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Es war der erste warme Tag des Jahres, und Manuela genoss die Strahlen der Sonne, die sich langsam aber sicher dem Horizont entgegen schob und den Park in ein tieforanges Leuchten tauchte. Die meisten Sonnenanbeter hatten sich schon auf den Nachhauseweg gemacht. Nur noch vereinzelt kamen ihr ein paar schweißüberströmte Jogger und Männer in Businessanzügen von der Stange entgegen. Tief in Gedanken versunken, schlenderte sie den Kiesweg entlang und bemerkte die alte Frau nicht, die allein auf der Parkbank saß. Als sie bereits an der Bank vorbei gelaufen war und die krächzende Stimme hörte, zuckte sie zusammen und wirbelte herum.
„Oh, entschuldigen sie. Ich habe sie überhaupt nicht hier sitzen sehen.“
Die alte Frau blickte ihr mit einem verzeihenden Blick und einem freundlichen Lächeln entgegen. Ihr Gesicht wirkte abgemagert, und ihr schütternes Haar, welches durch ein ein Haarband, das locker aus der Hippie-Zeit hätte stammen können, zusammengehalten wurde, förderte nicht unbedingt das Aussahen von Jugendlichkeit in ihr. Ihr Kleid schien eine Mischung aus Bademantel, knallbuntem Guru-Mantel und Hauskleid zu sein. Es hatte definitiv schon bessere Tage gesehen. Neben den zahlreichen Schmutzflecken, die es zierten, fielen Manuela einige Stellen ins Auge, die so durchgescheuert waren, dass die Haut der Frau durchschimmerte. Dennoch kam sie ihr nicht vor wie eine Obdachlose, die sich selbst verwahrlosen ließ.
„Das macht nichts, mein Kind. Setz dich doch zu mir. Ich kann dir die Karten legen.“ Wie zur Untermalung hob sie mit zitternder Hand einen Kartenstapel in die Höhe und hielt ihn Manuela vor die Nase, als würde es sich um ein seltenes Relikt aus der Steinzeit handeln.
Zögernd schüttelte Manuela den Kopf. „Nein, danke, ich bin ein wenig in Eile“, sagte sie. Die Frau war ihr trotz des Lächeln, oder vielleicht gerade wegen ihres Lächelns, unheimlich.
„Tatsächlich?“, frage die Frau mit einem Blick, der aussagte, dass sie es besser wusste. „Ich dachte, du würdest einfach ein wenig durch den Park spazieren.“ Sie machte eine kleine Pause und schüttelte den Kopf. „Wirklich. Du kommst mir nicht vor, als wärst du in Eile.“
Manuela fühlte sich ertappt und spürte, wie ihre Wangen die Farbe von überreifen Tomaten annahmen. Sie blieb auf dem Absatz stehen und drehte sich zu der Frau um, hoffend, dass die Röte in ihrem Gesicht nicht allzu deutlich zu sehen war.
„Nicht richtig in Eile“, stotterte sie, „aber um ehrlich zu sein... ich glaube an diesen ganzen Kram nicht.“
„Kram?“ Die Stirn der Alten legte sich in Falten. „Was meinst du mit Kram?“
Manuela stöhnte innerlich auf und wandte sich ihr komplett zu. Nun war es ohnehin zu spät, um zu fliehen. Irgendwie verbot ihr das Gesetz der Höflichkeit, einfach davonzugehen, wo sie doch bereits ein Gespräch begonnen hatte. „Kram, ja, Kartenlegen, Kaffesatzlesen, mit Geistern kommunizieren und solche Dinge.“
Die Furchen auf der Stirn der alten Frau wurden noch tiefer und glichen nun fast den Kratern, die man auf den Teleskopaufnahmen des Mondes sehen konnte.
„Das ist kein Kram, mein Kind!“ Ihre Stimme strahlte Ärger aus, als sie weitersprach. „Das ist eine ernstzunehmende Wissenschaft. Und sie hat nichts mit Geistern zu tun.“
„Sorry“, antwortete Manuela mit einem leicht amüsierten Lächeln, „aber für mich ist das eben einfach nur Hokuspokus.“
„Mach, dass du verschwindest!“, schrie ihr die alte entgegen.
