht zusammen mit seinen Freunden feiern konnte, so wie es sich für eine Gruppe kühner Abenteurer gehörte. Fast wäre ihm eine Träne über die Wange gekullert, aber trotz des Gefühls, von allen Freunden verlassen worden zu sein, drängte er die Traurigkeit zur Seite. Normalerweise gelang ihm das am Besten durch Wut, nur konnte er diese nicht permanent am Lodern halten. Er war schon seit früh morgens wütend, da noch richtig, voller Impulsivität. Nun, viele Stunden später, fehlte ihm neuer Zündstoff. Aber das sollte nicht das Problem sein.
Wieder durchfuhr ein Ächzen die Stille der Nacht, als er sich erhob, seine Hose glatt strich und mit kleinen, schnellen Schritten in Richtung Festzelt ging. Je näher er kam, desto lauter wurde die Musik, und als er nur noch 20 Fuß von dem Zelt entfernt war, konnte er durch die Auslassungen in der Zeltwand Menschen sehen, die tanzten, lachte, sich unterhielten und Met tranken.
Das erinnerte ihn wieder an etwas. Er nahm einen weiteren, viel zu großen Schluck aus seinem Krug, verschluckte sich fürchterlich, was seinen Zorn wieder anfachte. Sehr gut. Er trappelte weiter und erreichte das Zelt. Neugierig und voller Neid warf er einen heimlichen Blick durch das Loch in der Zeltplane. Und dann sah er sie. Cogan und Cerebrae, zwei seiner besten Kumpanen, saßen an einem Tisch, zusammen mit einem Zwerg und einem Elf, und schienen sich bei einem Würfelspiel bestens zu amüsieren. In der Mainacht kam nicht einmal die übliche Missgunst zwischen Zwergen und Elfen zum Vorschein.
Torgan fühlte sich besser, als die Wut in ihm wieder aufloderte. Die Wut über seine Freunde, sie feierten, während er alleine draußen rumstand, niemanden hatte, mit der er lachen, reden oder einen Schaukampf austragen konnte. Er ließ sich wieder auf den Boden fallen, dieses mal, ohne zu testen, ob das Gras unter ihm Nass war, und seine Gedanken zogen weite Kreise. Er sah sich selbst mit seinen Kumpanen, vor vier Sonnenwenden, als sie zusammen die Metkrüge hoben und Eintracht, Ehrlichkeit und Freundschaft schworen. Was war davon geblieben? Nichts!
„Fiiieeep!“
Das Seeschweinchen riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte nicht bemerkt, wie es durch das Gras an ihn herangeschlichen war und nun auf beiden Hinterbeinen vor ihm stand und mit einem herzzerreissenden Fiepen um Futter bettelte. Torgan griff in seine Innentasche, in der er immer eine kleine Stärkung bei sich trug. Er zog zwei Erdnüsse hervor, legte sie vor dem Seeschweinchen ins Gras und für einen Augenblick war sein Zorn verschwunden. Voller Freude beobachtete er, wie das kleine Tier die Nuss nahm, sie mit den spitzen Nagezähnen knackte und sich über die Innereien hermachte. Genauso hektisch wie das Tier seine Nahrung verschlang, machte es sich, ohne einen Wort der Dankbarkeit zu verschwenden, auf und davon.
„Hey, warte“, rief Torgan, sprang auf um sofort darauf das Gleichgewicht zu verlieren und wieder auf dem Hosenboden zu landen. Er fluchte, versuchte die Wirkung des Met zu ignorieren, und als er fest auf beiden Beinen stand, rannte er in die Richtung, in die das Seeschweinchen verschwunden war.
Sein untrügbarer Geruchssinn führte in auf die gegenüberliegende Seite des Zeltes, auf der er fast mit einer Person zusammengestoßen wäre, die dort im Schatten eines Trägerbalkens verweilte.
„Bei Goras“, fluchte er erneut, verstummte aber sofort, als er in das Antlitz der Person blickte. „Tadaros? Was machst Du hier?“, fragte er seinen Freund, der ja eigentlich nicht mehr sein Freund war, weil sie sich ja so fürchterlich gestritten hatten.
