Freak Life
von Alpha O'Droma
© Alpha O'Droma 2014
Die Rechte aller Bilder liegen ebenfalls bei mir
Inhalt
Vorwort
Kurze Vaterfreuden
Wilde 60er
Schulze(it)
Studentenzeit
Amnesia Ferrari
Zockerjahre
Veränderungen
Erfahrungstrip
Schamanenflug für Anfänger
Orientierungsloser Orientale im Okzident
Exodus
Quo vadis
Wieso eine Insel am Arsch der Welt?
Koh Chang
Gabou
Onkel Einzahn
Rosemary
The Castle
Kai Bae School
Bob und der Untergang des Morgenlandes
Die Knäste dieser Welt (Teil 1)
Die Knäste dieser Welt (Teil 2)
Die Knäste dieser Welt (Teil 3)
Dachdeckerleben
Paradise" O Paradise!
Roisìn und Odin
Der Untergang
"Was nun?", sprach Zeus
Scribo ergo sum
Ein offenes Ende
Nachwort
Mein Leben neigt sich dem Ende zu. Nicht dass ich todkrank wäre, es geht mir, abgesehen von den üblichen Zipperlein, prima, nein, es ist vielmehr eine rational unerklärliche spirituelle Gewissheit, dass mir nicht mehr all zu viel Zeit bleibt, deshalb schreibe ich dies nieder.
Für wen schreibe ich dies?
Gewiss blicke ich zurück auf ein reiche, erfüllte Vita, habe viel scheinbar Unglaubliches erlebt. Rund 80 Länder durfte ich bereisen, fantastische Menschen kennenlernen und mich - mehr oder weniger erfolgreich - in einer Unzahl verschiedener Berufe versuchen, darunter kriminelle wie Schmuggler, Fluchtwagenfahrer, Dealer, Hehler oder Versicherungsbetrüger, exotische wie Orangenpflücker in Australien, Schuldirektor in Thailand, Pferdeknecht für den Maharadscha von Udaipur oder auch ganz profane wie Lastwagenfahrer, Kellner, Zeitungsausträger oder Dachdecker. Selbst einen dubiosen Regierungsauftrag in Afghanistan habe ich erledigt, der zumindest eines Kapitels von John le Carré würdig gewesen wäre, doch bevor ich wieder mal zu aufgeblasen klinge:
Nichts davon ist derart bedeutend, dass man deshalb Memoiren verfassen müsste ...
Obschon ich ein eitler Mensch war, der stets Kraft aus der Bewunderung anderer schöpfte, zeigt sich in der Retrospektive, dass viele jener hier kurz angerissenen Heldentaten hohl und leer waren, während die wirklich bedeutsamen Triumphe meist gänzlich unbemerkt und ohne Applaus stattfanden.
Ich will hier ehrlich sein.
Früher - noch von zehn Jahren - hätte ich mich mit all meinen glänzenden Leistungen geschmückt und meine zahlreichen Niederlagen kleingeredet, doch jetzt, im Alter, erkenne ich, dass es Debakel und Verlust sind, die einen Menschen wachsen, lernen, werden lassen, und nicht Sieg und Gewinn.
Meine umfangreiche Sammlung von Pokalen liegt lange schon im Müll.
Ich glaube, ich schreibe dieses Buch für meine Kinder, denen ich ein miserabler Vater war.
Nicht, um mich zu rechtfertigen für Abwesenheit und Versagen, sondern um ihnen zu berichten von ihrer Herkunft, denn nur wer die Vergangenheit versteht, wird die Zukunft meistern, aber auch vom Wunder des Lebens auf diesem wahnsinnig schönen Planeten, auf dass es ihnen als Inspiration dienen möge und sie vieles klüger anstellen als ich.
Sollten sie nur eine einzige Lehre hieraus ziehen, hat sich dieses Buch bereits gelohnt ...
P.S.: Achja, selbst ein so hässlicher alter Sack wie ich war irgendwann mal süß...
Meine erste, bewusste Erinnerung ist ein halsbrecherischer Stunt, doch muss ich dafür in das Jahr vor meiner Geburt zurückgehen ...
Meine Mutter war leidenschaftliche Rock'n Roll-Tänzerin und verliebt in ihren Tanzpartner Georg, welcher sie derart durch die Berliner Luft warf, dass sie sogar den Berliner Meistertitel errangen. Im Sommer 1962 begab es sich, dass Paulchen Kuhn - damals wie heute eine Legende - mit der SFB Big Band, einem berühmten Fernsehorchester, eine Sendung aufzeichnen sollte, in der er unter anderem Bill Haleys "Rock around the Clock" zu spielen gedachte. Dazu sollten drei Paare tanzen, und um Produktionskosten zu sparen, wollte man einfach jene verpflichten, die bei der ortsansässigen Landesmeisterschaft auf dem Treppchen gestanden hatten - ganz oben, meine Mutter Heidi und mein Vater Georg. Doch meine Großmutter, eine missgünstige Nazischlampe, die Adolf auch heute, da ich dies schreibe, mit 93 Jahren immer noch verteidigt, weil er die verkackte Autobahn gebaut hatte, war eine rigorose Frau, für die ihre Tochter ein Flittchen war, weil sie sich "mit schamlosen Verrenkungen zu dieser Negermusik wand, dass einem aufrechten Deutschen übel davon wird". Also verbat sie es schlicht, was ihr deshalb möglich war, weil deutsche Mädchen laut damaligem Gesetz zwar schon mit 16 heiraten durften, jedoch erst mit 21 volljährig wurden.
Meine Mutter weinte sich Wochen lang die Augen aus dem Kopf, denn 1962 im Fernsehen aufzutreten, war ungleich bedeutsamer als heutzutage, wo jeder Grenzdebile gezeigt wird und sogar ich! Das Fass zum Überlaufen brachte ein Kuss. Eines Abends - Georg brachte Heidi nach Hause - küssten sie sich zum Abschied im Hausflur. Meine Großmutter, eine begeisterte Fensterguckerin und Falschparkerdenunziantin, beobachtete diesen Vorgang durchs Schlüsselloch, empfing meine Mutter mit einer derart schallenden Ohrfeige, dass sie zu Boden ging, und verbot ihr kurzerhand den Umgang mit Georg.
Und so begab es sich, dass Heidi (mit dem Segen meines Großvaters) ihren Georg ehelichte - nur, um von Zuhause wegzukommen. In der Hochzeitsnacht wurde Heidi defloriert und sogleich geschwängert - mit mir - ein Umstand, den ich 35 Jahren nicht zu glauben bereit war. Erst als meine eigene Frau schwanger wurde und ich ihr aus falschem Pflichtbewusstsein einen Antrag machen sollte, fand ich es heraus, denn für die Ehe muss man beim Rathaus das Familienstammbuch beantragen. Und da stand es schwarz auf weiß: Meine Eltern hatten am 18.9.1962 geheiratet! An sich nichts Besonderes, es sei denn, man wäre am 18.6.1963 geboren und hätte die Geschichte von der jungfräulichen Empfängnis immer als Ammenmärchen belächelt ...
Heidi und Georg Schulze wurden zusammen sehr glücklich. Sie bezogen eine typische Berliner Hauswartswohnung in Neukölln. Im Durchgang zwischen Vorder- und Hinterhaus gelegen, Hochparterre. Dort - oder besser gesagt zwischen dort und dem Weg zum Neuköllner Krankenhaus - erblickte ich an jenem 18. Juni das Licht eines Taxis. Ungeduld und Freiheitsdrang zeichneten mich schon immer aus ...
Es waren bewegte Zeiten. Eine Woche nach meinem nullten Geburtstag nahmen mich meine Eltern mit zum Schöneberger Rathaus, wo Kennedy behauptete, er wäre ein Berliner. Die Menge jubelte, ich hingegen hab's angeblich verschlafen. Eine infame Lüge!
Ich weiß nicht, ob mich hier das Bad anwidert oder die Gardine oder die Tischdecke...
Ja, glücklich war jene Epoche, jedoch leider auch sehr kurz.
Keine drei Monate später klingelte es an nachmittags der Tür. Meine Mutter stand in schwarzen Dessous mit Strapsen im Badezimmer und schminkte sich gerade auf "verruchter Vamp", denn sie empfing meinen Vater öfters im sexy Outfit, wenn er von der Arbeit kam, um ihm den Feierabend mit heißem Begrüßungssex zu versüßen - sie waren halt ein junges Paar und verrückt nacheinander ...
Als es klingelte, so beschrieb sie es mir einmal, schossen ihr sofort die Tränen in die Augen und sie wusste, dass er tot war. Nie konnte sie das erklären, weder sich selbst noch anderen, doch das Geräusch der Türklingel ließ sie mit unumstößlicher, finaler Gewissheit zurück. An der Tür stand Oma Nazischlampe und erzählte ihr von dem Unglück: Georg arbeitete beim Bau der Berliner Philharmonie, er hatte sich bei einer Zigarettenpause ans Gerüst gelehnt, welches plötzlich nachgab. Ein Gerüst besitzt Querstreben, eine in Knie- und eine in Hüfthöhe, die es seitlich nach außen sichern. Sie werden von innen angebracht. Die Strebe in Höhe der Hüfte war aus ungeklärten Gründen von außen und wohl auch nicht sehr gründlich fixiert worden. Sie rutschte auf einer Seite aus ihrer Verankerung, wodurch mein Vater nach hinten kippte. Die Strebe in Kniehöhe hielt perfiderweise, wodurch seine Beine hoch flogen und er - aus lächerlichen zwei Metern - mit dem Hinterkopf voran auf eine Betonkante knallte: Schädelbasisbruch. Mein Vater starb noch auf dem Weg ins Urbankrankenhaus.
Dies alles hatte man Oma Nazischlampe mitgeteilt, weil sie im Gegensatz zu meinen Eltern ein Telefon besaß. Sie überbrachte die Nachricht pflichtgemäß, und ging - natürlich nicht ohne noch zu erwähnen, dass meine Mutter - verheult und in Korsage - wie eine billige Nutte aussähe und mein Vater eh nichts getaugt hätte.
Omas muss man einfach lieben ...
Ach ja, meine erste bewusste Erinnerung: Jene Hochparterre-Hauswartwohnung in der Hobrechtstraße ging direkt vom Durchgang, der zum Hinterhof führte, rechts ab. Fünf Stufen hoch lag der Eingang und ich saß auf einem Dreirad. In völliger Unkenntnis von Schwerkraft, kinetischer und potentieller Energie oder sonstiger Physik beschloss ich eines Tages, die unbewachte, offene Tür zu nutzen, um ins Freie zu fahren.
Natürlich über die fünfstufige Treppe ...
Mit Anlauf legte ich los, überschlug mich, landete mit meinem Dickschädel auf einer Treppenstufe, setzte meinen formvollendeten Überschlag fort, landete auf den Rädern am Fuße der Treppe - soweit alles witzig, hat ja gar nicht weg getan, ätschibätsch! - wurde dann jedoch zum Opfer meiner potentiellen Energie, die sich in kinetische verwandelte und mich vorwärts an die die gegenüberliegende Wand donnern ließ, gegen die mein edles Gesicht prallte und mich derart recht unsanft zum Stillstand kommen ließ.
Ganz deutlich kann ich mich daran erinnern, an das euphorische Gefühl beim Überschlag, den Klaps auf meinem Schädel und wie weh die verschissene Wand tat.
Meine Mutter, die die Tür geöffnet hatte, um mit mir einkaufen zu gehen, etwas vergessen und nur deshalb die offene Tür für wenige Sekunden unbeaufsichtigt gelassen hatte, kam, um mich zu trösten, doch ich empfand nur Schmerz, Wut und Enttäuschung darüber, dass im Leben nicht alles so glatt lief, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Der Schmerz und die Wut sind mittlerweile vergangen.
An der Enttäuschung arbeite ich noch ...
Es begann eine ungestüme Epoche für meine Mutter. So sehr sie unter dem Verlust ihrer großen Liebe auch litt, sie war eine bildschöne neunzehnjährige Frau und plötzlich einigermaßen wohlhabend. Zu ihrer ohnehin recht hohen Witwenrente, deren Berechnung sich aus dem sehr guten Einkommen meines Vaters im letzten Jahr ergab - dem Jahr, in dem er wegen Heirat und meiner bevorstehenden Geburt Überstunden geknüppelt hatte wie ein Wahnsinniger - kam eine zweite Rente der Bauberufsgenossenschaft, da es sich um Tod durch Arbeitsunfall handelte. Zusätzlich wurde noch eine Entschädigung in beträchtlicher Höhe durch die Gerüstbaufirma gezahlt, der man das Verschulden nachgewiesen hatte.