Manuela wollte gerade zu einem Satz ansetzen, um sie zu beruhigen, als sich die Alte nach unten beugte, einen Stein vom Boden aufhob und zum Wurf ansetzte. „Hau ab!“, wiederholte sie, holte aus und warf. Der Stein verfehlte Manuela nur um eine Haaresbreite. Auch wenn es nur ein kleiner Kiesel war, schmerzhaft wäre der Treffer sicherlich gewesen. Sie hatte genug von der Unterhaltung. Mit einem verächtlichen Laut drehte sie sich um und ging mit schnellen Schritten ihren Weg weiter, allerdings nicht, ohne dabei den Kopf noch einmal nach hinten zu drehen, um zu sehen, ob noch weitere Wurfgeschosse folgten.
Die Frau schien sich in ihre Wut hineinzusteigern. Sie sprang von der Bank auf, lief Manuela zwar nicht hinterher, trampelte aber vor Zorn tobend auf der Stelle herum.
„Hau ab, du undankbares MISTSTÜCK! Komm nie wieder in meine Nähe, sonst werde ich dir deine beschissenen Haare einzeln ausreisen.“
Es war schon sehr lange her, seit Manuela jemanden derart in Rage gesehen hatte. Weiterhin auf etwaige Steine achtend, beschleunigte sie ihre Schritte.
„Verzieh Dich! MISTSTÜCK! Und achte, verdammt nochmal, auf den beschissenen Mercedes!“ Mit diesen Worten bückte sich die Alte und hob erneut einen Stein vom Boden auf, dieses mal einen weit aus größeren als beim ersten mal. Manuela sah voller Entsetzen, wie ihr die Frau einige Schritte hinterhertorkelte und zu einem erneuten Wurf ausholte. Ohne darüber nachzudenken, begannen ihre Beine zu laufen. Sie drehte ihren Kopf wieder nach vorne, so dass sie das hassverzehrte Gesicht der Alten nicht sehen musste, und rannte, was das Zeug hielt. Ihr Herz arbeitete wie die Kolben einer Dampfmaschine, und auch als die Hexe bereits außer Sichtweite war, stoppte sie nicht, sondern rannte schnurrstarks über die von Maulwurfhügeln übersähte Wiese, schlug sich durch ein lichtes Gebüsch hindurch, wobei ihr ein Ast schmerzhaft ins Gesicht peitschte, und landete schließlich auf dem Bürgersteig am Rande des Parks. Sie lief weiter, drehte sich aber noch einmal um, nur um sicher zu gehen, dass sie die Alte wirklich abgehängt hatte. Sie sah niemanden mehr, der ihr folgte. Ihr Herzschlag wollte sich gerade wieder beruhigen, da hörte sie das Hupen, nur eine zehntel Sekunde später das Quietschen von Reifen, gepaart mit dem Gestank von verbrannten Gummi.
Ihr Herz setzte für einen Augenblick aus, um dann doppelt so schnell wie vorher weiterzuschlagen. Keinen halben Meter vor ihr war der blaue Mercedes zum stehen gekommen, und ein wutentbrannter, dicklicher Mann stürmte aus dem Wagen.
„Sind sie verrückt geworden?“, kreischte er.
Er rannte auf Manuela zu, nahm sie bei den Schultern und schüttelte sie einmal kräftig durch. Manuela war durch den Schreck noch wie gelähmt. Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie hätte tot sein können.
„Sie hätten tot sein können“, schrie der Mann sie an.
Mein Gott! Sie war so in ihrer Flucht vor der Alten gefangen gewesen, dass sie überhaupt nicht auf die Straße geachtet hatte. Dann kamen ihr wieder die Worte der alten Frau in den Sinn.
„Verzieh Dich! MISTSTÜCK! Und achte, verdammt nochmal, auf den beschissenen Mercedes!“
Wie gebannt starte sie auf den Stern, der die Motorhaube zierte.
„Scheiße“, entfuhr es ihr. “Scheiße, scheiße, scheiße!“ Ihr Stimme ging in ein Weinen über. Wieder griff der Autofahrer nach ihr, dieses mal aber nicht, um sie zu schütteln.
