Alpha O’Droma
Abenteuer eines Globetrottels
Die Mutter aller Reisetagebücher
Für Dirk Roß
Naja, eigentlich schrieb ich den Schinken hier für einen guten Zweck, deshalb ist nur die Widmung für dich, mein lieber Globetrottelbuddy.
Wie ich dich kenne, kannst du gut damit leben.
Die Verkaufserlöse gehen zu 100 Prozent an:
Copyright Alpha O’Droma 1990 – 2020
Cover by KateBono.com
Vorwort
Als Kind war ich ein Stubenhocker und Bücherwurm, las wirklich viel von fernen Orten jenseits meines Kinderzimmers und auch wenn ich noch kein Fernweh entwickelt hatte, so doch einen gewissen Ehrgeiz. Ähnlich wie der junge Anakin Skywalker, der Qui-Gon Jinn fragte, wie viele Sterne es im Universum wohl gäbe. Eine Menge. Und im Überschwang kindlicher Euphorie erklärt Anakin: „Ich will der Erste sein, der alle besucht!“
Als ich diese Szene sah, blickte ich in einen Spiegel. Das war ich als kleiner Junge.
Wir sind auch damals schon gereist. Im Käfer meines Stiefvaters nach Warmensteinach. In Sommerreifen bei Eis und Schnee driftend die Serpentinen zum Hotel rauf. Oder sogar nach Österreich! Zu fünft! Olle Icke hinten zwischen Onkel Herrmann und Tante Helga eingeklemmt, Taschen im Genick und auf dem Schoß, weil unter die Fronthaube des Käfers nicht viel mehr als ein Koffer passte. Und alle vier starke Raucher. Normal in den 60ern und 70ern. Aber wir sind verreist. Das war damals schon was.
In meiner Jugend dann das Übliche. Europa mit Interrail entdecken oder mit einem alten Bedford Blitz durch Italien und den Balkan zuckeln, Wochenende in Amsterdam oder Christiania, das war schon spannend, aber was war mit der großen, weiten Welt, von der ich immer geträumt hatte?
Ganz einfach: Dafür fehlte mir die Kohle.
Und so erlebte ich eine wilde Jugend in der wilden Mauerstadt Berlin, wo das Geld immer gerade so für die Miete reichte, und wäre diese Mauer 1989 nicht gefallen, wer weiß, was aus mir geworden wäre.
Ich verkaufte unter Tränen meine umfangreiche Plattensammlung und was ich sonst noch besaß auf dem Polenmarkt am Potsdamer Platz, damals eine lehmige Brache, sparte 3.100 Mark zusammen und so passte im Juli 1990 alles, was ich besaß, in einen Rucksack. Was für ein befreiendes Gefühl! Los ging es, meine erste große Reise begann und sie sollte fast ein Jahr dauern, doch lest selbst.
Meine frühen Reisejahre werde ich anhand kurzer Geschichten in loser Folge abhandeln, denn damals schrieb ich relativ wenig und führte noch kein Reisetagebuch.
9. July 1990. Olle Icke mit Pornobalken. Mann, sah das scheiße aus! Es waren die 90er, wir wussten es nicht besser. Immerhin: Einen Tag später sollte ich der bunteste Mensch in ganz Moskau sein.
Die WM 1990 war Geschichte. Am 9 Juli, genau einen Tag nach Brehmes Elfer, fuhr mein Zug. Tickets hatte ich am Ostbahnhof für 480 Ostmark gekauft, die ich in der U-Bahn 1:20 getauscht hatte: Berlin - Moskau - Ulan Bator - Peking für 24 Westmark, da kann man nicht meckern. Im Zug nach Moskau lernte ich einen Pianisten kennen, Sergei. Er sprach fließend Deutsch und versicherte mir, das Erlernen dieser Sprache sei Bestandteil der Ausbildung aller klassischen Musiker in der Sowjetunion. Wir hatten die polnische Grenze noch nicht erreicht, da bestand er schon darauf, ich müsse seine Einladung annehmen, bei ihm in Moskau zu wohnen.