Meine Mutter hatte also plötzlich einen erklecklichen Batzen Geld und bekam zudem noch zwei Witwenrenten in Höhe von insgesamt fast 2.000 Mark - im Jahr 1963 beinahe ein Spitzeneinkommen, in etwa soviel, wie ein höherer Beamter im Monat verdiente.
Als die Trauerphase überwunden war, begann Heidi wieder zu leben.
Hier mit meinem Onkel Hermann (Georgs großer Bruder) und Tante Helga
Sie verkehrte nach wie vor in der Rock'n Roller-Szene, kannte viele Musiker und schweigt sich bis heute darüber aus, doch ich vermute, sie war ein Edel-Groupie. Sie bestreitet alles, behauptet felsenfest, sie hätte maximal rumgeknutscht und gefummelt. Vielleicht war dem so, man weiß es nicht ...
Bald trat auch ein Mann in ihr Leben, eine gewisser Cisco, Leadsänger der Country-Band Truck Stop, die später sogar ein paar Hits landen sollten, damals jedoch noch gänzlich unbekannt waren. Heute rollt man die Augen, wenn man nur an den monotonen Sound von Steel Guitars denkt, doch damals, war alles, was aus Amerika kam, supercool, selbst Kuhfladenmusik ...
Als die Beatles 1964 ihr legendäres Konzert im Hamburger Beat Club gaben, war ich dabei. Naja, nicht wirklich, meine Mom war dabei, ich hingegen sägte draußen vor der Tür des Beat Clubs im Tourbus von Truck Stop an einem Zahnstocher und verpennte mal wieder das Ganze - genau wie weiland die Rede von John F. Kennedy - zum Kotzen!
Eine herrliche Anekdote muss ich dazu berichten, es geht mal wieder um Oma Nazischlampe. Wie alle Weiber ihres Schlages war sie spießig und von unberechtigtem Standesdünkel erfüllt. Natürlich war es ihr zuwider, dass ihre Tochter - eindeutig ein Flittchen! - mit so einem langhaarigen Hippie von Bandleader zusammen war, doch konnte sie diesen Umstand nach einem Jahr oder so nicht mehr leugnen und so kam es zu der pikanten Situation, dass irgendeine Tante bei einer Familienfeier meine Mutter fragte, was ihr Freund denn beruflich mache, denn schließlich war bekannt, dass da irgendein Mann in Heidis Leben getreten war und man gedachte, sie schnell wieder unter die Haube zu bringen, auf dass das Kind nicht in Schande lebe. Meine Mutter wollte gerade antworten, als Oma Nazischlampe dazwischen fuhr, um mit vor Stolz geschwellter Brust den Beruf des Auserwählten zu verkünden: "Er ist erst 25 Jahre alt und schon Kapellmeister!"
Meine Mutter biss sich auf die Zähne und verschwand flugs ins Bad, um dort loszuwiehern ...
Ich weiß nicht, wie lange die Kiste mit Heidi und Cisco lief aber spätestens 1965 war sie wieder Single. Ich habe sie mal abgefüllt und dann über diese Zeit auszufragen versucht, wobei die Namen diverser Fußballprofis von Hertha BSC fielen - heute allesamt Legenden - doch sie beharrte stets, sie hätte nur geflirtet, vielleicht mal geknutscht, wäre jedoch nie schwach geworden. Auch ein Promill später blieb sie standhaft bei dieser Version, so dass ich fast geneigt bin, ihr zu glauben.
Wie der aufmerksame Leser unschwer nachzurechnen vermag, wurde ich 1966 drei Jahre alt.
Nun ist dies an sich nichts Besonderes, doch wer mal Kinder gehabt hat, weiß, dass im Alter zwischen drei und vier Jahren die gefürchtete Warum-Phase beginnt, die sich bei den meisten Gören irgendwann legt, bei mir jedoch aus unerklärlichen Gründen bis heute anhält.
Und so wurde ich eine unerträgliche Nervensäge, welche die Umwelt pausenlos mit Fragen löcherte, warum dies, warum das, weshalb jenes. Das ging so weit, dass sich bei meiner Mutter regelrechte Erschöpfungszustände bemerkbar machten, ein Umstand, den ich gut nachvollziehen kann. Ich selbst verlasse fluchtartig den Raum, wenn Kleinkinder mich vollsülzen. Die Vorstellung, dies 16 Stunden am Tag zu ertragen, löst bei mir suizidale Gedanken aus...
Meine Mutter entging dem unausweichlichen Selbstmord, indem sie beschloss, zwei Wochen in Urlaub zu fahren. Da die Deutschen in den 60ern nur drei Urlaubsländer kannten: Spanien, Italien und Österreich, blieb keine große Auswahl. Spanien klang am exotischsten und befand sich am weitesten von mir entfernt, also flog meine Mutter auf die iberische Halbinsel, wo sie den Kuckuck kennenlernen sollte, doch davon später mehr.
Um den Quälgeist - also mich - sollten sich die beiden Omas kümmern, die erste Woche Oma Nazischlampe, die zweite Woche meine Oma väterlicherseits, Margarethe, zu der ich ein besonders herzliches Verhältnis pflegte.
Oma Margarethe hatte zwei Söhne aus zwei Ehen geboren, Herrmann Schmidt von meinem Opa Schmidt, den ich nur einmal sah, bevor er sich zu Tode gesoffen hatte, und meinen Vater, Georg Schulze (ich sollte später den Namen meiner Ehefrau annehmen, weil dieser - für einen Autor wichtig - wesentlich besser klang) von Opa Schulze, der im Juni 1944 an der Westfront von einer Fliegerbombe zerfetzt wurde, die auf seinen Gefechtsstand krachte. Das war kurz nach D-Day, irgendwo in der Normandie.
Ja, der Krieg und meine Familie, Opa Schulze zeugte meinen Vater auf Heimaturlaub 1941, der wurde dann 1942 in Neukölln geboren und hatte - wie ich - keine bewusste Erinnerung an seinen Vater, eine traurige Tradition, die ich leider ebenfalls pflege.
Ende 1943 wurde Berlin dann von den alliierten Bombenangriffen heimgesucht. Meine Großmütter verbrachten jede zweite Nacht im Luftschutzkeller. Am 1. Dezember ging ein besonders schweres Bombardement nieder. In dieser Nacht geschahen - Luftlinie nur etwa einen Kilometer voneinander entfernt - zwei Dinge. Als der Angriff vorbei war und Oma Margarethe mit Baby Georg wieder ihre Wohnung in der Franz Körner-Straße 16 betrat, fehlten alle Wände an der Ostseite des Gebäudes. Sie setzte sich aufs Sofa, stillte meinen Vater, und fragte sich, wie sie jetzt wohl heizen solle.
In der Gradestraße 7, gleich um die Ecke, lag Oma Nazischlampe im Luftschutzkeller und brachte meine Mutter zur Welt.
Genug dieser ollen Kamellen, ich wollte von Oma Margarethe erzählen, die ich über alles liebte. Diese und viele andere Geschichten vom Krieg erzählte sie mir immer wieder, wie sie sich aus Brettern notdürftig eine Wohnzimmerwand baute und dass sie froh war, denn das Nachbargebäude hatte es viel schlimmer getroffen, es lag in Schutt und Asche und brannte lichterloh. Oder wie sie als junges Mädchen auf dem Kurfürstendamm einmal den Kaiser in seiner Pferdekutsche vorbeifahren hatte sehen und wie sich alle Untertanen verbeugt hatten und er huldvoll die Hand zu Gruße gehoben hatte, mindestens 100 mal hat sie mir davon berichtet in der Art wie es alte Leute tun. Nun berichten die meisten alten Leute nur mittelmäßig Interessantes, doch meine Oma gehörte zur so genannten Abenteuergeneration, die vom Kaiser über zwei Weltkriege, Hunger, Inflation, Weltwirtschaftskrise über den Wiederaufbau bis hin zum Wirtschaftswunder alles mitgemacht hatte. Meine Oma Margarethe war eine Trümmerfrau, unbedarft, gänzlich unpolitisch und daher für mich auch glaubwürdig, wenn sie sagte, dass sie den "Obergefreiten", den "großen Weltenlenker" wie man Hitler abfällig nannte, nie leiden hatte können. Alles, was sie wollte in dieser schweren Zeit, war ihre beiden kleinen Jungs durchfüttern und dabei als arme Kriegswitwe anständig bleiben.
Ich denke, es ist ihr gelungen, für mich ist sie eine Heldin. Und so lauschte ich immer wieder ihren Geschichten, spannende Abenteuergeschichten aus einer anderen Welt. Ich denke hier liegt einer der Gründe, warum Großeltern und ihre Enkel so kompatibel sein können: Nur Kinder vermögen ein- und dieselbe Geschichte immer wieder gern zu hören und nur Großeltern schaffen es, ein- und dieselbe Geschichte immer wieder zu erzählen ...
Ich freute mich also schon auf die Woche mit Oma Margarethe, doch vor der Woche bei Oma Hertha (so hieß die Nazischlampe) war mir bange. Meine Mutter setzte mich mit dem Taxi dort ab - das Folgende stammt aus den Berichten meiner beiden Großmütter, denn ich selbst erinnere mich nicht daran - was ich mir wohl gemerkt haben muss: Taxis sind schwarze Mercedes mit einem gelben Schild auf dem Dach, man steigt ein und nennt die Adresse und der freundliche Mann fährt einen dann dort hin. Heute sind Taxis elfenbeinfarben und es können auch alle möglichen Marken darunter sein, doch 1966 waren Taxis schwarz und 99 Prozent waren Mercedes, das Schlachtschiff mit der Heckflosse. Einer von 100 war ein Opel (Diplomat oder Admiral) und wurde stets als Exot bestaunt. Als Dreijähriger kannte ich selbstverständlich alle Fahrzeugtypen und -marken, Matchbox sei Dank!
Oma Nazischlampe ging mit mir zum Britzer Damm, um dort einzukaufen. Nun hasse ich Einkaufen - damals wie heute. Und da ich quengelte, raunzte mich die ungeliebte Großmutter an und hieß mich vor dem Laden warten. Das habe ich wohl auch getan, einige Sekunden, doch dann muss ich den schwarzen Mercedes mit dem gelben Schild entdeckt haben, den ich kurzentschlossen bestieg: "Franz Körner-Straße 16"
Der Taxifahrer gab später an, er hätte mich befragt und ich hätte lediglich stets die Adresse wiederholt und dass ich zu meiner Oma wolle, die dort wohne. Nun war das gleich um die Ecke - auch 20 Jahre nach Kriegsende wohnten beide Großmütter im jeweils selben Haus wie damals - also zuckte der gute Mann mit den Schultern und fuhr mich hin. Nun mochte ich zwar alles über Autos wissen, doch das Prinzip der Dienstleistung gegen Entgelt war mir wohl noch unbekannt und so zeigte ich mich überrascht, dass der Mann Bezahlung verlangte. Ich verließ die Taxe und rannte zum Haus von Oma Margarethe, verfolgt von einem erbosten Taxifahrer, der mir ankündigte, er wolle mir die Ohren lang ziehen, doch Oma Margarethe bezahlte die Fahrt, so dass ich diesem Schicksal entging. Mittlerweile rannte Oma Nazischlampe völlig entsetzt über den Verlust ihres Schutzbefohlenen den Britzer Damm auf und ab und befragte jeden Passanten, doch keiner hatte mich gesehen. Oma Margarethe schleifte mich zu einer Telefonzelle - Telefon hatte damals nicht jeder - und rief Oma Hertha an, die jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits auf der Polizeiwache saß, um dort meinen Verlust zu vermelden. Es war ein wildes Hin und Her, Hertha fuhr zu Margarethe nach Hause, als jene mich zu Herthas Wohnung zurückgeschleift hatte, die Bullen suchten nach mir und Oma Margarethe beschloss, sich mit mir einfach in eine Kneipe zu setzen, die gegenüber Oma Nazischlampes Wohnung lag, um von dort den Hauseingang im Blick zu haben. Ein guter Plan, der auch gelang, und so wurde ich - gegen meinen ausdrücklichen Willen und unter lautem Geschrei - der geliebten Oma entrissen und der ungeliebten übergeben, die allen voll glücklichem Überschwang berichtete, wie besorgt sie doch gewesen sei und wie beseelt, den geliebten Enkel wieder in ihren Armen zu halten. Die Show hielt sie exakt so lange durch, bis wir in ihrer Wohnung waren, dann wurde ich so fürchterlich verdroschen wie zuvor und danach nie wieder. Früher hätt's das nicht gegeben! Jaja, die gute alte Schule...