„Ist doch okay.“, versuchte er sie zu beruhigen. „Es ist ja nochmal gut gegangen.“
Manuelas Augen weiteten sich, als sie im Geiste wieder die alte Frau sah, die ihr die Warnung vor dem Mercedes entgegen geschleudert hatte. Mit einem Ruck riss sie sich von dem Mann los und began wieder zu rennen. Dieses mal zurück in den Park. Sie hatte keine Ahnung, welcher Teufel sie ritt. Sie wusste nur, dass die alte Frau die Wahrheit gesagt hatte. Sie wusste, was passieren würde. Sie war verflucht worden! Manuela war sich völlig bewusst darüber, dass das was sie tat, völlig verrückt war. Die Alte hatte Funken gesprüht vor Wut, und dennoch machte sie sich auf den Weg zurück zu ihr. Es war fast so, als wäre sie nicht mehr Herr ihrer Sinne. Je näher sie der Bank kam, auf der die Alte gesessen hatte, desto ängstlicher wurde sie. Sie rannte in ihr eigenes Verderben. Als sie wenige Sekunden später am Ort des Geschehens ankam, senkte sich wieder Ruhe über sie. Die Bank war leer, die alte Frau spurlos verschwunden. Nur der Stapel mit Tarotkarten auf der Bank zeugten davon, dass bis vor kurzem überhaupt jemand hier gewesen war.

Als Manuela zu Hause ankam, machte sie sich nicht die Mühe, ihre Schuhe und Jacke auszuziehen, sondern ließ sich, geistig völlig erschöpft, in ihren Korbsessel fallen und schloss die Augen. Der Nachmittag sollte eigentlich ein ruhiger, entspannter Augenblick werden. Die Szene mit der alten Frau lief in ihrem Kopf ab, die unbändige Wut in ihrem Gesicht, der blaue Mercedes und der dicke Mann. Es fiel ihr schwer loszulassen. Immer wieder tauchten die Bilder auf, und schließlich... Richtig.. sie öffnete den Reissverschluß ihrer Jacke und kramte darin herum. Zwischen Kaugummis, Lippenstift, ihrem Haustürschlüssel und einem Kugelschreiber fand sie das kleine Päckchen mit den Tarotkarten und zog es heraus.
Warum hatte sie die Karten überhaupt eingesteckt? Während sie das Deckblatt betrachtete, tauchte wieder das Gesicht der alten Frau in ihrem Kopf auf, und ein seltsames Gefühl beschlich sie.
„Und es ist doch Hokuspokus“, sagte Manuela zu sich selbst und nahm willkürlich eine Karte aus dem Stapel heraus. Die Karte zeigte einen jungen Mann, der mit einer Art Toga bekleidet war und schlafend auf der Seite lag. In seiner Hand hielt er ein Schwert. Ein schwarzer Rabe, der auf seinem rechten Knie saß, schien seinen Schlaf zu bewachen. Unter der Karte prangte in gotischen Buchstaben „Die Vier der Schwerter“
Warum vier? Manuela stutzte und betrachtete die Karte genauer. Sie hatte nicht sonderlich viel Ahnung von solchen Dingen, aber irgendwie hatte sie erwartete, vier statt nur einem Schwert zu sehen.
Je länger sie die Karte betrachtete, desto mehr Details fielen ihr auf. Das gotische Gewölbe im Hintergrund, das durch ein Licht, welches vom Boden zu kommen schien, beleuchtet wurde, das rote Laken, auf dem der Jüngling lag und die kunstvollen Verzierungen des Bettes. Mehr und mehr wurde sie in den Bann der Karte gezogen. Und dann begannen die Veränderungen. Die Farbe wich aus dem roten Bettlaken und es wurde weiß, auch die bläulich leuchtenden Wände nahmen eine bleichen Ton an. Der Mann schien sich zu bewegen. Zuerst sah es so aus, als würde er aus einem tiefen Schlaf erwachen und sich recken und strecken, doch mit einem Mal flog der Rabe nach oben, aus dem Bild heraus und das Schwert fiel auf den Boden und zerbrach in tausend Splitter. Obwohl sich das alles nur in ihrem Kopf abspielte, hatte sie das Gefühl, dass sie das Zerspringen der Scherben hören konnte.
Das Strecken des jungen Mannes wurde zu einem Zucken. Mit einem Ruck wirbelte er herum, so dass sie sein schmerzverzerrtes Gesicht sehen konnte. Der Schreck machte aus Manuelas Gesicht eine teuflische Fratze. Ihr Herz blieb einen Augenblick stehen und sie hatte das Gefühl, dass tausend Nadeln ihre Kopfhaut malträtierten. Der Mann auf dem Bild war ihr Freund Thomas. Mit einem leisen Aufschrei ließ sie die Karten auf den Boden fallen und spürte, wie ihr Puls langsam wieder einsetzte.
