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Die Rotkäppchen-Utopie


Es war einmal ein Designerkind, das allenthalben sehr beliebt war, da es für den technologischen Fortschritt der Menschheit stand. Seine Mutter hatte sich ein blondes, blauäuigiges Mädchen mit zarter Stimme und weicher Haut gewünscht. Dank Genmanipulation und einem guten Preis für die Behandlung brachte sie beinahe exakt ein solches auf die Welt. Beinahe nur, da dem Mädchen keine Haare wuchsen. Trotz Kostenrückerstattung ein bedauerlicher Fehler.
Die Oma des kleinen Designerkahlkopfs liebte es dennoch über alles und schenkte ihr eines Tages ein rotes Käppchen, damit es seine Haarlosigkeit bedecken konnte. Das kleine Mädchen war begeistert und wollte von diesem Tage an nichts anderes mehr tragen, weshalb sie allenthalben als das Rotkäppchen bezeichnet wurde.
Eines Tages sagte die Mutter zum Rotkäppchen: "Hier hast du eine Pille mit Kuchen und eine mit Weingeschmack. Bring sie der Großmutter. Sie ist krank und schwach und wird daran ihre Freude haben. Aber geh nicht wieder in die Nähe des Antimateriekraftwerks. Du weißt doch, dass es wissenschaftlich bewiesen ist, dass es deinem Kunstherzen schadet."
"Jaja, werde ich schon nicht." sagte Rotkäppchen und rollte entnervt mit den Augen.
Sie nahm die beiden Pillen, die ihr die Mutter entgegenstreckte und wandelte die momentane dreidimensionale Form mittels ihres Dimensionswandlers, der aus einem kleinen Touchscreen bestand in zweidimensionale Information um. So waren die Pillen nun platzsparend in dem praktischen kleinen Gerät gespeichert und konnten jederzeit wieder in einen dreidimensionalen Körper umgewandelt werden.
Die Großmutter wohnte auf einem erst kürzlich kolonialisierten Planeten einer zum Großteil noch unbekannten Galaxie im Paralleluniversum X386. In diese Galaxie sollten möglichst viele alte Leute umgesiedelt werden um die Produktionskraft anderer Planeten zu erhöhen, ohne von der sozialen Last der Rentner negativ beeinflusst zu werden.
Rotkäppchen war dank ihrer Kurzstreckenteleportschuhe schnell an einem flexiblen Wurmloch angekommen, welches eine 80 % - Verbindung mit X386 versprach. Sicher waren Verbindungen ab 60 %, also bestand hier keine Gefahr an einem anderen Ort herauszukommen, als man eigentlich wollte. Ein wirklich unschöner Nebeneffekt von Wurmlöchern der ersten Generation.
Rotkäppchen kalibrierte also das Wurmloch und trat hindurch. Sie spürte kurz das typische Kribbeln am ganzen Körpern, welches immer dann auftrat, wenn man die Raumzeit zu einer Veränderung ihres geometrischen Aufbaus zwang. Kaum hatte das Kribbeln begonnen, endete es auch schon wieder und das Designermädchen mit der roten Kappe stand in einem imaginären Wald. Genau genommen war er ein dreidimensionales Hologramm, erschaffen um einen Eindruck von der natürlichen Schönheit des so genannten Urplaneten Erde zu erzeugen. Vor mehreren tausend Jahren sollen dort angeblich die Menschen gelebt haben, bevor sie damals ihre Expansion und Kolonialisierung des nur einen bekannten Universums begonnen hatten.
Als Rotkäppchen nun so durch den Hologrammwald lief, begegnete ihr eine intelligente, auf diesem Planeten einheimische Spezies, die dem auf der Erde früher lebenden Wolf sehr ähnlich sah.
"Guten Tag, Rotkäppchen!" sagte er.
"Ebenso, Wolf!"
"Wohin gehst du so früh, Rotkäppchen?"
"Zu meiner Großmutter."
"Und was für ein Ding hast du da in deiner Hand?"
"Einen Dimensionswandler. Damit bringe ich der Großmutter eine Wein- und eine Kuchenpille."
"Rotkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?"
"Noch ungefähr 15 Minuten diesen Weg entlang. Im Garten steht ein großer Müll-Dematerialisierer der älteren Sorte." antwortete Rotkäppchen.
Der Wolf dachte sich: "Das Rotkäppchen gibt bestimmt eine leckere Mahlzeit ab, als seine Großmutter. Irgendwie muss ich es schaffen beide zu schnappen."
Nun ging er ein Stück neben Rotkäppchen entlang, dann sagte er: "Rotkäppchen, sieh doch mal wie schön dieses Hologramm ist. Die bunten Blumen. Man kann sogar Vögel singen hören. Ein wirkliche Meisterleistung der Programmierer. Aber du gehst einfach so vor dich hin und siehst die technische Meisterleistung gar nicht, die ihr Menschen hier geschaffen habt."
Rotkäppchen sah sich um und als es die Sonnenstrahlen erblickte, erzeugt mittels Photonenlasern, und die variantenreich gestalteten Blumen, dachte sie: "Ein paar Blumen auf meinen Dimensionswandler speichern und der Großmutter mitbringen … da wird sie sich bestimmt freuen." lief vom Weg in den Wald hinein um sich die schönsten Blumen auszusuchen. Aber kaum hatte sie eine schöne gefunden, von der sie gerade eine 2D-Kopie anfertigen wollte, da befand sie eine andere als noch hübscher und lief so immer tiefer in den Wald hinein.