Nun zeigte sich ein Charakterzug in mir, der dort wohl stets geschlummert hatte: ich verabscheue Autorität und jede Einschränkung meiner persönlichen Freiheit.
Sylvester mit Omas, ein paar Jahre vor dieser Anekdote
Heute bin ich klüger und vermag Autoritäten anzuerkennen, fachlich, wenn sie auf überlegenem Wissen beruhen oder ethisch, wenn sie auf unbestreitbaren moralischen Grundsätzen fußen, doch mit dreieinhalb Jahren vermochte ich hier nicht zu differenzieren: Oma Nazischlampe war mein Feind und ich machte ihr das Leben zur Hölle. Zum Abendbrot gab es Spinat. Bis zu diesem Tage mochte ich Spinat, doch da er vom Antichristen kam, musste er übel sein, also verweigerte ich mich.
"Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!", schwadronierte die Nazibraut und fütterte mich mit dem Löffel - ich sammelte das Zeug in meinen Pausbacken wie ein adipöses Streifenhörnchen ...
"Schluck runter!", kam der zackige Befehl von Frau Gauleiter - ich spuckte ihr den gesamten grünen Brei auf ihre weiße Spitzenbluse.
Sie knallte mir eine - ich schrie, greinte und schlug um mich wie ein Berserker.
Dieser Abend muss der Horror gewesen sein. Schließlich löste Oma Nazischlampe zwei Schlaftabletten in einem Glas Saft auf, den sie mir verbot zu trinken, bis ich aufgegessen hatte. Natürlich trank ich ihn - ich war drei und unerfahren in Guerillataktiken ...
Am nächsten Morgen wachte ich benebelt auf. Oma Nazischlampe hatte meine Sachen bereits gepackt und rief ein Taxi: "Franz Körner-Straße 16"
Sie gab auf und ich verbrachte den Rest der zwei Wochen bei meiner geliebten Oma Margarethe. Hurra!
Unterdessen lag ein kurviges Vollweib in Spanien am Strand und wurde von einem galanten, sehr gut aussehenden Mann angesprochen: Manfred Kuckuck, ein Großhandelskaufmann in Sachen Mode, der für die Berliner Metro den Ankauf der gesamten Damenoberbekleidung verrichtete, ein für sein Alter von Mitte Zwanzig sehr hochrangiger Posten, den er sich durch seine gute Rhetorik, sein Verhandlungsgeschick und selbstbewusstes Auftreten gesichert hatte. Diese Eigenschaften, gepaart mit großem Charme, machten ihn zu einem Weiberhelden. Aufgrund seines Jobs hatte er viel mit Mannequins zu tun, wie Models damals noch genannt wurden, und da er von allen "Manne" genannt wurde, standen diese vielen reizvollen jungen Damen ihm auch zu, "Manne-Quins", so übersetzte er das. Aber in meine Mutter hatte er sich regelrecht verknallt. Models kamen zu Modeschauen nach Berlin, wo man sie in dem sicheren Wissen verführen konnte, dass sie alsbald wieder in das Kuhkaff verschwanden, wo sie lebten - so war das vor der großen Urbanisierung. Heidi jedoch lebte - wie er - in Berlin, und sie war nicht leicht zu haben. Wenn man den Worten meiner Mutter Glauben schenkt, gelang es nur meinem Vater, sie zu erobern und eben jenem galanten Manne Kuckuck. Doch nicht in Spanien, wo sie den Urlaub zusammen verbrachten, nein, sie ließ ihn zappeln, und erst als er ihr - wieder daheim in Berlin - bewiesen hatte, dass seine Absichten ernsthafter Natur waren, ließ sie ihn an die Wäsche.
Und so bekam ich einen Stiefvater, der "Onkel Manfred" hieß. Alle Freunde und Bekannten hießen "Onkel Soundso" oder "Tante Schnickschnack" - bis zur Volljährigkeit. Erst nach dem Abi wurde mir offiziell das "Manne" angeboten. Da war er mir längst anderthalb Jahrzehnte ein guter Vater gewesen, nur nannte man es weiland nicht so, da der Begriff der leiblichen Vaterschaft eine wesentlich höhere Bedeutung hatte als heutzutage.
Die Groupiezeiten meiner Mutter waren vorüber und wir zogen von der kleinen Hauswartswohnung im wilden Neuköllner Kiez sehr bald in ein großes Haus in der Marienfelder Chaussee im beschaulichen Lichtenrade, nur einen Kilometer von der Metro entfernt, in der Onkel Manfred arbeitete. Im Erdgeschoss plus Partykeller wohnte das Ehepaar Klaus und Bärbel Steuer, er alkoholkranker Beamter, sie oberflächliche Grundschullehrerin. Im ersten Stock befand sich unsere Wohnung und das Dachgeschoss barg mein Reich, ein komplett in Profilholz gehaltenes Zimmer, in das Licht durch ein einziges, kleines Dachfenster schien. Die gesamte Konstruktion besaß einen romantischen Charme - würde ich heute sagen - damals jedoch war es Furcht einflößend, da der alte Dachstuhl bei jedem Windstoß ächzte und stöhnte und die Holzkonstruktion meines Zimmers knarrte wie die Gorch Fock bei schwerem Seegang: es war unheimlich! Doch man gewöhnt sich an alles und wenige Kinder, eigentlich nur die Sprösslinge wohlhabender Familien, hatten damals ein eigenes Zimmer, schon gar nicht so ein großes ...
Hinter dem Haus befand sich ein riesiger Garten, der für Vieles kompensierte, vor dem Haus ein mittlerer Garten, der jedoch alsbald weichen musste, denn die zweispurige Chaussee wurde vierspurig ausgebaut, wofür alle Anwohner des Großteils ihrer Vorgärten verlustig gingen. Bürgerbegehren gab es in den Sechzigern nicht, man wurde enteignet und bekam eine vom Staat festgelegte Entschädigung - Basta!
Noch heute sieht man auf dem Mittelstreifen der Maienfelder Chaussee die alte Baumreihe. Mitten auf der heutigen südlichen Fahrbahn befanden sich unser Bürgersteig und Gartenzaun - nur falls es wen interessiert.
Wir fanden all das nicht schlimm, da man ohnehin im hinteren Garten saß und so weniger Rasen mähen musste.
Hinter uns auf einem Hammergrundstück - wegen seiner Form so genannt, weil nur durch eine lange Auffahrt mit der Straße verbunden, quasi dem Hammerstiel - wohnten die Schmolls, eine reiche Familie. Der Vater besaß eine Gartenbaufirma, und das Anwesen einen Pool, der Inbegriff des Statussymbols in einer Ära aufblasbarer Planschbecken. Dort verbrachte ich die Sommer, wie alle Kinder der Nachbarschaft. Es liefen immer alle nackt herum und erst Jahre später verstand ich, warum die Zigaretten der Schmolls so komisch rochen. Auch sexuell wurden erste Doktorspielerfahrungen gemacht, ("Guck mal Bärbel!", sagt der Klaus, "Bei dir sieht's ja ganz anders aus!"), zu denen wir regelrecht motiviert wurden. Nicht falsch verstehen, die Scholls waren nicht pervers und keiner der Erwachsenen hat uns jemals angefasst, aber es gehörte zum Geist der Zeit, völlig frei und ungezwungen zu experimentieren. Ich fand das auch nicht schlimm, nur der Sohn der Scholls, Hanno, irritierte mich. Bei Doktorspielen wurde ja auch tatsächlich behandelt und mit irgendwelchen Plastikinstrumenten operiert, aber Hanno wollte immer nur "Po sägen" oder mit seinem Finger die Tiefen des Raums erkunden, das ging mir dann doch zu irgendwie zu weit. Ich traf ihn Jahre später einmal, wo sich dann alles aufklärte: Hanno Scholl war die Oberschwuchtel geworden, eine Neigung, die augenscheinlich seit den Sechzigern in ihm geschlummert hatte.
Es war eine schöne Zeit, diese meine frühe Kindheit, die mit zwei einschneidenden Erlebnissen endete. Das erste war die Mondlandung im Juni 1969:
Wir verfolgten sie alle live auf dem riesengroßen Schwarzweißfernseher, einer nagelneuen Anschaffung, die unseren Aufstieg in die obere Mittelklasse zementierte. Die ganze Familie war zu Gast, um es mitzuerleben. Ich weiß noch, wie ich zu diesem Behufe immer wieder geweckt wurde, denn das Ganze geschah mitten in der Nacht und ich war beim Verfolgen der historischen Geschehnisse auf der Couch ständig eingepennt. Die Bedeutung des Boheis war mir nicht klar und irgendwie empfand ich es auch als enttäuschend, denn wenn ich nach oben in den Nachthimmel blickte, sah ich niemanden winken ...
Das zweite Erlebnis war dann schon traumatischer. Nur wenige Wochen nach Neill Armstrongs legendärem Satz auf dem Mond machte auch ich einen "small step for men but a big step for myself" - ich wurde eingeschult.
Heidi, Manfred, Hund Alfi und olle Icke
Die Grundschule am Sandsteinweg hatte keinen Namen. Wie so viele öffentliche Gebäude nach dem Krieg war sie ein eilig aus Waschbetonplatten zusammengeschustertes Konstrukt.
Als Schulhof diente eine weite Fläche aus planiertem Schotter, der nie weniger rau werden sollte, egal, mit vielen Quadratmetern abgeschürfter Kinderhaut wir ihn in den kommenden Jahren zu glätten versuchten.
Schicksalsergeben ließ ich mich dorthin führen, mein Hals eng geschnürt von Furcht und meiner ersten Krawatte. Ob es jene Angst oder der alberne blaue Blazer war, der mich an jenem heißen Sommertag schwitzen ließ wie eine Hafennutte beim Gottesdienst, kann ich heute nicht mehr sagen, doch es war die Hölle. Etwa 100 Familien standen dort mit ihren Delinquenten, um auf drei Schulklassen aufgeteilt zu werden. Uns gegenüber standen der Schuldirektor und drei Lehrerinnen, die unserer harrten. Der Direx hielt eine viel zu lange Rede, voller Lügen, wie toll doch die Schule sei, was wir alles lernen würden und wie viel Spaß das doch machte, dann waren die Lehrerinnen dran. Sie lasen laut und in alphabetischer Reihenfolge die Namen der Todgeweihten vor, die sich hinter ihnen zu versammeln hatten, um die jeweiligen Klassen zu bilden. Unsere Lehrerin hieß Frau Marose und begann, wie Espenlaub zitternde Kinder hinter sich zu gruppieren. Als sie bei S ankam, wurde mir bang ums Herz.
" Andreas SCHABOVSKIII!"
Ein kleiner Kerl sprintete über den Hof, um sich hinter den anderen zu verstecken.
"Michael SCHMIIIIDT!"
Wir zuckten zusammen, als wir den Schrei vernahmen: "MAAAAAMIIII!"
Der dicke Micha sträubte sich wie ein junger Hund an der Leine. Seine dicke Maaaaamiiii verbarg ihr feistes Gesicht vor Scham in ihren dicken Händen und sein dicker Papi drohte ihm dicke Prügel an, wenn er nicht augenblicklich zu der lieben Frau Lehrerin ginge. Als Antwort kam nur lautstarkes Geheule, das Betteln um Gnade und ein Aufjaulen, als Papi ihn der Mami entriss, um ihn kurzerhand zu schultern und zu Frau Marose zu schleppen, die ihn sofort zu trösten begann. Bildung ist halt nichts für jedermann...
"Andreas SCHULZEEE!"