„Nein.“
Die Karten waren allesamt auf die Bildseite gefallen, nur die „Vier der Schwerter“ lag auf dem Rücken und zeigte trotzig ihren Inhalt. Einen Mann in einer Toga, der schlafend auf einem roten Bettlaken lag und von einem Raben bewacht wurde.
„Das gibt’s doch nicht“, stöhnte Manuela und griff nach der Karte.
Genau in dem Moment, als ihre Finger die Karte berührte, spürte sie ein Kribbeln in der Leistengegend. Ein weiterer Aufschrei entfuhr ihr, doch dann bemerkte sie, dass es nur ihr Handy war, das in ihrer Hosentasche steckte und still vor sich hin klingelte. Zum Glück. In diesem Augenblick war das Klingeln der Weg zurück in die reale Welt. Achtlos ließ sie die Karte auf den Boden fallen und fingerte in ihrer Hosentasche herum. Ohne auf das Display zu sehen, nahm sie das Gespräch an.
„Ja, hallo?“
Eine schrecklich nervöse Stimme meldete sich, und Manuela brauchte einige Sekunden, bis sie die Stimme ihrer besten Freundin Kaja erkannte. „Hi, wo bist Du gerade, Manu? Kannst du vorbeikommen? Es ist schrecklich? Sag, wo bist du? Thomas ist hier!“ Die Sätze sprudelten nur so aus ihr heraus.
„Kaja?“
„Ja. Sag, kannst du möglichst schnell vorbei kommen?“
„Wenn du mir auch noch sagst, wohin ich kommen soll, dann kann ich das sicherlich einrichten.“ Manuela war erstaunt über den Ton ihrer Freundin. Sonst war Kaja ziemlich selbstbeherrscht und ließ sich durch nichts so schnell aus der Ruhe bringen, aber nun schien sie vor Aufregung gerade zu bersten. Dann erst realisierte sie, was Kaja gesagt hatte. „Thomas? Was ist mit Thomas?“ Die Angst griff nach ihr. „Ist etwas passiert?“
„Ja, komm schnell. Ich bin im Krankenhaus, Thomas auch. Er ist... Unfall.. da war ein Mercedes, der... komm her, ich muss aufhören, die Ärzte bringen ihn gerade aus dem OP. Komm her, aber mach schnell.“
Kaja legte ohne eine weitere Verabschiedung auf.
„Shit!“
Nun kam es ihr zugute, dass sie ihre Jacke und Schuhe noch nicht ausgezogen hatte. Mit einem schnellen Handgriff sah sie nach, ob sie ihren Schlüssel eingesteckt hatte und hechtete zur Haustür. Als sie diese fast erreicht hatte, stockte sie einen Augenblick. Ohne darüber nachzudenken, lief sie zurück ins Wohnzimmer, las die Karten vom Boden auf und verstaute sie ebenfalls in ihrer Jackentasche.

Die Straßen im Feierabendverkehr waren verdammt voll, so dass der Taxifahrer fast zwanzig Minuten bis zum städtischen Klinikum brauchte. Nachdem sie angekommen war und den Pförtner nach der Station und dem Zimmer ihres Freundes gefragt hatte, stürmte sie mit hastigen Schritten die Treppe hinauf, betrat die chirurgische Station im dritten Stock und ging schnellen Schrittes den Flur entlang, immer nach der Zimmernummer 3.14 suchend.
Da! Endlich. Ohne zu klopfen stürmte sie ins Zimmer und war fast überrascht, ihren Freund schon wieder wach, aber mit zahlreichen Schürfwunden im Gesicht und einem langen, weißen Verband, der sich vom Fußknöchel bis zum Oberschenkel hochzog, im Bett liegen zu sehen.
„Mein Gott, Thomas“, rief sie, stürzte zu ihm ans Bett und warf sich ihm an den Hals, so dass ihm fast die Luft weg blieb. „Es tut mir so leid. Es ist alles meine Schuld, bitte verzeih mir.“
Thomas, der völlig überrumpelt von Manuelas Besuch war, versuchte sich aus der leicht quetschenden Lage seiner Freundin zu befreien und sah ihr in die Augen. „Hallo, Schatz!“ Dann gab er ihr einen Kuss auf den Mund und lächelte sie an. „Danke, dass Du gekommen bist, aber du brauchst dir keine Sorgen machen. Es ist nicht viel passiert. Die Ärzte haben meinen Unterschenkel genagelt und meinten, dass ich in Kürze schon wieder selber aufstehen kann, und dass es keine bleibenden Schäden hinterlassen wird.“
Sanft streichelte er über ihr Haar. Er spürte, welche Sorgen sie sich machte und wollte sie beruhigen.