Die Russen sind ein ungemein gastfreundliches Volk, bodenständig, erdig und von herzlichem Humor. Bis zur Abfahrt des Transsibirienexpresses hatte ich fünf Tage Zeit, die Sergei nutzte, mir Moskau zu zeigen. Wir fuhren in seinem kleinen Moskvich durch die Stadt. Bei jedem Stop wurden Radkappen und Scheibenwischer sorgfältig abmontiert, denn, so erklärte Sergei mir, sie würden sich unbeaufsichtigt sofort dematerialisieren und Ersatz zu bekommen, dauerte wenigstens 6 Monate. Um einen Platz in einem der wenigen akzeptablen Restaurants zu ergattern, musste man sich an der Warteschlange vorbeidrängen und seine Reservierung, ein kleines graugrünes Papier mit dem Bild George Washingtons, dem Türsteher überreichen. Überhaupt sah man Schlangen vor vielen Geschäften, Wodka war vor zwei Tagen rationiert worden, so dass es logischerweise in ganz Moskau keinen Zucker mehr zu kaufen gab - die Russen sind auch ein erfinderisches Volk. Ich besichtigte Lenin in seinem Edelholzsarg mit gläsernen Seitenwänden, ein kleiner friedlich schlafender Mann, dem man nur an den Ohrläppchen und den dunklen Fingernägeln ansah, dass er schon etwas länger schlief, den Kreml mit seinen vielen Kirchen (vor Stalin sollen es dreimal so viele gewesen sein), die „Matthias Rust Brücke“ - so nennen sie die Moskowiter! - und den Djerschinski Platz, umgeben von KGB-Gebäuden, in deren Kellern man 1990 noch fleißig verhörte und folterte, denn Djerschinskis Reiterdenkmal stand noch.
Einmal flanierten wir über den Karl Marx Prospekt, jene Prachtstraße, die zum Kreml führt und mir fiel ein ausgebrannter Dachstuhl auf. "Da befand sich eine linke Zeitung, die Kommunisten haben sie angezündet" Im weiteren Verlauf des Gespräches erfuhr ich, dass die Altkommunisten um Ligatschow die Rechten waren, die Reformer um Gorbatschow die Linken. Das verwirrte mein westlich geprägtes Weltbild einigermaßen und ich will hier Sergeis Antwort zusammenfassen, die ich nach wie vor für die beste Definition von links und rechts halte, die ich jemals hören sollte. Auch die Russen beziehen sich indirekt auf die Sitzordnung in der Paulskirche, nur betrachten sie die Begriffe nicht parteipolitisch oder ideologisch wie wir, sondern eher systemisch: Die Linken sind immer die Reformer, die Revolutionäre, die Rechten die Konservativen bis hin zu den Revanchisten. Er sagte einen Satz, den ich nie vergessen werde: "Linke schauen nach vorn, sind progressiv, auf die Zukunft gerichtet, Rechte schauen zurück und wollen die Vergangenheit wieder, im besten Falle sind sie konservativ und wollen, dass alles bleibt, wie es ist." - besser kann man es nicht auf den Punkt bringen.
Es war eine unglaublich politische Zeit. Gerade fand in der Duma der große Parteitag der KPDSU statt und die Debatten wurden zum ersten Mal live im TV übertragen. Ein Nebeneffekt war, dass die über 1000 Limousinen, welche die über 1000 Parteimitglieder morgens zur Duma fuhren und abends abholten, den ganzen Tag Zeit hatten, was für Moskaubesucher von Vorteil war, denn zumindest ich habe nirgendwo ein russisches Taxi entdecken können. Aber man brauchte auch keins, man hob einfach am Straßenrand den Arm und irgendein Auto hielt. In meinem Falle eine schwarze Limo mir unbekannter Bauart, aber als elektrische Fensterheber (!) die zentimeterdicke und zweifelsohne kugelsichere Seitenscheibe leise surrend hinab gleiten ließen und den Blick auf das von edlem Wurzelgehölz und cremefarbenem Speckleder dominierte Interieur freigaben, wusste ich, dass der Panzer einem hohen Parteifunktionär gehörte. Soviet-Communism in a nutshell.
"Where?", lautete die Frage, "Gum" die Antwort.