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und trat so tapfer wie möglich meinen schweren Gang an, ähnlich wie tragische Filmhelden auf ihrem Weg zur Hinrichtung. Aber nach dem armseligen Michael Schmidt konnte ich nur gut aussehen.
Als schließlich Thomas ZANDEEER zu uns gestoßen war, setzte sich unser Tross in Bewegung und Frau Marose führte uns ins Klassenzimmer - wir waren die 1 A, also quasi die Eliteeinheit, und hätten wir ihn damals schon gekannt, wir hätten auf unserem Schicksalsweg gewiss den River Kwai March gepfiffen, denn genau so sah das damals aus: https://www.youtube.com/watch?v=4k4NEAIk3PU&hd=1
Im Klassenraum angekommen, versuchte ein jeder, sich möglichst weit hinten zu platzieren, was natürlich nur wenigen gelang. Ich hingegen war bereits ein kleiner extrovertierter Scheißer (heute bin ich ein großer extrovertierter Scheißer...) und setzte mich ganz nach vorne in die erste Reihe, um ja nichts zu verpassen, denn die Neugier siegte in meinem Leben stets über die Furcht, ein dubioser Umstand, dem ich manch böse Narbe verdanke.
An die Tafel hatte Frau Marose mit bunter Kreide ein riesiges Bild gemalt. Dieses Wunderwerk naiver Kunst zeigte Kinder mit Schultüten, dazu ihre Mütter und Väter, im Vordergrund ein Selbstportrait von Frau Marose. Sie gab uns kurz Zeit, das Ensemble zu bewundern, schnappte sich sodann einen nassen Schwamm und wischte es weg. Von außen nach innen bewegte sich der Schwamm, um in konzentrischen Kreisen zur Bildmitte zu gelangen, wo sich das Gesicht einer Mutter befand. Um dieses Gesicht wischte sie herum, um lediglich ein mütterliches Auge in Form eines Schlüssellochs übrig zu lassen. Dann wandte sie sich zu uns, um mit verschwörerischer Miene etwas zu sagen wie "Big Brother is watching you!". So stellt es sich jedenfalls in meiner persönlichen Retrospektive dar, da Englisch aber erst in der dritten Klasse gelehrt wurde, muss es wohl eher irgendetwas wie "Seid schön brav, denn die Mama passt auf, dass ihr hier keine Scheiße baut, ihr kleinen Kackbratzen!" oder etwas Ähnliches gewesen sein.
Auch wenn mir der genaue Wortlaut nicht in Erinnerung geblieben ist, hat sich diese Szene jedoch bis ins Detail in mein Gedächtnis gebrannt. Wir alle warfen immer wieder paranoide Blicke über die Schulter zur Tür des Klassenzimmers, doch dann schaffte es Frau Marose, uns gnädig zu stimmen, indem sie ankündigte, wir würden heute nur ein Lied lernen und könnten dann gehen. Erleichterte Seufzer allenthalben!
Schon eine Viertelstunde später sangen wir aus vollen Kehlen "Hurra ich bin ein Schulkind und nicht mehr klein!", ein vorpubertärer Motivationssong, der uns zu Privilegierten im Sandkasten erheben sollte, dann durften wir unter lautem Jubelgeschrei zu unseren im geschotterten Kasernenhof wartenden Eltern zurückkehren, die sich dort die Zeit mit Schwitzen vertrieben hatten.
Glücklich kehrte ich nach Hause zurück, das Martyrium überstanden zu haben, jedenfalls, so lange, bis man mir die furchtbare Wahrheit mitteilte.
Ich zeigte mich angemessen entsetzt: "WAAAS? Ich muss da morgen wieder hin???"
Das Leben ist grausam!
Der erste tatsächliche Schultag sollte mir meinen Spitznamen einbringen, der heute sogar in meinem Ausweis steht. Andreas nennt mich nur noch meine Mutter ...
Wir erlebten die erste Deutschstunde, nur existierte Deutsch noch nicht als Schulfach, in der Grundschule war es unterteilt in "Schreiben" und "Lesen", Mathematik hieß "Rechnen" und "Sport", das später hochtrabend als "Leibesübungen" bezeichnet wurde, hieß "Turnen". Schreiben bestand zuerst aus dem Malen von Kringeln, es ging darum, uns die richtige Haltung des Schreibgeräts zu vermitteln, am Ende der Stunde mussten wir eine Acht malen, immer und immer wieder. Als frühreifer und altkluger Streber, der ich war, fühlte ich mich sofort unterfordert und bat um anspruchsvollere Aufgaben. Die Acht ödete mich an, ich wollte eine Fünfzehn oder gar eine Hundertdreiundzwanzig zu Papier bringen, doch ich wurde lediglich zur Disziplin ermahnt. Und so entwickelte ich mich bereits am ersten Schultag zum Störenfried und Pausenclown. Als dann Lesen dran war, schlug meine große Stunde, denn das beherrschte ich bereits. Nicht die großen Klassiker, aber da ich Walt Disneys Lustige Taschenbücher verschlang, war mir das ABC seit dem vierten Lebensjahr vertraut und so gedachte ich mit meinem Wissensvorsprung zu glänzen. Doch was machte Frau Marose? Sie fragte die Klasse, wer denn den ersten Buchstaben des Alphabets kenne. Ich vermag im Nachhinein nicht mehr zu sagen, ob ich die Antwort aus der Sesamstraße oder der Sendung mit der Maus wusste, die stets mit einem Satz in einer Fremdsprache begann "Und das war Ungarisch", doch das Alphabet war das ABC in Griechisch, und so schnippte ich hektisch mit den Fingern und kam sogar dran, um stolz meine geniale Antwort zu verkünden: "Alpha!"
Natürlich lachte mich die gesamte Klasse aus und ich wollte vor Scham im Boden versinken, denn augenscheinlich hatte sie nach dem profanen A gefragt, doch Frau Marose tröstete mich, die Antwort sei gar nicht so verkehrt. Ein hohler Trost, denn seit dem Tage nannten mich alle nur noch "Alpha", was jedoch auch damit zu tun, dass wir etwa fünf Andreas und genau so viele Michael und Thomas in der Klasse hatten - so hießen fast alle Jungs dieser Generation. Eigentlich hatte ich noch Glück gehabt, denn aufgrund jener Andreas-, Michael- und Thomas-Inflation wurden die anderen Spacki, Fetti oder gar Doofi genannt. Den dicken Micha traf es am härtesten, denn seit jenem verhängnisvollen Tag der Einschulung hieß er nur noch Heulsuse, leider ein passender Name, den er sich bei jeder Gelegenheit zu bestätigen bemühte. Alpha ging also noch, aber für mich war es im ersten Schuljahr ein Mal der Schande und es sollte viele Jahre dauern, bis ich begriff, dass es eigentlich sogar einen ziemlich coolen Spitznamen darstellte, den ich dann sogar freiwillig anzunehmen bereit war, und der in Verbindung mit dem Familiennamen meiner späteren Frau zu "Alpha O'Droma" werden sollte, und das klingt doch nun wirklich nach einem Schriftsteller, oder etwa nicht!?
Doch nicht nur deswegen war die Schulzeit schwierig für mich. Ich fand alle anderen Kinder doof - Mädchen waren ja noch uninteressant - ich fand den Unterricht doof, weil sie immer nur Sachen erzählten, die ich schon wusste, und wenn ich etwas Neues lernte, dann nervte es mich dass der Stoff endlos wiederholt wurde, bis sogar Doofi und Heulsuse ihn aufsagen konnten. Alles doof! Also verbrachte ich die Zeit damit, zu schwatzen, zu kaspern und den Unterricht zu stören, was soweit ging, dass man meine Mutter in die Schule bestellte. Doch auch Strafandrohungen und Strafen halfen nichts, ich blieb - auch wenn ich fast überall Einsen hatte - stets der Pausenclown. Man bestellte mich zu einem Psychologen, der ein Gutachten erstellte. Mein IQ sei deutlich jenseits der 140 und ich hyperaktiv, lautete das fachmännische Urteil. Man solle mich am besten in ein Internat für Hochbegabte stecken.
Ich muss dazu erwähnen, dass es damals noch kein ADHS gab, das nannte man "Zappelphilip", auch Legasthenie und Dyskalkulie waren unbekannt, das nannte man "Blödheit". Und von der Möglichkeit, Klassen zu überspringen oder gar einer Hochbegabtenförderung wollen wir gar nicht reden. Leider existierte nur ein Internat in Berlin, dass sich meiner hätte annehmen können, es befand sich im Grunewald und hätte über tausend Mark im Monat gekostet - umgerechnet auf die heutige Zeit mehrere tausend Euro, es kam also nicht infrage. Derart geförderte kleine Genies kamen in dieser Epoche grundsätzlich nur aus reichen Familien, dass solche auch in der Mittelschicht oder gar in Arbeiterfamilien existieren sollten, schien doch arg weit hergeholt ...
Und so verbrachte ich meine Grundschulzeit wie jedes andere Gör, nur lauter, störender und Nerv tötender für alle Beteiligten. Völlig isoliert in meiner Klasse, fand ich in der 2. die Kinder aus der 4. interessant, aber für die war ich natürlich zu klein und kam als Spielkamerad nicht infrage. Also entwickelte ich mich zum Stubenhocker und Bücherwurm, wenn andere draußen tobten, las ich Kästner oder Enid Blyton, sollte Hanno Schmoll doch einem anderen Jungen am Po rumsägen, das war mir wumpe, ich hatte ja Bücher.
Andere Kinder waren mir grundsätzlich egal.
Ich wurde der Einzelgänger der ich heute noch bin, und war erstaulich glücklich dabei.
Schon früh begann ich, mit Drogen zu experimentieren ...
1971 beschloss Onkel Manfred, sich selbständig zu machen. Finanziell ging es uns - auch wenn eine superteure Privatschule nicht drin war - blendend, wir besaßen sogar ein Auto. Wie jede Mittelschichtfamilie natürlich nur einen Käfer, aber das war damals schon was!
Nur damit in Urlaub zu fahren, 1.000 Kilometer nach Österreich, wobei ich die Rückbank mit Onkel Herrmann, Tante Helga und einem halben Dutzend Reisetaschen teilen musste, verleidete mir den Wagen später, aber zurück zur Selbständigkeit:
Manne hatte durch seinen langjährigen Job bei der Metro Kontakte zu allen namhaften Vertretern der Damenoberbekleidung geknüpft und diese überredet, ihm Ware auf Kommission zu liefern. Er mietete einen Laden in der Berliner- Ecke Blissestraße an, einer sehr teuren Wilmersdorfer Wohngegend, wo seine zukünftige Kundinnen lebten: wohlhabende, meist ältere Damen.
Das Geschäft hieß "Kuckuck-Moden" mit dem Beinamen "Ihr Spezialist für große Größen", was eine schlüssige Geschäftsidee schien, da seine Kundschaft selten in Konfektionsgröße 34 passte. Alle Ersparnisse - also seine und die meiner Mutter - wanderten in den Laden, der dann auch recht mondän wirkte - zumindest der Verkaufsraum. Ich musste jetzt nach der Schule quer durch die Stadt fahren um die Zeit bis zum Ladenschluss entweder in seinem Büro - einem nackten unverputztem Kellerraum unter dem Laden - oder bei schönen Wetter draußen im Volkspark zu verbringen. Öde!
Und öde war auch der Umsatz. Manne hatte für über 100.000 Mark Ware im Laden, teure Kleider, Abendgarderobe, aber auch edle Pelzjacken und sogar einige Nerzmäntel - alles auf "Kriegste", wie man Kommission im Volksmund nannte. Die Verkäufe reichten jedoch anfangs nicht mal für die Miete, geschweige denn zum Leben, was vielleicht auch daran lag, dass er den Laden im Frühjahr eröffnet hatte. Geld musste her, Onkel Herrmann und Tante Helga wurden angepumpt, Oma Nazischlampe hatte zwar am meisten Geld, doch einen Igel in der Tasche. Dabei hatte sie sich gerade einen gewissen Gerd Stichovski geangelt, gut betuchter Pensionär mit riesigem Haus bei Heidelberg, der alles bezahlte, so dass ihre Witwenrente seit Jahren direkt aufs Sparkonto wanderte...