„Nein“, entgegnete Manuela, „du verstehst das nicht.“ Wortlos setzte sie sich auf, kramt in ihrer Jackentasche und zog das Tarotkartenspiel heraus. Thomas sah es verwirrt an.
„Und, was hat das nun mit mir zu tun?“
„Ich kann es dir nicht sagen“, flüsterte sie, „aber heute war ein furchtbarer Tag.“
Sie überlegte krampfhaft, wo sie mit ihrer Erklärung anfangen sollte. Bei dem Spaziergang im Park? Bei dem Fluch der alten Frau? Dem Mercedes? Der Vision, die sie zu Hause in ihrem Korbsessel hatte? Hoffnungslos senkte sie die Augen und blätterte den Kartenstapel durch. Als sie die „Neun der Münzen“ erblickte, hielt ihre Hand inne. Die Frau auf dem Bild trug weiße Locken und ein mittelalterliches Barockkleid und grinste sie wissend an. Sie stand am Rande einer kleinen Felsformation, während im Hintergrund eine Burg, oder ein Schloss zu sehen war. Eigentlich wäre das Bild völlig unauffällig gewesen, wenn es nicht plötzlich, wie schon die „Vier der Schwerter“ bei Manuela zu Hause, seine Form und Farben geändert hätte. Die Burg im Hintergrund flimmerte, fast so als würde man an einem heißen Sommertag auf eine Straße blicken, von der die sengende Hitze aufstieg. Sie veränderte sich. Auf einmal sahen die Mauern viel moderner aus. Das ganze Gebäude wurde in die Länge gezogen, und... ja, plötzlich war es keine Burg mehr, sondern ein perfektes Abbild, des Krankenhauses, in dem sie sich befand.
Manuelas Augen starrten wie gebannt auf die Karte, und sie nahm Thomas nicht mehr war. „Was ist los, Manu?“
Er nahm ihre Hand und drückte sie, wollte einfach nur, dass sie ihn wieder ansah. Aber Manuela konnte den Blick einfach nicht abwenden. Das Abbild der Frau began sich ebenfalls zu verändern. Sie blieb weiter vor der kleinen Felsformation stehen, aber das lange Kleid mit Rüschen mutierte langsam zu normaler Straßenkleidung des 21. Jahrhunderts. Enge Jeans, auf der Vorderseite der Oberschenkel weiß ausgewaschen, verdeckten die schlanken Beine der Frau. Als Oberteil trug sie ein modisches Top in einem dezenten Blau. Ihre Haare wurden länger. Dünn, glatt und rotblond. In Manuelas Kopf arbeitete es wie in einer Fabrik. Sie kannte dieses Haar, ein Name lag ihr auf der Zunge, wollte aber beim besten Willen nicht über ihre Lippen kommen. Erst als sich die Gesichtszüge der Frau anpassten, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
„Tanja!“, rief sie entsetzt, und genauso erstaunt und überrascht antwortete ihr Freund, der froh war, dass sie überhaupt etwas sagte. „Was?“
„Du triffst dich noch mit ihr! Du triffst dich immer noch mit dieser Frau! Mit dieser Tanja“
„Was?“
Manuela sprang von Bett auf und herrschte ihn an. „Gib es zu! Die Sache mit Tanja läuft immer noch. Hinter meinem Rücken!“
Thomas machte ein ungläubiges Gesicht und schüttelte verständnislos den Kopf, aber Manuela ignorierte das völlig. Eine tiefe Wut ergriff sie. Wut, gepaart mit maßloser Enttäuschung. „Du hast gesagt, es ist vorbei mit ihr!“ Tränen stiegen in ihre Augen, die sie nur mit Mühe zurückhalten konnte. „War das nun alles gelogen?“
Thomas schüttelte erneut den Kopf. Er war unfähig zu reden, so sehr überraschte ihn der plötzliche und völlig unerwartete Angriff seiner Freundin. Dann, eine halbe Ewigkeit später, brachte er endlich etwas hervor. „Manu, du spinnst. Wie kommst du jetzt auf Tanja.“
Er versuchte die Hand von Manuela zu greifen, aber diese zog sich zurück.