Heute erstrahlt diese Perle des russischen Historismus restauriert in altem Glanze. 1990 hingegen waren die drei von klassizistischen Glasbögen überdachten Arkadengänge in grün, rot und blau gestrichen, wirkten aber aufgrund der merkwürdigen Plaka-Farbtöne trotzdem nicht bunt, sondern irgendwie verblichen. In den Längsgängen reihte sich damals wie heute Geschäft an Geschäft, nur existierten weiland ausschließlich Bekleidungs- und Schuhgeschäfte, die ALLE exakt die gleiche Ware anboten. Einzige Ausnahme waren ein Fotoladen, wo ich mich billig mit Filmen eindecken wollte, doch Farbfilme waren aus, es gab nur Schwarzweiß, und einen Zigarettenhändler, der westliche Marken wie Peter Stuyvesant, HB und Ende mit 23 anbot - mit 12 Dollar die Stange minimal billiger als in Berlin. Umgerechnet in Rubel entsprach der Preis dem durchschnittlichen Monatseinkommen eines Russen.
Meine pekuniäre Power wurde mir beim Umrechnen immer wieder bewusst, so engagierte ich aus Spaß ein Streichquartett, das auf dem Roten Platz spielte. Tatsächlich sprachen sie allesamt Deutsch, Sergei hatte nicht geflunkert. In drei Tagen auf der Straße, so informierten sie mich, machten sie mehr Geld als ihnen das Bolschoi im Monat zahlte (ja, DAS Bolschoi-Theater), doch sie liebten ihren Job und verrichteten ihn eher wegen der Reputation - und weil man eine Wohnung in der Innenstadt zugewiesen bekam.
Zwar verspürte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihnen nur 10 Dollar anbot, doch ich war Budget-Traveler. Sie schlugen sofort ein und folgten mir zu Sergeis Haus, einem Altbau, nur gut einen Kilometer vom Kreml entfernt den Karl Marx-Prospekt hoch. Dort kamen wir an einem, Park wäre jetzt übertrieben, einer Grünfläche von der Größe eines Häuserblocks vorbei. Dort standen mehrere hundert Menschen ordentlich in Zweierreihen an, ich glaube, es könnten über Tausend gewesen sein, denn die Schlange ging tatsächlich einmal um den "Park". Was denn los sei, fragte ich den Cellisten, der mir erklärte, dass heute und hier ein historisches Ereignis stattfände: die Eröffnung des ersten McDonalds in der Sowjetunion. Tatsächlich sah ich nur ein paar Dutzend Mägde in den branchenüblichen und meist zu engen Leibchen, die Flyer mit der Speisekarte verteilten, auf dass der Moskoviter schon mal staunen konnte, was der Ami so für einen Dreck frisst.
Vor Sergeis Butze platzierte ich mein Streichquartett unterhalb seines Balkons. Er wohnte im ersten Stock und hatte mir wie selbstverständlich einen Satz Schlüssel überlassen. Als ich den verdutzten Sergei auf seinen Balkon führte und die Streicher daraufhin zu spielen begannen, schossen ihm sofort die Tränen in die Augen. Er war überwältigt - damit hatte ich nicht gerechnet. To make a long story short: nach wenigen Stücken bat Sergei seine Berufskollegen hoch, servierte uns eine leckere Krautsuppe mit furchtbarem Brot, die Musiker verkündeten, sie hätten heute doppelt so viel verdient wie sonst (wieder schämte ich mich), es wurde den ganzen Abend musiziert, Sergei begleitete am Klavier, wir tranken eine Menge Wodka und es wurde viel geküsst.
Retrospektiv frage ich mich, ob diese ständige Küsserei der Russen irgendwie mit ihrer Homophobie zusammenhängt, dass die Vorstellung eines sexuellen Hintergedankens der absolute Horror für eine Gesellschaft ist, deren Männer sich in ausgelassener Stimmung gebärden wie freundlich-übergriffige Tunten auf dem CSD. Man weiß es nicht ...
Die fünf Tage gingen schnell vorüber und abgesehen von einer alten Babuschka, die mir gegen das Schienbein trat und „Nazi, Nazi!“ keifte, als sie mich Deutsch sprechen hörte, hatte ich eine schöne Zeit. Sergei brachte mich zum Zug, wobei wir am Bolschoi vorbei kamen, das in der Nähe des Fernbahnhofs liegt. Wir lächelten.
Zum Abschied umarmte und knutschte er mich nach russischer Art und alle Versuche, ihm ein paar von meinen Rubeln zukommen zu lassen, die ich doch so günstig auf dem Schwarzmarkt getauscht hatte, scheiterten an seinem beleidigten Schmollblick.