Im Sommer ging es nicht mehr, Heidi saß jetzt im Laden und Manne nahm gleich zwei Vertreterjobs an: er vertickte für Electrolux hochwertige Staubsauger (sehr empfehlenswert: das Vorführungsmodell funktioniert nach fast 40 Jahren immer noch wunderbar!) und für die WWK Versicherungen, das zahlte die Miete für Laden und Haus und es reichte gerade so, was ich daran sah, dass es fast nur noch belegte Brote gab, wo vorher Schweins- und Rinderbraten auf dem Tisch standen. Im Herbst begann der Laden, endlich zu laufen, doch da war es bereits zu spät. Wir waren zwei Monate mit der Miete im Rückstand, die Kreditraten waren schon länger nicht bezahlt. Das hätte man mit einem guten Winterhalbjahr locker kompensieren können, doch seine Lieferanten hatten ihn auf die schwarze Liste gesetzt, holten ihre Kommissionware ab und rückten keine neue mehr heraus - gerade als es gut lief. Bald war der Laden leer, doch neue Ware hätte es nur gegen Vorkasse gegeben, die Pleite stand vor der Tür, noch dazu mit großen Schulden. Doch im Moment der größten Verzweiflung - ich hörte meine Mutter fast jeden Abend weinen - zeigte Manne Kuckuck sein Talent! Er wusste, dass es den Bach runter geht, also zahlte er überhaupt keine Rechnungen mehr, sondern behielt alles Geld, was reinkam. Mit meiner Mutter, Onkel Herrmann und Tante Helga schloss er zurückdatierte Kreditverträge ab und beantragte dann einen Vergleich. Nun muss man erklären, wie die Gesetzeslage damals war: Wenn die Mehrheit der Gläubiger einem Vergleich zustimmte, musste auch der Rest dies tun. Manne setzte die Mindestvergleichsumme an, ich glaube 20%, und versprach, alle Gläubiger auszuzahlen, die diesem Vergleich zustimmten, also Hermann, Helga und meine Mutter - sie hatten nie geheiratet, weil meine Mom sonst ihre beiden dicken Witwenrenten verloren hätte, ergo waren sie als Nichtehepaar auch nicht gemeinsam haftend - und einige kleinere Lieferanten, die wussten, dass sie sonst gar nichts bekommen hätten. Die großen Gläubiger, wie die Sparkasse und die Hauptlieferanten ließ er außen vor. So bekam er eine Mehrheit für diesen lächerlichen Vergleich und leistete einen Offenbarungseid, ohne dass die Hauptgläubiger einen Titel auf die vollen Schulden hätten bekommen können, sie waren gesetzlich gezwungen, den 20% zuzustimmen. Die Sparkasse prozessierte gar und verlor, woraufhin Manne nie wieder ein Konto bei einem namhaften deutschen Kreditinstitut eröffnen durfte. Er musste fortan sein Konto bei der Hardy Bank führen. Nie gehört? Ich auch nicht...
Sei es wie es sei, jemand, der eine deutsche Bank legal um einen ordentlichen fünfstelligen Betrag bescheißt, ist für mich ein Held!
Doch damit war es nicht genug! All die gehortete Kohle benutzte er, um im Namen meiner Mutter in Lichtenrade für 18.000 Mark ein Baugrundstück zu kaufen. Die starb tausend Tode, doch sie vertraute diesem Filou. Zu Recht! Er hatte seit Jahren vorausgesagt, die Immobilienpreise müssten steigen, doch seit Jahren war nichts passiert. Kaum hatte er von den letzten Kröten diese 800 Quadratmeter von Efeu überwucherten Urwalds gekauft, explodierten die Preise. Doch verkaufte er? Nein. Er sicherte uns mit einer minimalen Anzahlung das Vorkaufsrecht auf eine Doppelhaushälfte in der Eisnerstraße 27, ebenfalls in Lichtenrade. Nun schlief meine Mutter überhaupt nicht mehr, denn alles lief auf ihren Namen. Die Doppelhaushälfte samt Grundstück sollte 200.000 Mark kosten plus 5000 für eine Einbauküche, Anzahlung von 50.000 fällig binnen drei Monaten, Rest in Raten, ein Deal der nur funktionierte, weil sich die Butze noch im Rohbau befand und der Bauherr selbst Planungssicherheit wollte. Man bot 35.000 für unser Grundstück, dann 40.000, schließlich 50.000, die geforderte Summe, die wir zur Anzahlung für unser eigenes Haus so dringend benötigten, doch obwohl es keine vier Wochen mehr hin waren bis zur Fälligkeit, weigerte Manne sich zu verkaufen, obwohl meine Mutter ihn anflehte. Onkel Herrmann und Tante Helga hatten ihn längst für verrückt erklärt und die paar Tausender, die sie ihm gepumpt hatten, bereits unter "Lebenserfahrung" abgeschrieben.
Eine Woche später verkaufte Manne den Efeudschungel für 65.000 Mark an einen privaten Bauherrn, zahlte Hermann und Helga aus, schob die 50 Mille für unsere Hütte rüber, die 5.000 für die Einbauküche, kaufte sich einen gebrauchten Mercedes und bei uns kam wieder Braten statt Stulle auf den Tisch. Sogar die Sparkasse bekam ihren lächerlichen Anteil ...
Im Juni 1973 zogen wir in die Eisnerstraße. Pleite, aber bis auf die Raten für das Haus schuldenfrei. Die Hütte wurde über einen langfristigen Bausparvertrag finanziert, dessen Tilgung so gering war, dass wir in den nächsten 30 Jahren für die restlichen 150.000 durch die Zinsen über 300.000 berappen sollten, aber das war egal. Manne und Heidi waren jung und wollten leben, deshalb war die geringe monatliche Belastung, die der Miete einer durchschnittlichen Dreizimmerwohnung entsprach, ihnen wesentlich wichtiger, als die Butze möglichst schnell abzuzahlen. Manfred gab den Job für Elektrolux auf und konzentrierte sich voll auf die WWK. Und wieder verriet er Gespür. Da er auf Provisionsbasis arbeitete, mussten hohe Umsätze her, also ließ er sich auf eigene Kosten 50.000 Postkarten mit seinem Konterfei drucken, auf denen er nicht nur für Versicherungen, sondern auch für Anlageberatung warb. Gebühr bezahlt Empfänger. Lichtenrade, das in den Sechzigern noch weitgehend von Weizenfeldern geprägt war, wurde Anfang der Siebziger zum Bauland erklärt, überall schossen Häuser aus dem Boden, junge Familien siedelten sich an, alles gute bis obere Mittelschicht in neuen Eigenheimen, die versichert werden wollten. Auch ich entwickelte mich zum Jungunternehmer: Onkel Manfred zahlte mir für 500 verteilte Postkarten 10 Mark. Das ist nicht so viel, wie es klingt, denn die Hochhaussiedlungen in der Nahariyastraße waren noch nicht fertig, es galt jede Menge Einfamilienhäuser und Reihenhaussiedlungen mit dem Fahrrad abzuklappern, worauf ich jedoch keinen Bock hatte. Doch in meiner neuen Schule - die Grundschule am Dielungsgrund hieß, noch so ein namenloser Waschbetonplattenneubau - wurde ich auf einmal zum Jobwunder, indem ich Mitschülern ihre Gebiete zuwies: "Verteil die 1000 Postkarten hier und du bekommst von mir 10 Mark! Achja, ich mach natürlich Stichproben und wenn die Dinger im Müll landen und nicht im Briefkasten, kommt der Typ hier und haut dir persönlich auf die Fresse!"
Dabei deutete ich auf Mannes markantes Konterfei, das zwar freundlich grinste, doch keiner traute dem Postkartenlächeln und so machten meine Klassenkameraden lieber ihre, pardon, meine Arbeit und ich hatte soviel Taschengeld wie noch nie.
Nach ein paar Wochen kam mir Manne auf die Schliche. Es kamen genug Rückmeldungen von den Karten, das Geschäft lief gut an, aber wie sein Stiefsohn in den Sommerferien über 20.000 Postkarten verteilen konnte, obwohl er den ganzen Tag in seinem Zimmer abgammelte und Abenteuerromane von Karl May und Jack London las, das erschien ihm dann doch verdächtig, also stellte er mich zur Rede. Ich tat unschuldig überrascht, die Karten seien doch verteilt worden, das sei meine Aufgabe und wie ich sie erfüllte, wäre doch egal.
Keine Sorge, das ist kein Schlaganfall! Hier sehen wir den Jungunternehmer bei seiner Einsegnung im Alter von 15 Jahren. Fototermine waren ihm schon immer verhasst und wenn man ihn aufforderte, jetzt doch gefälligst mal zu lächeln, dann kam stets eine solche Fratze dabei heraus. Das ist wohlgemerkt das BESTE Foto meiner Einsegnung!!!
Wider Erwarten bekam ich keinen Anschiss, sondern ein Eis. Ich hatte Manne mit Stolz erfüllt. Von diesem Tag an musste ich die schweren Postkartenstapel nicht mehr zur Schule schleppen. Meine Sklavenkolonne holte die heiße Ware jetzt persönlich bei mir zuhause ab.
Da reifte in mir der Plan, einmal Unternehmer zu werden. Oder wie Manne gern sagte: Ist der Handel noch so klein, bringt doch mehr als Arbeit ein ...
Unsere Anfangs recht kärglich eingerichtete Doppelhauhälfte wurde langsam gemütlich. Nach und nach kamen Möbel dazu, so wie die Kohle halt rein kam, und es wurde stetig mehr Kohle, denn Onkel Manfred hatte einen festen Kundenstamm etabliert, den er auch pflegte. Egal wie gering ein Haftpflichtschaden war, er fuhr persönlich hin und nahm ihn auf. Die Kunden dankten es ihm und seiner charmanten Art und wenn es galt, eine ordentliche Lebensversicherung abzuschließen, dann kamen sie zu ihm. Dort lag das wirkliche Geld, da gab es schon mal über 3.000 Mark Provision und darauf hatte Manne sich spezialisiert, die sogenannten "dynamischen Lebensversicherungen", die er als Kapitalanlage verkaufte. "Dynamisch" bedeutete, dass die Beiträge mit der Inflationsrate und dem Einkommen stiegen, die Auszahlungssumme aber auch, und wenn der Kunde es schaffte, nach 20 Jahren nicht abgekratzt zu sein, wurde ihm die Summe ausgezahlt. Eigentlich ein Nepp, denn die Rendite war miserabel, doch man war in der Zeit lebensversichert und wenn man wider Erwarten doch den Löffel abgab, bekam der Begünstigte die volle Schadensumme - und in dem Falle war die Rendite formidabel. Das Bedürfnis, materiell abgesichert zu sein, war Anfang der Siebziger immer noch sehr stark, die Älteren hatten den Krieg noch erlebt, die Jüngeren meist noch die Nachkriegszeit und so ließ man sich Sicherheit etwas kosten - gut für Versicherungsvertreter!
1974 war es dann soweit: wir schafften uns den ersten Farbfernseher an. Nicht lachen, Kinder, das war damals eine große Sache, nicht der Fernseher, der war winzig, aber Farbfernsehen an sich gab es noch nicht allzu lange und immer noch wurden die meisten Sendungen in Schwarzweiß ausgestrahlt. Doch ein Weltereignis dräute, das Fußballverrückte wie Onkel Manfred in Ekstase versetzte: Die WM im eigenen Land!
Dazu muss ich noch kurz etwas zu seiner Vita erzählen, denn Manne war in seiner Jugend ein Spitzenfußballer gewesen. Wir besitzen ein Album mit Zeitungsausschnitten von ihm. Sogar bis ins Viertelfinale des DFB-Pokals hat er es mal geschafft (1962 unter dem legendären Hanne Sobeck), wo er mit dem SC Charlottenburg jedoch gegen den Lokalrivalen Hertha BSC 3:4 nach Verlängerung verlor. "Eine ausgezeichnete Partie bot der linke Läufer Manfred Kuckuck ...", ihr wisst ja, was man über Torhüter und Linksaußen sagt, oder? Es stimmt...
Dazu mal eine Anekdote aus der Fußballerzeit von Manfred, ich muss damals um die 10 Jahre alt gewesen sein, aber ich erinnere mich bestens.