Der Wolf ging derweilen schnellstmöglich zum Haus der Großmutter und klopfte an ihre Tür.
"Wer ist da draußen?"
"Rotkäppchen, ich bringe dir eine Pille Wein und eine Pille Kuchen."
"Dann komm herein!" sagte die Großmutter.
Die Tür hatte einen Sprachmelder und öffnete sich deshalb automatisch, was sie immer tat, wenn die Großmutter "Komm rein" sagte. Der Wolf ging ohne zu zögern auf die Großmutter zu, welche in ihrem Bett lag und verschlang sie. Dann zog er sich einige ihrer Klamotten an, wobei er sich ehrlich gesagt nicht ganz wohl fühlte, legte sich in ihr Bett und klatschte einmal mit den Händen woraufhin sich das künstliche Panoramabild im Fenster in das nächste gespeicherte Bild verwandelte. In diesem Fall ein klarer Sternenhimmel, der das Zimmer in dunkle Schatten tauchte.
Das Rotkäppchen hatte inzwischen so viele Blumen kopiert und abgespeichert, dass der Dimensionswandler schon ganz heiß gelaufen war, da fiel ihr die Großmutter ein und sie machte sich auf den Weg zu ihrem Haus. Sie wunderte sich, dass die Wohnungstür offen stand und als sie eintrat überkam sie ein recht unbehagliches Gefühl.
"Guten Morgen, Großmutter!" rief sie, bekam aber keine Antwort.
Also ging sie geradewegs zum Bett klatschte in die Hände wodurch wieder ein zufälliges Panoramabild erschien, welches den Raum deutlich stärker ausleuchtete. Die Großmutter hatte sich ihre altmodische, hässlich Haube tief ins Gesicht gezogen und sah ganz seltsam aus.
"Oh je, Großmutter, was hast du für große Ohren?"
"Gerade neue machen lassen. So kann ich noch mehr Frequenzen wahrnehmen und sogar das Radioprogramm empfangen."
"Aha. Aber was sind das für große Augen?"
"Auch neu. Damit kann ich mehr Farben wahrnehmen und sogar Gesehenes abspeichern und später im Zeitraffer abspielen."
"Und warum hast du so große Hände?"
"Ach, die haben nur ein wenig unerwartet auf die neue Magnetseife reagiert. Ein kleiner technischer Fehler. Nichts ernstes."
"Ach … und warum hast du dieses entsetzlich große Maul?"
"Damit lassen sich Menschen einfach viel entspannter verspeisen."
Kaum hatte der Wolf das gesagt, sprang er aus dem Bett und verschluckte das verwirrte Rotkäppchen. Zufrieden legte er sich zurück ins Bett und fing an zu schlafen.
In diesem Moment ging ein Robocop an dem Haus der Großmutter vorbei. Seine Sensoren schlugen sofort Alarm. Bis eben hatte er noch deutlich das Signal eines Mikrochips empfangen, der per gesetzlicher Verordnung jedem Menschen, direkt nach der Geburt, implantiert wurde. Von irgendetwas wurde das Signal gestört und so lokalisierte der Robocop aus den gesammelten Daten, den Ort von dem aus der Chip zum letzten mal gesendet hatte und schwebte mittels Antigravitationsantrieb, binnen Sekunden, in das Haus der Großmutter, wo er eine nicht menschliche Spezies vorfand, die sich schlafend auf dem Bett der Großmutter räkelte. Der Robocop schaltete seinen Röntgenstrahler ein und scante den Wolf. Kaum erschloss er aus den Daten, dass sich zwei Menschen im Innern des Wolfes befinden mussten, machte er sich auch schon ans Werk und fing an, den Bauch mittels winziger Präzisionslaser aufzuschneiden. Nach kurzer Zeit sprang ihm das Rotkäppchen entgegen und keuchte: "Mein Gott, habe ich mich erschrocken. Da drinnen war es ja zappenduster." Und kurz darauf wurde auch die Großmutter aus des Wolfes Bauch befreit, woraufhin sie ganz schön nach Luft ringen musste.
Der Robocop war gerade dabei dem Wolf eine Jacke aus schwerem und ultrasicherem Nanomaterial anzulegen, da erwachte der Wolf plötzlich, sprang auf und wollte sich davonmachen. Doch der Retter schwebte ihm blitzschnell hinterher und erzeugte mittels zweier seltsam aussehender Antennen ein Schwarzes Loch im Garten der Großmutter, welches sich direkt vor dem Wolf öffnete. Der arme Kerl hatte es noch gar nicht richtig realisiert, da war er schon über den Ereignishorizont gelaufen und wurde unweigerlich in das finstere Monstrum gesogen. Aufgrund der an seinen Beinen immer stärker werden Gravitationskraft wurde er schlussendlich auseinandergerissen. Kaum war dies passiert verschwand das Schwarze Loch auch schon wieder und der Robocop klackte zufrieden mit seinen Antennen, soweit man eine Maschine als zufrieden bezeichnen konnte.
Das Rotkäppchen und seine Großmutter verbrachten den Rest des Tages noch sehr vergnüglich und die Großmutter aß die nun wieder dreidimensionalen Pillen, welche ihr übrigens vorzüglich schmeckten und erholte sich von dem Schock. Rotkäppchen aber dachte sich nur: "Ein Glück, das es unseren technischen Fortschritt gibt. Ohne den wären wir beide verloren gewesen."

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Tag der Veröffentlichung: 17.08.2012

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