„Es gibt doch andere Menschen", dachte ich hoffnungsvoll, als ich mein Abteil betrat, „Spaciba!“
Das Abteil, in dem ich die nächste Woche verbringen sollte, maß zwei mal zwei Meter. Ein chinesisches Ehepaar und ein russischer Soldat waren meine Mitbewohner. Die Chinesen waren glücklich, denn sie kehrten nach 5 Jahren Arbeit in Moskau in ihre Heimat zurück. Der Soldat weniger, denn sein Jahresurlaub war vorbei und er sah weiteren 11 Monaten Dienst in Kamchatka entgegen. Die Fenster ließen sich nicht öffnen, so dass frische Luft Mangelware war. Alle ein bis zwei Tage hielt der Zug in größeren Städten wie Omsk oder Irkutsk und man hatte eine Stunde Zeit, sich die Beine zu vertreten, während Proviant eingeladen wurde. Nach einer Woche Borschtsuppe und chemisch schmeckender Limonade erreichten wir die Grenze zu China. In den vier Stunden Aufenthalt konnte man fasziniert beobachten, wie der Zug in eine Metallkonstruktion einfuhr, Mechaniker das Chassis lösten und Kräne jeden einzelnen Wagon anhoben und auf ein Radgestell mit schmalerer Spurbreite herabsenkten.
Nachdem unser Zug bereit war, die Reise auf den schmalen, chinesischen Schienen fortzusetzen, stiegen wir ein und fuhren durch von Chemikalien verätztes, wüstengleiches Niemandsland.
Die Chinesen veranstalteten wilde Tänze und Gesänge in den Korridoren und man sah die eine oder andere Träne, als der Zug die Grenze überquert hatte und dort in irgendeinen Provinzbahnhof einfuhr.
Höhepunkt des Tages jedoch, so war man sich einig, war die Ankopplung des chinesischen Speisewagons.
Insgesamt 480 Ostmark, also 24 Mark West oder 12 Euro kostete das Ticket Berlin-Warschau-Moskau-Peking.
Keine Ahnung, was die 66.20 bedeuten. Vielleicht den Reichsbahn-Anteil für die Teilstrecke nach Moskau.
China 1990 – absoluter Kulturschock! Am Bahnhof sah ich 8 Mann eine Fensterscheibe putzen, 4 auf jeder Seite. Sie rieben die Scheibe mit Zeitungspapier ab und ich begriff, dass in diesem Land Menschen billiger zu haben waren als Reinigungsmittel.
Eine Woche blieb ich dort, im Qiao Huan-Hotel im Südwesten Beijings, denn mich reizten viele Orte: der Sommerpalast, der Winterpalast, die verbotene Stadt und natürlich der Tiananmen-Square. Auf dem Weg zu diesem machte ich mich eines Tages, als ich plötzlich etwas Essenzielles über die Chinesen begriff. Das Leben in Peking war Kampf. Kampf ums Überleben. Kampf um einen Platz im Bus. Respekt vor dem Alter? Konnte ich nicht beobachten, ich sah vielmehr junge Männer, die alte Leute wegschubsten und diesem Behufe auch gern Ellenbogenchecks austeilten. Wir alle kennen die Bilder aus der Tokioter U-Bahn. Aber selbst wenn sie wie Vieh in völlig überfüllte Waggons geschoben werden, bleiben Japaner friedlich, freundlich und höflich. Nicht so Chinesen. Zufällig war nahe des Qiao Huan-Hotels die Endhaltestelle des Busses, der ins Stadtzentrum fuhr. Der Bus kam. Und er war leer. In so einem Gelenkbus befinden sich etwa 50 Sitz- und 50 Stehplätze. Das bedeutet, da passen locker 300 Chinesen rein. An der Haltestelle stand ein gutes Dutzend Chinesen und inklusive meiner Person drei Langnasen. Jeder hätte in dem leeren Bus zwischen jeweils vier Sitzplätzen wählen können. Doch als das Fahrzeug hielt und die Tür aufging, begann die Prügelei, wer zuerst einsteigt. Die hatten nicht mal geguckt, ob der Bus leer oder voll ist, der Vorgang des Drängelns, Schubsens und sogar des Austeilens war derart im Trott der Chinesen verankert, dass ich geschockt war. Doch sollte dies nicht der einzige Schock bleiben und bei Weitem nicht der schlimmste. Ob Kätzchen in einen Korb voller Kätzchen geworfen werden, wo nicht genug Platz ist, so dass man – wie bei einem vollen Koffer – solange presst, bis alles reinpasst (dieses Geräusch, als viele Katzenknochen brachen, werde ich nie vergessen – als ob man auf einen trockenen Ast tritt – die Schreie, es war furchtbar) oder der Waschbär, dem man eine Vorderpfote abgehackt hat, weil die sonst beißen und kratzen. Mit der Drahtschlinge war der Stumpf abgebunden und an diesem Draht baumelte der Waschbär in seiner Agonie von einer Querstrebe des Marktstandes wie ein trauriger Trostpreis auf dem Rummel. Ich könnte weiter vom Kaleidoskop des Horrors berichten, von Dingen, die so unvorstellbar grausam sind, dass sie beim Leser Übelkeit und Albträume auslösen, all das war China 1990. Doch ist das 30 Jahre her und nicht zielführend. Was auch nach 30 Jahren noch steht, sind die Verbotene Stadt und – ebenfalls am Platz des himmlischen Friedens – das Mausoleum von Mao. Der ist in einem fast baugleichen Sarg wie Lenin bestattet.