Manfreds große Fußballerkarriere war wiegesagt wegen seiner Knie beendet, doch er spielt ab und zu selbst noch bei den alten Herren mit oder in diversen Prominentenmannschaften. So kam es, auch, dass wir einmal im Jahr gegen Hänschen Rosenthals Truppe antraten. Da junge Leser es vielleicht nicht mehr wissen, will ich kurz erwähnen, dass Hans Rosenthal damals Deutschlands größter Showmaster war. In den Siebziger und Achtziger Jahren lief seine Spielshow „Dalli Dalli“, in der Promis in Teams gegeneinander antraten und der Gewinner Geld für einen guten Zweck gewann. Die Sendung war ein Straßenfeger und lief fast 20 Jahre wie ein Käfer, bis Rosenthal Ende der Achtziger erkrankte und dann auch starb. Auf dem Fußballplatz nannte ihn jeder nur „Hänschen“, was auch an seiner Statur gelegen haben mag, denn er war klein und schmächtig, doch sein Herz war das eines Wals. Als Berliner Jude entging er nur knapp dem Tod, musste in den Vierzigern Jahre lang Zwangsarbeit in einer Fabrik leisten, entkam bei einem Bombenangriff und überlebte das Kriegsende versteckt in einer Laubenkolonie, doch nach dem Krieg blieb er in Deutschland und arbeitete beim Radio. Wie wir war er sehr fußballbekloppt, leider für den falschen Verein, Tennis Borussia, dem er lange als Präsident vorsaß. Und schon früh ging es bei ihm um die gute Sache. Regelmäßig veranstaltete er Benefizspiele mit anderen Prominenten, deren Einnahmen zum Beispiel deutschen Kriegerwitwen zugute kamen – und das als von den Nazis geknechteter Jude! Doch Hänschen kannte keine Vorurteile, auch wenn er in jungen Jahren auf dem Fußballplatz noch oft als Drecksjude beschimpft wurde, er lächlte all dies weg und begegnete dem Hass mit seiner allumfassenden Menschenliebe. Und die Menschen spürten das, es sprach sich herum, dass dieser kleine Wicht ein ganz Großer war. Und ein Gentleman. Wie ihr vielleicht wisst, herrschen auf dem Fußballplatz eigene Sitten. Jeder wird geduzt, der Humor ist so derb wie die Fouls und der Ton so rau wie die Schotterplätze, auf denen die Pelle stets liegen blieb, wenn man fiel. 44 blutende Knie begleiteten jede Begegnung, denn Rasenplätze gab es nur für die Topteams. Und in dieser Welt der harten Kerle bewegte sich Hans Rosenthal mit ausgesuchter Höflichkeit, siezte jeden und behandelte auch das schnoddrigste Arbeiterkind wie den hochprominenten Gast einer seiner Sendungen. Er liebte Kinder, spielte mit uns oft Kicker und verlor dabei absichtlich. Wir liebten ihn – wie ihn jeder liebte.
Eines Tages, es stand mal wieder eine Benefizspiel gegen TeBes Promi-Elf an und ich stand wie immer hinter dem gegnerischen Tor, kam es zu jenem legendären Foul.
In Onkel Manfreds Mannschaft spielte ein Stürmer namens Koko, fast zwei Meter groß, athletisch, behaart wie ein Affe, ein richtiger Bigfoot. Onkel Manfred flankte von links herein, doch die Flanke kam etwas zu tief für Koko, der Torwart, irgendein Schauspieler, dessen Name mir ums Verrecken nicht mehr einfällt, faustete sie heraus, direkt auf Hänschen, der den Ball mit der Brust stoppte, ihn sich vorlegte und gerade weiter passen wollte, als Koko herangestürmt kam und ihn von hinten umsenste. Koko traf dabei sogar den Ball, doch Hänschen Rosenthals im Weg befindliche Beine schossen dabei eine derartige Sonne, dass ein kollektives „AUUUU!“ über den Platz schallte – von Spielern und Zuschauern gleichermaßen.
Es sah grotesk aus, dieser eingesprungene Rosenthal mit anderthalb Schrauben, eine unglaubliche Übung, die so nie wieder geturnt werden sollte. Nur die Landung wirkte ungesund, als das schmächtige Kerlchen halb seitwärts und halb rücklings zu Boden krachte und die damals noch unbekannten Spiegelneuronen uns allen schmerzverzerrte Minen aufs Antlitz zauberten. Der Pfiff des heran sprintenden Schiris erklang noch vor der Landung. Er gab Gelb – damals eine Sensation, speziell bei Freundschafts- oder gar Benefizspielen – denn Gelb gab es in den Siebzigern in der Regel eigentlich nur bei offenen Schien- und Wadenbeinbrüchen, so etwas wie simple Bänderrisse durch Blutgrätschen wurden meist mit einer Ermahnung abgetan. Wie durch ein Wunder hatte sich Hänschen nicht schwer verletzt, er sammelte seine Knochen zusammen und ging humpelnd auf Koko zu. Normalerweise hätte jeder deutsche Fußballspieler jetzt etwas Unverbindliches geschrien wie „Du hast wohl den Arsch offen, du debiler Kackspast!“ oder ihm eine gelangt, nicht jedoch der legendäre Hans Rosenthal.
Er baute sich dicht vor Koko auf, was an sich schon komisch wirkte, da dieser ihn um fast zwei Köpfe überragte, stemmte seine Fäuste in die Hüften und sprach mit vorwurfsvoller Stimme das seinen Tod überdauernde Bonmot: „Mein lieber Herr Kokoschinski …“
Wir haben Tränen gelacht, alle bis auf Koko, der wirklich untröstlich war und sich mit hängendem Kopf vielmals entschuldigte. Für Hänschen war das Spiel vorbei, er zog beide (!) Beine nach, was ebenfalls einen Touch von Slapstick hatte und ließ sich sofort auswechseln. Nicht nur Koko wurde sein Leben lang mit diesem Spruch gehänselt, auch meine Eltern sollten, wann immer ich Scheiße baute, und das war nicht selten, sich vor mir aufbauen, die Fäuste in die Hüften stemmen und „Mein lieber Herr Kokoschinski!“ knurren.
Der „Herr“ ging offensichtlich irgendwann verloren, aber zuweilen hört man den Satz immer noch, auch wenn niemand die dazu gehörige Anekdote mehr kennt. Ich hoffe, ich konnte diese Bildungslücke schließen.
Es sollte fast 40 Jahre später sogar zu einem Déjà-vu kommen: Anno 2009 schaute ich eines Samstags die Sportschau und plötzlich schoss mir das Bier aus der Nase, weil ich so unfassbar lachen musste. Kickers Offenbach spielte grade ein Drittligamatch gegen den VFL Osnabrück, die in den Strafraum stürmten, da hörte ich den Kommentator rufen: „Kokoschinski von hinten in die Beine – Uiii, ein böses Foul!“
Tatsächlich spielte bei Offenbach ein Michael Kokocinski im Mittelfeld, und auch wenn ich mir nicht mehr sicher bin, wie Kokos Nachname damals geschrieben wurde, kann man sicher davon ausgehen, dass es sich bei jenem Offenbacher Kickers-Rüpel um einen direkten Nachfahren handeln muss …
Doch zurück zur WM 74!
Deutschland war im Fußballfieber, sogar wir Kids, es war die Geburt der Panini-Sammelbilder, auf dem Schulhof wollte jeder Beckenbauer, Overath oder Netzer sein, dabei war der eigentliche Held kleines dickes Müller - egal - wir befanden uns in kollektiver Hysterie. Als es dann losging, gestaltete sich das Fußballgucken jedoch schwierig. Die WM 1970 hatten wir noch auf dem riesigen Schwarzweißgerät verfolgen können. 1974 hockte die gesamte Familie weit vornüber gebeugt vor der Glotze, denn das Sonderangebot von Neckermann (999 Mark - weiland fast ein Monatsgehalt) besaß einen Bildschirm in Briefmarkengröße. der ganze Kasten war zwar etwa 50 Zentimeter breit und 35 hoch, doch die Hälfte davon ging für die Bedienelemente drauf, zwei große knarzende Drehschalter, die man - wie bei einer Safekombination - in die jeweils richtige Stellung rattern musste, damit man mit kleiner Antenne und großem Glück einen Sender empfing. Die Spieler hatten die Größe von Stecknadelköpfen und der Ball war kaum zu erahnen, aber man sah ja, wo die Stecknadelköpfe hinrannten. Und nun stellt euch eure gesamte Mischpoke vor, wie sie auf der Couch, auf Sesseln und herbei gerückten Stühlen sitzt, um aus zwei bis drei Metern Entfernung die Geschehnisse auf einem schlecht auflösenden 12-Zoll-Monitor zu verfolgen, dann gelangt ihr zu der Vorstellung, wie lächerlich wir aussahen. Aber wurscht, Deutschland gewann (das 0:1 gegen die DDR war Absicht, um in die leichtere Vorschlussrundengruppe zu kommen - reden wir uns heute noch ein...) und beim Finale gegen Holland brachen alle Dämme. Es stand ja schon zur Halbzeit 2:1 für uns, aber wie wir uns danach noch 45 Minuten durch die zweite Hälfte bangten, hofften, schrien, fluchten und wimmerten, das hatte Shakespeare'sche Qualitäten. Am Ende Tränen und Jubel, man lag sich in den Armen, nur um sogleich nach draußen zu gehen und die Nachbarn abzuknutschen und jeden Passanten, dessen man habhaft werden konnte. Es war ein schöner Tag!
1975 wurde ein trauriges Jahr. Oma Margarethe erlitt kurz nach ihrer Verrentung - sie hatte 45 Jahre als Kürschnerin geschuftet - einen Herzinfarkt. Ich konnte sie noch ein letztes Mal im Krankenhaus besuchen, dachte mir jedoch nichts Böses dabei, alte Leute werden halt krank, doch als sie kurz darauf starb, traf es mich hart. Weinen konnte ich selbst auf ihrer Beerdigung nicht, wie ich überhaupt nicht imstande bin, aus Trauer zu weinen. Nur vor Freude, vor Lachen oder im Anblick von Perfektion vermag ich das. Beim Mauerfall oder als Heike Drechsler in Sydney noch mal Gold holte und die Stadionrunde absolvierte, da lief mir der Rotz in Strömen, aber beim Verlust eines geliebten Menschen vergieße ich keine Träne.
Kann sich jemand daraus einen Reim machen? Ich nicht.
Das zweite traumatische Erlebnis dieses Jahres stellte ein weiter Schulwechsel dar. Damals wurden bereits nach 6 Schuljahren meist schon die Weichen für das weitere Leben gestellt, denn die Schule sprach so genannte Empfehlungen aus, die jedoch so gut wie bindend waren. Kinder wie Doofie oder Heulsuse wurden in die Hauptschule verbannt, solche wie Fetti oder Spacki gingen auf die Realschule und kleine Arschlöcher wie ich aufs Gymnasium.
Und weil meine Mutter und Manfred diesmal die richtigen Weichen für mich stellen wollten, informierten sie sich, was denn wohl das beste Gymnasium Berlins wäre. Und sie wurden fündig.
Ich zitiere mich im folgenden mal selbst. Es handelt sich um eine Glosse, die ich vor Jahren für die Schülerzeitung des Eckener Gymnasiums schrieb, wohin ich verbannt wurde, auf dass man mir dort meine Flausen austriebe. Dass das misslang, weiß jeder, der mich kennt, aber ich denke, es vermittelt dennoch einen guten Eindruck, welches harte Schicksal mich mit zarten zwölf Jahren ereilen sollte:
Kotletten-Ziehen und Cicero
Alpha O`Droma (Jahrgang 1963) war Schüler des Eckener-Gymnasiums und schreibt hier über den Schulalltag am Eckener in den 70er Jahren
Der Turm über dem Kunstraum erinnert noch heute an längst
vergangene Zeiten...
Inside/Februar 2007/Readme.eck
Meine Verkehrsanbindung zur Schule bestand
aus 25 Minuten Fußweg zum 76er Bus, dann
noch einmal 20 Minuten Fahrt zur U-Bahn,
eine Station von Alt-Mariendorf bis Westphalweg
und weiteren 5 Minuten Fußmarsch, was
bedeutete, dass es mit all den Wartezeiten
über eine Stunde dauerte, bis ich vor der
mittelalterlichen Burg stehen sollte, die mir
Schauer der Angst über den Rücken jagte:
dem Eckener Gymnasium.