„Manu! Es läuft nichts mehr zwischen uns! Ehrlich! Glaubst du, ich lüge dich an?“
Wie eine Antwort auf seine Frage, klopfte es an die Tür, und nach einem kurzen Warten, wurde die Klinke heruntergedrückt, und eine rotblonde Frau betrat den Raum. In ihrer rechten Hand hielt sie einen Strauß mit roten Rosen. Zischend sog Manuela die Luft zwischen den Zähnen ein und war kurz davor zu explodieren.
Tanja stand im Türrahmen und betrachtete die Szene. Thomas, der mit fragendem Gesicht im Bett lag, seine Freundin, die wutschnaubend an ihr vorbeirannte, sie derbe anrempelte, so dass sie das Gleichgewicht verlor und gegen den Türrahmen taumelte. Die Schritte von Manuela halten in dem langen Gang der Station und wurden mit einem lauten Krachen der Stationstür erstickt.

Der Bus bog um die Ecke und ließ das Krankenhaus aus Manuelas Blickfeld verschwinden. Sie saß fast alleine in dem riesigen Gefährt und wusste nicht, ob sie traurig oder wütend sein sollte. Eigentlich war sie beides gleichzeitig und doch nichts von alldem. Die Tarotkarten ruhten in ihren Händen.
„Hokuspokus“, flüsterte sie leise vor sich hin. War es das wirklich? Oder konnten die Karten doch die Zukunft voraussagen? Oder war es viel schlimmer als das? Vielleicht sagten die Karten nicht einfach die Zukunft voraus, sondern manipulierten diese.
Sie teilte den Stapel in zwei gleichgroße Hälften und war dabei, sich die aufgedeckte Karte des unteren Stapels anzusehen. Doch dann durchfuhr sie ein Gedanke. Sie saß in einem Bus! Was wäre, wenn die Karte ein Busunglück zeigen würde? Blitzschnell legte sie die beiden Stapel wieder aufeinander und verstaute sie wieder in ihrer Tasche. Sie war sich nicht sicher, wer an dem ganzen Übel schuld war? Die alte Frau aus dem Park, oder sie selbst, weil sie diese verdammten Karten mitgenommen hatte. Sie öffnete den Müllbehälter, der mit der Wand des Busses verschraubt war, und warf das Spiel weg. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Schon als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss, hatte sie das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Da war aber noch mehr. Das Gefühl von Hilflosigkeit. Das Gefühl, dass man seinem Schicksal nicht entkommen konnte, und dass es tatsächlich Mächte in diesem Universum gab, die über dem Menschen standen. Manuela wusste nicht, wieso sie all diese Emotionen beschlichen, als sie ihre Wohnung betrat. Leicht benommen streifte sie ihre Jacke ab, zog ihre Schuhe aus, die sie achtlos in die Ecke im Flur stellte und ging in die Küche um sich Wasser für einen Tee aufzusetzen.
Ihre Gedanken waren leer. Es erschien ihr zu anstrengend über Thomas nachzudenken, über den Unfall oder über die Tarotkarten. Nachdem sie eine Tasse bereitgestellt und einen Teebeutel hineingehängt hatte, setze sie sich an den Cocktailtisch und wartete, bis der Wasserkocher seine Arbeit beendet hatte. Das Wasser umspülte den Teebeutel und nahm sofort eine rötliche Farbe an. Zusammen mit der Tasse und einem Tellerchen, auf dem sie normalerweise den ausgedrückten Teebeutel ablegte, ging sie ins Wohnzimmer, platzierte ihren Tee auf dem Tisch, lies sich in ihren gemütlichen Korbsessel fallen und ergriff die Tarotkarten, die wie durch Geisterhand wieder auf ihrem Tisch lagen.
Selbst darüber wollte sie sich keine Gedanken machen. Sie hatte die Karten weggeworfen, nun waren sie hier. All das bestätigte nur ihr Gefühl, das sie beim Betreten der Wohnung hatte, das Gefühl, dass etwas Mächtiges diese Welt einhüllte, und dass sie und all die anderen Menschen lediglich Marionetten in einem Spiel dieser Wesen waren.