Made in GDR, Sicherheitsglas, gefüllt mit irgendeinem konservierendem Gas. Auch hier sah man die blauen Nagelbetten und Ohrläppchen, ansonsten jedoch einen friedlich schlafenden Mann. Die Verbotene Stadt sollte umgerechnet 18 Dollar Eintritt kosten, damals mein Budget für zwei bis drei Tage, also mischte ich mich unter eine amerikanische Reisegruppe und wurde mit durchgewinkt.
Doch darüber existieren Dokus und ich will euch nicht mit touristischem Kram langweilen, den man überall findet, deshalb gleich weiter zur nächsten Geschichte, die in Shanghai spielt.
Im Sommerpalast des Kaisers
In Shanghai gedachte ich, mir eine Schiffspassage nach Kanton, oder Guangzhou, wie es in China heißt, zu buchen. Als Westerner sollte ich in FEC bezahlen, das war die Ausländerwährung. Tatsächlich mussten Langnasen in einer eigenen Währung abdrücken, FEC bedeutete "Foreign Exchange Currency", während die Chinesen alles in Remimbi, genannt "Quai" latzten. Auf dem Schwarzmarkt tauschte man daher auch 100 FEC gegen 125-130 Quai, da die Chinesen 1990 Importwaren nur gegen FEC bekamen - zumindest wenn sie nicht hochrangiges Mitglied der kommunistischen Partei waren, also im Prinzip alles wie in der DDR oder der Sowjetunion. Die Russen waren dabei am dreistesten, sie setzten den Rubel 1:1 zum Dollar an. Dabei hatte ich in Berlin 1000 Rubel für 50 Mark getauscht. Ich erfuhr, dass ein Chinese nur umgerechnet 12 Dollar in Quai für die Schiffspassage zahlte, doch die Schifffahrtsgesellschaft verkaufte die Tickets an Langnasen wie mich nur zum Wucherpreis von 150 Dollar in FEC. Aber Traveler sind erfinderisch und Asiaten erst recht.
Von einem Engländer hörte ich, dass es einen Schwarzmarkthändler gab, der wirklich zuverlässig sei, man träfe ihn ganz einfach, indem man sich zur Mittagszeit auf eine bestimmte Bank am Bund setzte, das war die alte Hafenpromenade Shanghais, die, geprägt von Gebäuden im viktorianischen Stil, an alte Kolonialzeiten erinnerte. Also ging ich zur genannten Uhrzeit dorthin und setzte mich auf besagte Bank. Keine zwei Minuten vergingen, bis sich ein wieselgesichtiger Chinese mit einem kleinen Kofferradio auf das andere Ende der Bank setzte, ostentativ in eine andere Richtung schaute und dabei flüsterte: "You ticket where?"
Der Junge machte das wie in einem billigen Agentenfilm, also spielte ich mit und flüsterte "To Guangzhou one way ticket" zurück.