Tadaros erschrak kaum und drehte sich gemächlich zu Torgan um. „Oh, Torgan, ich habe mich schon gefragt, wo du den ganzen Abend über steckst.“ In seinen Worten lag eine Melancholie, die selbst der Zwerg nicht überhören konnte. Dennoch, wollte er sich nicht die Blöße geben, das Kriegsbeil von seiner Seite aus zu begraben. Also versuchte er einen möglichst trotzigen Tonfall anzuschlagen, was ihm nicht sonderlich schwer fiel. Schließlich war er ein Zwerg.
„Gehe spazieren!“
„Oh.“ Tadaros schien nicht sonderlich überrascht. „Ich dachte, du würdest den Abend mit uns zusammen verbringen.“
Ein verächtliches Grunzen rutsche über die Lippen des Zwerges, als er seinen Freund anraunzte. „Ich glaube, ihr kommt auch ganz gut ohne mich zurecht da drinnen.“
„Mag sein.“
„Siehst Du!“
„Dennoch ist es nicht das Gleiche.“ Tadaros fügte eine daramturgische Pause ein. Er kannte Torgan und wusste, dass man ihm manchmal ein paar Sekunden geben musste, um über einen Satz nachzudenken. „Natürlich amüsieren wir uns, was bleibt uns denn anderes übrig in der Mainacht. Das heißt aber nicht, dass du uns gleichgültig bist, oder, dass wir nicht an dich denken.“
„Pft.“ Torgan wollte beleidigt klingen, aber so richtig funktionierte es nicht. „Wenn ihr mit mir zusammen die Mainacht hättet verbringen wollen, dann hättet ihr mich gefragt.“
Auf Tadaros Gesicht erschien ein Lächeln. Allerdings beruhte das weniger auf Fröhlichkeit. Es war ein melancholisches Lächeln, dem eine ganze Reihe von Gedankengängen zugrunde lagen.
„Mein kleiner Freund“, began Tadaros und blickte dem Zwerg tief in die Augen, „glaub nicht, dass du der einzige bist, der so etwas wie stolz kennt!“
„Ich bin nicht stolz“, erwiderte der Zwerg, „ich bin einfach nur stinkwütend“. Allerdings klangen seine Worte bei Weitem nicht mehr so zornig, wie sie noch vor einer halben Stunde geklungen hätten. „Wir hatten eine Schwur, vor vier Sonnenwenden, und ihr haltet euch nicht daran!“
„Eintracht, Ehrlichkeit und Freundschaft?“, fragte Tadaros?
„Genau!“
Der gut gebaute Mensch, der fast einen Meter größer war als Torgan, machte einen Schritt auf denselben zu und legte ihm den Arm auf die Schulter.
„Dann komm mit rein. Wir können das Maifest zwar auch ohne dich feiern, aber irgendwie fehlt dann etwas.“
Tadaros hob seinen Metkrug und hielt ihn Torgan prostend vor die Nase. Einen Augenblick überlegte Torgan. Er war immer noch sauer. Dennoch. Da drinnen waren seine Freunde, die ihn vier Sonnenwenden, trotz seines starrköpfigen Verhaltens, immer wieder den Rücken gedeckt und ihn als wahren Freund behandelt hatten. Er hob seinen kleinen Arm und musste sich ein wenig strecken, damit er seinen Krug gegen den seines Freundes schlagen konnte. Das Met schwappte über die Ränder der Trinkgefäße und bespritzte Torgans Gesicht, aber nicht einmal das konnte ihm jetzt die Laune verderben.
„Eintracht, Ehrlichkeit und Freundschaft“, sagte Tadaros, führte den Krug an seinen Mund und nahm einen großen Schluck.
„Eintracht, Ehrlichkeit und Freundschaft“, wiederholte sein ungleicher Freund, trank, und fast wäre ihm eine Träne über die Wange gekullert, als er, Arm in Arm, mit Tadaros das Festzelt betrat.
Aber nur fast – schließlich hat auch ein Zwerg seinen Stolz.
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2008
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