So Smittelalterlich wie die Burg, die um die
Jahrhundertwende gebaut worden war und
die tatsächlich ein Turm auf dem Dach ziert,
waren die Lehrer. Ich kam in die 7L1, wobei
das L für Latein stand. Unsere Klassenlehrerin
war Frau Graf, die mit dem Gebäude nicht
nur das Alter und die bröckelnde Fassade gemein
hatte. Als rüstige Mittsiebzigerin war sie
immer noch flink mit dem Lineal, das sie drohend
wie eine Peitsche trug, wenn sie, einem
Feldwebel gleich, durch unsere eingeschüchterten
Reihen schritt. Ob vorlaute Bemerkung
oder unerlaubter Seitenblick bei einer Klausur,
jederzeit musste man damit rechnen,
dass das lange Holzlineal einem auf den
Handrücken sauste. Das zeckte ungemein!
Frau Graf – die von ihren Kollegen respektvoll
„Fräulein Graf“ genannt wurde – ein
Fakt, der tief blicken ließ, wie ich fand - hatte,
so waren wir uns sicher, im 1. Weltkrieg
eine Nahkampfausbildung genossen, denn sie
traf die Fingerknöchel derart, dass nie einer
brach, obwohl es sich immer wieder exakt so
anfühlte, als wären alle vier zerschmettert.
Und sollte einer gar vorwitzig genug sein zu
widersprechen, kam ihre sadistische Spezialität
zum Einsatz: das Koteletten-Ziehen. Sie
packte blitzschnell zu und griff sich nur etwa
ein Dutzend dieser empfindlichen Härchen,
um uns in willenlos greinende Opfer zu verwandeln.
Einmal sah ich sie, einen baumlangen,
sie um anderthalb Köpfe überragenden
durchtrainierten Muskelprotz aus der Oberprima
derart über den gesamten Schulhof die
Treppe hoch ins Rektorzimmer schleifen. Das
hatte schon komische Qualität. Der Unglückselige
hatte sich mit der unnützen Begründung,
es sei nicht seins, geweigert, ein Butterbrotpapier
aufzuklauben, das herrenlos
über den Schulhof wehte.
Es entstand ein kurzer Wortwechsel, den ich
nicht verstand, weil ich 50 Meter entfernt
stand, doch sein Schmerzensschrei gellte
weithin hörbar über das Areal. Nie wieder hat
seit jenem Tage einer der etwa 300 Zeugen
sein Butterbrotpapier unachtsam entsorgt.
Ich war todunglücklich: Zum einen hatte ich
bis dahin in der Grundschule nur weitgehend
antiautoritäre Kindergartentanten als Lehrerinnen
gehabt, die all meine Streiche und das
ständige Schwatzen stoisch erduldeten, doch
nun befand ich mich bei den verdammten
Navy Seals!
Zum anderen war ich zuvor ohne die geringste
Anstrengung stets der Klassenprimus gewesen,
doch nun war ich nur einer von vielen.
Zudem erschlug einen der Stoff, es galt
nicht nur, etwas mal eben zu begreifen, man
musste pauken, pauken, pauken. Und waren
Latein, Englisch und Geschichte nicht genug,
kamen ab der 9. Klasse mit Chemie und Französisch
zwei weitere Lernfächer hinzu. All dies
ließ mich zum Durchschnittsschüler schrumpfen.
Auch wenn ich noch immer einer der Begabtesten
war, glich ich diesen Vorsprung
durch Faulheit und Disziplinlosigkeit locker
aus, so dass mich in diesem Heer von Fleißbienen,
das sich 7L1 nannte, bald viele Schüler
überholen sollten.
Doch bevor ich soweit vorausblicke, muss ich
noch wenigstens zwei der vielen ausnahmslos
exzellenten Lehrer nennen, die mein Leben
beeinflussen sollten. Da war der Lateinpauker
Dominus Digitus (Herr Finger), der jede montägliche
Unterrichtsstunde mit dem Witz der
Woche begann – auf Latein. Er war auch in
jeder anderen Hinsicht eine beeindruckende
Persönlichkeit, doch diese Lehrmethode funktionierte
so gut, dass selbst ich mich anstrengte,
jeden Tag die geforderten 12 Vokabeln
zu lernen. 12! Jeden Tag! Das war das
normale Pensum – allein in Latein, aber man
wollte einfach nicht zu den Deppen gehören,
die den Witz nicht verstanden. Ansonsten war
Latein öde, denn es gab damals noch kein Asterix
und Obelix als Lehrmaterial. Jahrelang
quälten wir uns durch Cäsars „de bello gallico",
um die Beschimpfungen des römischen
Gottkaisers zu übersetzen, der uns regelmäßig
als Untermenschen betitelte, weil wir damals
noch keine Thermen und Fußbodenheizungen
unser Eigen nannten, sondern in Flüssen
badeten: „germani barbari sunt!“
Doch an erster Stelle ist Herr Franke zu nennen,
unser Geschichtslehrer, der nie ein Buch
benötigte. Alle unsere Lehrer stellten wandelnde
Lexika dar.
Herr Franke ließ uns in der allerersten Geschichtsstunde
in Ehrfurcht vor seinem Intellekt
erstarren, einer Ehrfurcht, die bis heute
in mir andauert und – so bin ich sicher – auch
in vielen anderen Klassenkameraden, denn so
wie er, so wollten wir alle werden, so brillant,
so überlegen.
Während Dominus Digitus durch hohen
Wuchs, athletischen Körperbau und lässige
Sportsakkos mit seinen gut vierzig Jahren wie
ein junger Rebell in dieser altehrwürdigen Institution
wirkte, stellte Herr Franke eher den
Mainstream dar: Mitte Sechzig, sehr korpulent,
dunkelblauer Nadelstreifenanzug mit Nadelstreifenweste,
gestärktes weißes Hemd und Einstecktuch.
Er versprühte mit seinem Äußeren den Charme eines
Bänkers der alten Schule. Und so waren wir zunächst auch nicht
sonderlich beeindruckt von dem biederen Dickerchen,
das unser Klassenzimmer betrat
und seinen Namen in altdeutscher Schnörkelschrift
an die Tafel schrieb. Doch wie es bei
den Navy Seals so üblich ist, standen wir allesamt
auf und salutierten zackig im Chor:
„Guten Morgen, Herr Franke!“ Dieser nickte
lakonisch: „Setzen!“ Dann folgte eine 45minütige
Abhandlung in freier Rede, die sich mit
einem einzigen Satz des großen Marcus Tullius
Cicero beschäftigte: „Wer nicht weiß, was
vor seiner Geburt geschah, wird auf immer
ein Kind bleiben“ Stille. Wir waren 12 und
keiner wollte auf immer ein Kind bleiben, das
saß. Heute weiß ich, dass Ciceros Zitat weiter
ging, nämlich „Was ist das menschliche Leben
wert, wenn es nicht durch die Zeugnisse der
Geschichte mit dem unserer Ahnen verwoben
wird?“
Diesen Satz ließ Herr Franke bewusst aus,
denn genau dies stellte die Schlussfolgerung
dar, zu der wir selbst gelangen mussten. Er
erzählte uns amüsante Anekdoten der Historie,
von großen Schlachten, von feigem Verrat,
von Heldenmut, von Siegen und Niederlagen,
viele scheinbar willkürliche Beispiele, wie
wir in der Gegenwart aus der Vergangenheit
lernen konnten, ja mussten. Und wir hingen
an seinen fleischigen Lippen. Mann, war Geschichte
spannend, hätten wir das bloß schon
früher gewusst! Niemand starrte – wie sonst
bei jeder Stunde üblich – auf die Wanduhr,
die hinter ihm an der Tafel hing. Auch er
nicht. Und eine Armbanduhr trug er ebenfalls
nicht, doch musste Herr Franke über einen
eingebauten Chronometer verfügen, denn
wenige Sekunden vor Ende unserer ersten
Geschichtsstunde ging er zur Tür und baute
sich dort auf. Es bimmelte zur großen Hofpause
und dann geschah das Unglaubliche.
Sie kennen ja die kleinen Namensschilder, die
man vor sich auf dem Pult stehen hat, damit
ein neuer Lehrer sich seine Schüler einprägen
kann. Die hatten auch wir dort stehen, 31,
um genau zu sein, denn die 7L1 war eine große
Klasse. Wir schnappten uns also unsere
Pausenbrote und wollten hinaus auf den Hof,
doch dazu mussten wir an Herrn Franke vorbei,
der dort immer noch in der Tür stand. Als
der erste Schüler ihn passieren wollte, streckte
Herr Franke ihm seine dickliche Kinderhand
entgegen und nickte ihm freundlich zu: „Ich
hoffe, Sie werden Geschichte mögen, Wolfgang
Schubert“, dann der nächste „Haben Sie
einen schönen Tag, Thomas Thomalla!“ dann
ein Mädchen aus der letzten Reihe „Ihnen
auch Sabine Völker“ – wir waren baff!
Tatsächlich hatte er sich während seines faszinierenden
Vortrags sämtliche 31 Vor- und
Zunamen eingeprägt. Doch nicht nur das,
auch die Zuordnung, was die eigentlich famose
Leistung war, denn wir verließen die Klasse
natürlich in wild durcheinander gewürfelter
Reihenfolge. Dazu hatte er uns gesiezt, eine
Ehre, der man damals erst ab 16 Jahren teilhaftig
wurde, meist widerwillig von Seiten der
Lehrer, die einen nach wie vor mit Vornamen
ansprachen: „Michael, wischen Sie die Tafel!“
Doch Herr Franke hatte uns verzaubert, durch
den Respekt, den er uns entgegenbrachte,
selbst wenn er uns rügte: „Herr Schmidt, das
ist die erbärmlichste Klausur seit der Erfindung
der Tinte!“ oder wenn er uns – stets
sehr zurückhaltend – einmal lobte: „Ganz
passabel, Fräulein Janasik". Das entsprach einem
Ritterschlag. Wir liebten ihn nicht, dazu
blieb er zu distanziert, wir beteten ihn an!
Und natürlich liebten wir ihn, aber dies zuzugeben
wäre für uns genauso peinlich gewesen
wie für Herrn Franke. Ihm verdanken
nicht nur ich, sondern hunderte von Altersgenossen
die wissenschaftliche Neugier, den
Anspruch vorurteilsfreier Betrachtung aller
Fakten von mehreren Standpunkten aus und
selbstverständlich die Liebe zur Geschichte.
Dass er uns nebenbei Demut lehrte, sollte ich
erst Jahre später begreifen, dazu war ich damals
noch zu unreif.
Solcherart waren unsere fantastischen Lehrer
und aus mir wäre bestimmt mal etwas geworden,
wäre ich nicht damals schon so ein arroganter
und bequemer Sack gewesen ...
Ich bitte um Vergebung für das schreckliche Schriftbild, habe den Artikel einfach so aus einer PDF-Datei reinkopiert, denn ich bin immer noch ein bequemer Sack ...
Es folgte unweigerlich jene Phase im Leben, die von Zweifel und Selbsthass geprägt ist: Die Pubertät.
Alle Jungs waren verknallt in Anne-Dörthe Schlüns. Der Name klingt nach einer hässlichen, verpickelten Waldorfschülerin mit Zahnspange, doch Anne-Dörthe war das genaue Gegenteil. Ihr alle kennt Agneta Fältskog, das ist die leckere Blonde von Abba, die mit "Waterloo" 1974, also genau ein Jahr zuvor, den Grand Prix gewonnen hatten. Anne-Dörthe Schlüns war ihre legitime Doppelgängerin, nur jünger und knackiger. Zum ersten Mal interessierte mich etwas anderes als Bücher, es war die Zeit des Motoradschlafs, wo man mit Ständer einpennt und mit Ständer aufwacht. Meine Mutter legte mir, dieses Umstands eingedenk, stets eine Packung Tempo-Taschentücher unters Kopfkissen, die ich mich aus Scham jedoch weigerte zu benutzen. Stattdessen brauchte ich jeden Tag zwei bis drei Paar frische Socken - als ob das unauffälliger gewesen wäre...