"Give me 20 Dollar, come back tomorrow same time!", lautete die Antwort, dabei stand er langsam auf. Ich kramte in meinem Moneybelt herum. Ich dachte, ich sollte in Quai bezahlen, doch ein Traveler hat immer ein paar Dollarnoten griffbereit. Den Euro gab es noch nicht und D-Mark wurden zwar überall gewechselt, doch als Zahlungsmittel war die Mark untauglich, es mussten Dollars sein. Ich fand zwei Zehner, während er umständlich an seinem Radio herum nestelte, auf der Suche nach einem bestimmten Kanal. Genau in dem Moment, als ich die 20 Dollar bereit hatte, fand er einen Sender und eine gequälte Frauenstimme jaulte eine Peking-Oper. Er ging an mir vorbei, hielt dabei die Hand offen, und ich übergab ihm die 20 Dollar, die er ohne von mir weiter Notiz zu nehmen griff, in seine Hosentasche steckte und in der Menge verschwand. Zufällig sah ich, wie zwei Typen mit Sonnenbrillen - ja, ich weiß, Klischee, aber die beiden sahen wirklich aus wie zwei Gangster aus einem Hong Kong-B-Movie - die die ganze Zeit in der Nähe gestanden hatten, losrannten. Mein mysteriöses Ticketwiesel war nämlich nur kurz in der Menge gelustwandelt, jetzt beobachtete ich, wie er über die belebte Straße sprintete und auf der anderen Seite in einer kleinen Gasse verschwand. Die beiden B-Movie-Darsteller verfolgten ihn.
Scheiße, dachte ich, auch wenn ich die 20 Dollar nie mehr wieder sah, man hatte mir dafür jedenfalls eine gute Show geboten.
Am nächsten Tag saß ich zur selben Uhrzeit wieder auf der Bank. Es dauerte eine halbe Stunde, bis der Ticketdealer mit dem Kofferradio auftauchte. Diesmal blieb er nicht sitzen, sondern ging an mir vorbei, wobei er "Follow me!" zischte. Konsterniert folgte ich ihm in einigem Abstand, bemüht, ihn in dem Gewimmel am Bund nicht zu verlieren. Wir überquerten die breite Uferpromenade und bogen in eine Seitenstraße ein. Die Häuserblocks waren hier riesig, aber von schmalen Gassen, gerade zwei Meter breit, durchzogen, überall standen Betten hochkant an den Wänden. Shanghai hatte 1990 bereits über 12 Millionen Einwohner (heute um die 20) und der Wohnraum reichte nicht. Nachts schliefen die Leute in Feldbetten auf dem Bürgersteig oder zusammengerollt in Hauseingängen. Mein Chinese blickte sich um, ich nahm das als Zeichen aufzuschließen, doch er zischte mich wieder an: "No! Police follow us. You come with me, but stay back" Nachdem wir abermals abgebogen waren, wagte ich einen Blick über die Schulter und tatsächlich: die beiden Laiendarsteller von gestern folgten uns. Sie sahen gar nicht wie Polizei aus, doch warum sollte es in China keine Zivilbullen geben?
Rechts von dem riesigen Häuserblock, den wir entlang gingen, befand sich eine der beschriebenen schmalen Gassen, der Chinese bog plötzlich dort ab und rief: "RUN!", sobald wir um die Ecke waren. Dann rannten wir durch diese schmalen Gassen. Habt ihr mal den Blade Runner gesehen? Die Verfolgungsszene in Chinatown? So ging es ab, nur ohne Neonreklame. Die Gebäude waren hier mindestens zehn Stockwerke hoch und über uns spannten sich Wäscheleinen, so dass, obwohl es Mittagszeit war, so gut wie kein Tageslicht nach unten drang. Überall standen Betten hochkant und Mülltonnen dazwischen. Schlafende und Betrunkene lungerten hier herum, über die wir hinweg sprangen, was dem ganzen eine surreale, obschon unheimliche Note verlieh, rechts und links bogen wir ab, hier gab es Noodle Soup, in einer anderen Gasse verkaufte jemand stinkenden Fisch, der an Haken von der unverputzten Wand baumelte, und obwohl ich das Ganze aufsog und irgendwie genoss, weil es so abgefahren war, fühlte ich mich dennoch ein wenig wie Orpheus in der Unterwelt. Verfolgt zu werden, hat immer etwas Bedrohliches.
Als wir um die vierte Ecke gerannt waren, kamen wir an eine Stelle, wo sich zwei Gassen kreuzten. Heruntergekommene Prostituierte lehnten hier an den Wänden und wurden prompt geschäftstüchtig, als sie eine zahlungskräftige Langnase erblickten. Doch zum Glück entging ich ihrem Werben schnell, denn der Typ drückte mir das Ticket in die Hand, deutete in eine Gasse: "You go this way!", grinste mich an und keulte in die entgegengesetzte Richtung.