Gedankenverloren blätterte sie die Karten durch. Sie sah die „Zwei der Stäbe“. Eine Frau, die auf einem Weg ging, der geradewegs zu einem Burgtor führte. Die Karte veränderte sich nicht langsam. Das war scheinbar gar nicht mehr notwendig. Mittlerweile konnte Manuela den Sinn der Karten ohne die Hilfe der mächtigen Wesen deuten, und zwar blitzschnell. Das Gesicht der Frau schien dem ihrer Freundin täuschend ähnlich zu sehen, und die Burg war ihre eigene Wohnung. Sie legte die Karte beiseite und zog eine weitere aus dem Stapel. Der Narr. Nur die Silhouette eines Menschen, der leichtsinnig und sorglos auf einem Dachgiebel wanderte. Manuela sah ganz deutlich die Unachtsamkeit, auf welche die Karte hinwies. Es würde ein Missgeschick passieren, welches, das war noch unklar. Auf der nächsten Karte war die Hohepriesterin zu sehen. Eine kalt dreinblickende Frau, mit einer Art Zepter oder Zauberstab in der Hand, mit dem sie große Macht auszuüben schien. Blitzschnell änderte sich das Gesicht und spiegelte die Züge ihrer Freundin wieder.
Sie war gerade dabei die nächste Karte zu ziehen, als es an der Tür läutete. Natürlich. Das hatten die Karten ja bereits gesagt: Ihre Freundin war auf dem Weg zu ihr. Sie warf die Karten auf den Tisch und sprang auf, um die Tür zu öffnen. Unachtsam wie ein Narr. Auch das hatten die Karten ihr schon gesagt. Ihr Knie knallte gegen den Glastisch und ein höllischer Schmerz schoss durch ihr Bein, als die Teetasse umkippte und sich die kochend heiße Flüssigkeit über ihren Oberschenkel ergoss. Humpelnd, und vor Schmerz fluchend, ging sie zur Tür, betätigte den Summer und öffnete die Etagentür ein Stück weit, so dass ihre Freundin Kaja die Wohnung betreten könnte. Sie selbst ging in die Küche und nahm, immer noch vor Schmerz fluchend, eine Rolle Küchenpapier, um ihre Hose zu trocknen. Der Schmerz ließ langsam wieder nach, und sie machte sich, bewaffnet mit der Rolle aus Küchenpapier, auf den Weg ins Wohnzimmer, um die Resultate ihrer eigenen Ungeschicklichkeit zu beseitigen.
Sie hatte gerade die letzten Teereste vom Boden aufgewischt, als sie hörte, wie die Tür geschlossen wurde. Kaja trat ins Wohnzimmer ein, ging wortlos zu ihrer Freundin und nahm sie in den Arm.
„Mensch, Manu, ich bin wirklich froh, dass mit Thomas nichts Schlimmeres passiert ist.“
„Ja“, entgegnete Manuela einsilbig. „Ich auch.“
Kaja löste die Umarmung und sah sie an. „Ist irgendwas nicht in Ordnung?“
„Wieso? Sehe ich so aus, als sei etwas nicht in Ordnung?“
Kaja presste ihre Lippen zusammen und versuchte vorwurfsvoll auszusehen. „Hey, wenn dich was bedrückt, dann sag es! Ist mit Thomas alles in Ordnung?“
Manuela hob die Papierreste vom Boden hoch und wandte sich zur Küche. „Ich bin gleich wieder da“, sagte sie, „setz dich, ich will nur schnell das Zeug hier wegschmeißen“.
Sie ging in die Küche und entsorgte die Küchentücher. Als sie zurück ins Wohnzimmer ging, sah sie, wie sich Kaja in ihrem Korbsessel niedergelassen hatte. Sie griff nach den Tarotkarten auf dem Tisch und Manuela stockte für eine Sekunde der Atem.
„Nein! Nicht!“, mit einem Sprung war sie bei ihrer Freundin, aber diese hatte die Karten bereits aufgehoben und blätterte sie interessiert durch.
„Oh, Tartotkarten! Ich wusste gar nicht, dass du dich für so einen Hokuspokus interessierst“.
Der Versuch, Kaja die Karten aus der Hand zu reißen, schlug fehl. Ihre Freundin wich elegant aus und durchsuchte den Stapel weiter.