Lange Zeit zum Überlegen blieb mir nicht, ich rannte in die Richtung, die er mir zugewiesen hatte und gelangte nach etwa 100 Metern wieder auf eine Hauptstraße, wo ich in der Menge untertauchen konnte. Das dachte ich zumindest. Mit 1.90 Meter Körpergröße überragte ich alle anderen Passanten um 30 Zentimeter im Schnitt, und als ich die Hafengegend verlassen hatte und in Richtung meines Hotels schlenderte, blickte ich über die Schulter und sah die beiden chinesischen Zivilbullen an meinen Fersen. Im ersten Moment war ich beunruhigt, denn schließlich war von den Bullen hops genommen zu werden das Letzte, was man in Asien wollte, doch dann entspannte ich mich. 1990 war ein Jahr nach dem Massaker am Tia Na Men Square, wo nicht nur Hunderte Demonstranten für eine Demokratisierung Chinas vom Militär niedergemetzelt worden waren - das war nur die Spitze des Eisberges - nein, alle Demonstranten waren gefilmt worden - an den Laternenpfälen der Innenstadt befanden sich nämlich nicht nur Lautsprecher, die morgens und abends um 6 laut die Nationalhymne spielten und zwischendrin Marschmusik, sondern auch Kameras. Es waren Hundertausende gewesen, die dort demonstriert hatten, hauptsächlich Pekinger Studenten, also die intellektuelle Elite. Wir wissen ja, was totalitäre Systeme gern mit ihren intellektuellen Eliten machen. Jedenfalls, so berichteten mir Studenten heimlich, wurden 5.000 so genannte Politkommissare abgestellt, um die Bilder auszuwerten. Sie druckten die Aufnahmen aus und nahmen sich die einzelnen Gesichter vor. Und dann wurde nach Student Nummer 478 in Reihe 144 so lange gesucht, in Studentenjahrbüchern, Ausweis-Karteien, Führerscheinfotos, bis man den Mann oder die Frau gefunden hatte. Dann wurde er oder sie verhaftet und kehrte nie wieder zurück. Heute ist ganz China zugepflastert mit Videokameras und Gesichtserkennungssoftware derart fortgeschritten, dass im Prinzip das ganze Volk überwacht ist, doch ich schweife ab.
Zehntausende von Studenten verschwanden in den Wochen nach dem Massaker, was dazu führte, dass deren Familien aus Trotz kleine Schnapsflaschen auf die Straße warfen. Überall in Peking waren die Straßen von Glas übersät, der stille Protest einer durch Militärgewalt verängstigten Bevölkerung. Aber warum kleine Flaschen?
Der 1. Vorsitzende der Kommunistischen Einheitspartei Chinas und somit auch der Regierungschef, der für das Massaker verantwortlich war, hieß Deng Xiao Ping und sein Name bedeutete "Kleine Flasche" - seit diesem Tage ein Schimpfwort.
Im Jahr nach Tia Na Men war China extrem bemüht, seinen Ruf im Westen wieder aufzupolieren. Außerdem war das Land 1990 Ausrichter der Asien Games, der asiatischen Olympiade quasi und sowohl Bürokraten als auch Militär und Polizei waren per Befehl von ganz oben angehalten, freundlich zu Langnasen zu sein und vor allem niemanden mehr in der Öffentlichkeit zu verprügeln. Eingedenk dieser Tatsache ging ich an meinem Hotel vorbei und kaufte mir 100 Meter weiter an einem Stand ein Bier. In China trinkt der preisbewusste Traveler nur Bier. Eine kleine Cola kostete als Importware unverschämte zwei Dollar, aber eine große Flasche Bier (0.64 Liter, ein komisches Maß aber in China nun mal Standard) keine 25 Cent. Und das Bier ist mit das beste in Asien, denn der Chinese, der nichts so gerne klaut wie westliches Know How, produzierte das Bier selbst - unter der Anleitung deutscher und tschechischer Braumeister und - glaubt es oder nicht - nach deutschem Reinheitsgebot, während fast überall sonst in Asien mit Formaldehyd und andrem Dreck gepanscht wird. Da erkennt man den starken Trinker an der weißlich verfärbten Zunge. Ich kaufte mir ein kühles Bier und machte kehrt, so dass ich nun den beiden mich verfolgenden Zivilbullen direkt entgegen spazierte. Als ich sie erreichte hatte, prostete ich ihnen freundlich zu: "Ganbei!", woraufhin sie heftig erschraken. Das erheiterte mich sehr und so ging ich lachend zurück zu meinem Hotel. Die beiden stellten die Verfolgung ein.
Zwei Tage später lief mein Schiff aus. Ich hatte mein Ticket an der Rezeption vorgezeigt, denn ich traute dem winzigen Pappstreifen nicht, der aussah wie die Kinoeintrittskarten, die wir damals in den 70ern und 80ern hatten: zwei mal vier Zentimeter bunte Pappe mit einer perforierten Ecke zum Abreißen und darauf stand nur "Zoo Palast Unterrang", naja, die Älteren wissen noch, was ich meine.
Alles, was der Schwarzmarktchinese mir gegeben hatte, war dieser alberne Pappschnipsel, auf dem irgendwas in Mandarin gedruckt war, doch die Rezeption setzte mich in Kenntnis, dass es tatsächlich um ein Ticket nach Guangshou handelte und dass der Pott übermorgen um 15 Uhr an Kai Nummer soundso ablegte. Ergo packte ich zwei Tage später meinen Rucksack und machte mich auf zu Kai Nummer soundso, die Nummer habe ich vergessen, aber sie war dreistellig, denn der Hafen von Shanghai war damals schon der größte der Welt, auch wenn Rotterdam dies bestritt.
Irgendwie schaffte ich es nach einer halben Stunde Fußmarsch, den Kai zu finden, und kam zu einer riesigen Halle, wo etwa 1.000 Chinesen mit Sack und Pack warteten - ich war die einzige Langnase - na toll!
Doch noch bevor ich die überfüllte Halle betreten konnte, ging es durch eine Kontrolle.
Ein Typ in Uniform saß hinter einem Tresen und riss die Ecken von kleinen Pappschnipseln, die aussahen wie der meine - sehr beruhigend. Eher beunruhigend war, dass er, als ich an der Reihe war, begann, laut herum zu brüllen und mich misstrauisch zu mustern, als ich ihm meine Pappe zeigte: "Passport?!"
Schnell gab ich ihm meinen Pass, warum brauchte er den überhaupt, schließlich verließ das Schiff auf seiner Route nie die chinesischen Hoheitsgewässer ...
Auf sein Gebrüll kamen vier weitere Beamte in Uniform angerannt - mit Schlagstöcken aus Bambus. Nicht Schlagstöcke in unserem Sinne, aber auch keine dünnen Reitgerten oder Dandysticks, sondern so ein Mittelding, das sicher ordentlich zeckte. Jetzt wurde mir langsam mulmig. Der Typ hatte immer noch meinen Passport und machte keine Anstalten, ihn wieder rauszurücken, und die anderen Uniformierten waren augenscheinlich nur meinetwegen angetrabt. War mein Schwarzmarktdeal aufgeflogen? Ging es jetzt in einen dreckigen, chinesischen Knast? Ich konnte das nicht wirklich glauben, aber trotzdem ging mir die Düse!
"Follow me!", bellte der Uniformierte und betrat mit meinem Pass in der Hand die Wartehalle. Ach du Scheiße!
Doch was dann geschah, verblüffte mich endgültig. Die anderen Uniformierten gingen voran, wobei sie ihre Bambusrohrstöcke benutzen, um sich eine Gasse frei zu knüppeln. Wann immer irgendein armer Chinamann nicht schnell genug beiseite sprang, um unserer kleinen Prozession Platz zu machen, klatschte es laut und man hörte gequälte Kotaus. Tatsächlich entschuldigten sich die Geschlagenen unterwürfig bei den Uniformierten, die ihnen eins übergezogen hatten, das konnte ich, auch wenn ich nur 20 Worte Mandarin sprach, sehen. Es machte mich traurig und wütend.
Aber erst später.
In diesem Moment, da ich durch die Wartehalle eskortiert wurde wie der leibhaftige Kaiser von China, war ich nur perplex. Wir erreichen die Gangway, der Büttel mit meinem Pass ging voran, und übergab ihn einem Chinesen in weißer Marineuniform mit mächtig vielen Streifen - dem Kapitän, der
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 15.10.2020
ISBN: 978-3-7487-6103-7
Alle Rechte vorbehalten
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