„Guck mal. Die Frau hier sieht haargenau aus wie du, findest du nicht?“
Voller Entsetzen blickte Manuela auf den „König der Münzen“. Eine Auslage schmückte das Bild, wie sie für teure Ringe verwendet wird, aber auf dem Kissen des Podestes lag nicht ein Ring oder ein Armband, sondern ein Totenschädel, dessen Knochen bleich schimmerten. Innerhalb von Sekundenbruchteilen began das Bild zu verschwimmen. Das Flimmer heißer Luft schien den Raum zu erfüllen. Der Schädel wurde von langem, brünetten Haar geziert, Fleisch schien wie von Geisterhand auf dem glatten Knochen zu wachsen, und nur wenige Sekundenbruchteile später blickte Manuela in ihr eigenes Antlitz, gebannt auf eine Tarotkarte.
„Mein Gott“, flüsterte Kaja, doch ihre Worte gingen in einem bedrohlichen Knarren unter.
Eiseskälte kroch unter die Kleidung von Manuela, als das Geräusch lauter wurde. Das Quietschen schien von überall zu kommen. Von unten, von oben, die Wände schienen es widerhallen zu lassen, aber vielleicht existierte es auch einfach nur in ihrem eigenen Kopf.
Kopf!
Das war das letzte Wort, das sich durch ihr Gehirn brannte, dann wurde jegliches Gefühl, jeder Gedanke und andere Sinneseindruck abgelöst durch tiefe Dunkelheit, durch das süße Nichts und durch die Schwerelosigkeit des Vergessens.

Kaja blickte auf den leblosen Körper der Frau, die sie einmal ihre Freundin genannte hatte. Der spitze Holzbalken des Lampenträgers ragte aus Manuelas Kopf, der abnormal verdreht auf ihrer Schultern zu sitzen schien. Die Zimmerdecke wurde von einem großen Loch geziert. Kaja wusste nicht, wie das ganze funktionierte, aber als sie die Karte entdeckt hatte, wusste sie, dass es funktionieren würde. Erneut blickte sie auf den „König der Münzen“ und sah, wie die junge Frau, die ihrer Freundin so täuschend ähnlich sah, in ihrem eigenen Blut am Boden lag. Der Kronleuchter, der scheinbar von der Decke gefallen war, hatte sich durch ihren Kopf gebohrt.
Eine Blutlache trat aus der Öffnung in Manuelas Schädel aus und bildete eine Lache auf dem Wohnzimmerboden.
„Warum hast du nicht auf mich gehört, als ich dir damals gesagt habe, dass du mir niemals im Weg stehen solltest“, fragte sie den Leichnam, der vor ihr auf dem Boden lag. „Du hättest dir damit so viel Ärger ersparen können.“
Kaja packte die Tarotkarten, stopfte sie in ihre Jackentasche und verließ schweigend die Wohnung.

Noch bevor sie den Klingelknopf drücken konnte, wurde die Tür geöffnet. Die alte Frau mit dem Kleid und dem Haarband, das stark an die Hippiezeit der 60er Jahre erinnerte, lächelte Kaja freundlich an.
„Und?“, fragte sie, „ist alles gut gegangen?“
Kaja fiel der Alten um den Hals. „Ja, Oma, alles klar. Sie ist tot. Niemand steht mir jetzt noch im Weg.“
„Außer dir selbst vielleicht“, entgegnete ihre Großmutter mit einem leicht verbitterten Gesichtsausdruck. „Die Tatsache, dass du nun keine Konkurrentin mehr hast, bedeutet noch lange nicht, dass du ihren Freund ohne einen Kampf bekommst.“
Kaja sah ihre Großmutter enttäuscht an. Sie kramte in ihrer Jackentasche, zog das Tarotspiel heraus und legte es in die fordernde Hand der Frau.
„Komm“, sagte diese, während sie das Spiel in eine Seitentasche ihres Kleides gleiten ließ, „Tarot ist nur eine Macht, die uns gegeben wurde. Nun zeige ich dir, wie du wirklich überzeugende Liebestränke herstellen kannst.“
Die Alte legte lächelnd den Arm um die Schulter ihrer Enkeltochter und zog sie in das kleine Haus hinein. Noch bevor sich die Tür schloss, huschte ein Schatten, ein Nebel, etwas nicht Greifbares an den beiden Hexen vorbei und drang in das Haus ein. Hätten sie genau hingesehen, so hätten sie vielleicht das wutverzerrte Gesicht von Manuela gesehen, das sich irgendwo in dem formlosen Brei des Schattens versteckt hielt.

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Tag der Veröffentlichung: 26.09.2008

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