Natürlich hatte ich bei Anne-Dörthe als kleiner, spargeldünner Außenseiter keine Chance, sie war lediglich das Objekt meiner Fantasien, wenn ich mal wieder eine Socke entweihte, doch sie leitete quasi einen Paradigmenwechsel ein, den ich begann zu ahnen, dass das Leben mehr bereit hielt als Literatur. Und sowieso ist dieses Alter für einen Jungen beschämend, denn während die meisten Mädchen sich mit 13, 14 körperlich bereits zu Frauen entwickeln, waren die meisten Jungen physisch immer noch kleine Jungen.
Alle Jungs waren neidisch auf Michael Schaumann. Der hieß wirklich so, doch es wurde auch zum geflügelten Wort, wenn nach dem Sportunterricht in der Dusche die Stunde der Wahrheit schlug. Während unsereins lediglich eine kleine, unbehaarte Made aufweisen konnte, war Michael Schaumann mit einer stattlichen Riesengarnele ausgestattet, die in einem Wildwuchs lockigen Schamhaars hauste. Es war so ungerecht! Mein erstes Schamhaar sollte noch lange auf sich warten lassen. Keine Ahnung, wann genau es spross, aber viel zu spät! Wahrscheinlich hat es sich in einer Socke verfangen und ist elendig in der Waschmaschine abgesoffen, ich weiß es wirklich nicht mehr. Bestimmt habe ich den tragischen Verlust einfach verdrängt.
Doch es gab auch viel Heiteres in dieser Zeit. Noch eine Anekdote will ich berichten, auch wenn ihr ebenfalls ein tragischer Verlust vorausgeht. Wir hatten Oma Nazischlampe bei ihrem Gerd in Heidelberg, genauer gesagt dem Vorort Schönau, besucht und dort einen Züchter kennengelernt, der sich den Jagdhunden widmete. Es waren Beagles, jene zauberhaften kleinen Snoopys, die wegen ihres liebenswerten und duldsamen Charakters nicht nur für Kinder, sondern leider auch für Tierversuche geeignet sind.
Um es kurz zu machen: wir kauften eine Rassehund-Dame, Gustl vom Sowiesostieg, noch ein Welpe, und daher und wegen der Unkenntnis ihres dämlichen Namens völlig unbelastet. Meine Mutter taufte sie "Gussi" was nicht wesentlich intelligenter klang, sich aber besser rufen ließ. Erst später stellte sich heraus, dass sie einen Fimmel hatte: sie rannte immer weg. Egal, wo sie war, sie wollte woandershin, sprang dabei über Zäune oder buddelte sich unter ihnen hindurch. Also traten wir dem Beagle Club Deutschland bei, der sich - wie der Zufall es wollte - keine zwei Kilometer von unserem Haus entfernt am S-Bahnhof Buckower Chaussee befand. Dorthin gingen wir fast jeden Sonntag, entweder zusammen oder meine Mutter oder ich allein mit Gussi, um sie auszubilden. Die Gebrauchshundprüfung wurde abgelegt, Schussfestigkeit trainiert, denn auch die Jagdhundprüfung wollten wir machen. Eines Sonntags - zum Glück ist das nicht mir passiert, sondern meiner Mutter - saßen alle Hundeführer nach dem Training im Clubhaus und zwitscherten einen, als es draußen am S-Bahnhof großes Geschrei gab: Gussi hatte ein Loch gegraben, sich unter dem Zaun hindurch gezwängt, war auf die Gleise gelaufen, gerade als die S-Bahn kam. Die gruseligen Details erspare ich euch jetzt, jedenfalls beschlossen wir, dass die beste Traumatherapie ein neuer Hund wäre, und so fuhren wir zu einem anderen Züchter und erwählten uns Lady Bee vom Kammerforst. Beagles sind normalerweise tricolor, das heißt, das Fell ist weiß und braun mit schwarzer Decke. Lady Bee hingegen war "tan and white", die schwarze Decke fehlte, und so nannten wir sie Blondie. Wie sich herausstellte, war auch Blondie neurotisch. Bei ihr handelte es sich allerdings um Fresszwang. Ich weiß noch wie heute, dass sie einmal - kaum dem Welpenalter entwachsen - irgendwie an einen Kilolaib Brot gelangte, keine Ahnung wie, das Teil lag oben auf dem Esstisch, als wir im Garten waren. Blondie verschlang den gesamten Laib, der etwa die Größe ihres Torsos hatte, und lag dann zwei Tage da, um ihn zu verdauen, so wie das die Phytonschlangen gemeinhin tun.
Ich weiß heute noch, wie wir uns vor Lachen bepissten, als sie versuchte aufzustehen, aber ihr gewaltiger Wanst auf dem Boden schleifte. Abgesehen von dieser einen Macke jedoch war sie ein super Hund, gelehrig, gehorsam und stets gut gelaunt.
Dies nur als Vorgeschichte, denn jetzt kommen wir zur angekündigten Anekdote:
Meine Mutter schickte jetzt meist mich zum Beagle Club und ich hatte viel Freude daran, mit Blondie zu arbeiten, wir legten gemeinsam die Gebrauchshundprüfung ab, und bald war Blondie auch schussfest, man lässt dazu den Hund Platz machen, entfernt sich, der Jäger ballert mit einer sehr lauten Schreckschusspistole mehrmals in die Luft und der Hund darf weder aufstehen, noch sich sonstwie bewegen. Panisches Wegrennen geht erst recht nicht. Es funktioniert über Vertrauen und die Tiere lernen recht schnell, dass ihnen nichts passiert. Außerdem rasten sie an Sylvester nicht aus, es ist also sogar zu ihrem eigenen Vorteil, wenn man so will. Wenn der Hund dann soweit ist, wird für die Schweißprüfung trainiert, die der wesentliche Bestandteil der Jagdhundausbildung ist. Dazu fuhren wir immer in den Grunewald, Herr Sachs, unser Vereinsvorsitzender, passenderweise ein Tierarzt, schon eine Stunde früher, um die Schweißfährte zu legen. "Schweiß" ist der Jägerausdruck für Blut, das Ganze sah dann so aus, dass Herr Sachs ein Karnickel schlachtete, indem er ihm die Kehle durchtrennte und damit die Fährte zum Zielort legte, wo er das Tier an einem Baum befestigte. Derart lief das jedes Jahr ohne besondere Vorkommnisse und so war es auch in jenem Jahr geplant. Wir fanden uns mit unseren Hunden am vereinbarten Ort ein, die Hunde nahmen die Fährte auf und gaben Laut, das Zeichen für den Jäger, dass sein Hund den Schweiß eines waidwunden Tieres - in Ermangelung von Rotwild halt nur ein Kaninchen - aufgenommen hat und jetzt verfolgt. Alle waren sehr zufrieden, die Hunde arbeiteten gut und so begannen wir unseren Marsch durch den Grunewald, um unsererseits der Meute zu folgen, die das Wild aufbrachte. Als wir dann dort ankamen, bot sich uns jedoch ein ungewöhnliches Bild. Herr Sachs stand betreten rum, daneben eine ältere Dame und zwei Polizisten, die ihn festnehmen wollten. Unser Vereinsvorsitzender wirkte sichtlich erleichtert, als er uns erblickte. "Fragen Sie doch die Herrschaften da, die werden Ihnen alles bestätigen!", schrie er mit hochrotem Kopf und leichter Panik in der Stimme, das taten wir dann auch und die Situation löste sich in Wohlgefallen auf. Was war geschehen?
Die Rentnerin, eine Anwohnerin am nahen Waldrand, hatte 110 gewählt und berichtet: "Da ist wieder der Wahnsinnige, ich hatte Sie doch schon letztes Jahr angerufen deswegen. Der zerrt ein totes Karnickel an der Schnur durch den Wald. Jetzt bindet er es an einen Baum, bitte kommen Sie doch schnell und nehmen Sie den fest! Das ist ein Perverser!"
Leider war uns dieser Notruf zu dem Zeitpunkt noch unbekannt, sonst wären wir einfach weiter gewandert: "Den kennen wir nicht. Noch nie gesehen, lochen Sie den lieber ein!"
Solltet ihr also mal einen Typen sehen, der ein totes Kaninchen hinter sich her schleift, dann ruft am besten sofort die Bullen! Es lohnt sich! Und wenn's nur für das dumme Gesicht ist...
Aber zurück zum Eckener-Gymnasium, wo die Hormone sich Bahn brachen.
Eines Tages in der Hofpause kam Anne-Dörthe Schlüns auf mich zu. Vor lauter Schreck vergaß ich gar, eine Erektion zu bekommen, denn sie sprach mich an, ob ich denn nicht mal mit ihr und ihrer Freundin Angela nach der Schule ein Eis essen gehen würde. Ich vergaß den Schrecken und bekam einen Steifen, denn "Eis essen" war der Euphemismus für Knutschen oder sogar Petting!
Heute haben Kids mit 14 oder 15 schon alles gesehen und meist sogar selbst ausprobiert. Hat mit Internet zu tun. Wir hatten maximal billige Schmuddelheftchen mit verklebten Seiten, die wir verschämt weiter reichten. Unser Porno war die Love Story in der Bravo, wo man ab und zu sogar mal eine verträumte, kleine Titte erblicken konnte, von echtem Sex durfte man als Junge damals nicht mal zu träumen wagen. Wenn einer von uns mit der Hand mal unter eine Bluse gelangte, dann war er bereits ein erfahrener Lover...
Und so ging ich der Schule pochenden Herzens in die Eisdiele schräg gegenüber, wo Anne-Dörthe und Angela bereits warteten. Erstere verabschiedete sich, kaum dass sie mich sah, sie müsse noch ein Referat vorbereiten. Na toll!
Ich war so blöd! Es dauerte wenigstens zwei Kugeln Stracciatella, bis ich raffte, dass Anne-Dörthe mich lediglich an ihre Freundin verkuppeln wollte, ein genau so schüchternes und unscheinbares Wesen wie ich es war. Lehrern und anderen Schülern gegenüber mochte ich zwar vorlaut und aufsässig sein, doch Mädchen stellten eine neue Kategorie dar. Bei ihnen verhielt ich mich ähnlich wie ein Raubtier, das in seinem natürlichen Habitat nichts und niemanden fürchtet, vor einer batteriebetriebenen rosa Plüschmaus jedoch in panischer Angst zurückweicht und sie furchtsam umkreist.
Angela Janasik war nicht hässlich oder so, im Gegenteil, sie war ein nettes Mädel, nur lediglich neben ihrer Freundin Anne-Dörthe völlig unsichtbar. Drei Jahre hatte sie in meiner Klasse gesessen, ohne dass ich etwas von ihrer bloßen Existenz geahnt hatte.
Nun zeichnet uns XY-Chromosomenträger eine Eigenschaft aus, auf die ich nicht besonders stolz bin, da sie wohl nur ein evolutionäres Rudiment darstellt, das der Arterhaltung dient:
Sobald ein Weib, nein, das ist zu grob, eine Frau, ein Mädchen, nein wie sag ich es politisch korrekt? Ah, jetzt hab ich’s: Also wenn ein Mensch mit Menstruationshintergrund quasi zur Verfügung steht, dann wird er, also sie, allein wegen dieses Umstandes sofort interessant.
Angela Janasik war da. Und deshalb war sie plötzlich interessant. Ich sah sie an, wie sie da auf ihrem Stuhl saß, mich verliebt anguckte und an ihrem Eis leckte, mehr braucht es für einen pubertierenden Jungen nicht, um sich zu verlieben. Außerdem zeichneten sich beeindruckende Dinge unter ihrem T-Shirt ab, so dass mein Blut nun vollends aus dem Gehirn abgezogen wurde, um einen Meter tiefer sein heimtückisches Werk zu verrichten. Ich konnte nun gar nicht mehr aufstehen, jedenfalls nicht, ohne die Tischplatte anzuheben …
Und so gingen wir seit jenem Tage zusammen, so nannte man das damals: „miteinander gehen“, es wurde geknutscht und gefummelt, was das Zeug hielt, und bald ging es sogar unter die Bluse und – Star Trek-Melodie – in unendliche Weiten, es wurden neue Welten erforscht und man drang in Galaxien vor, die nie ein Mensch gesehen zuvor gesehen hatte ….
Ob es nun die weiblichen Ablenkungen waren oder die solide Grundfaulheit, meine schulischen Leistungen sackten ab. Wie ihr dem Artikel ja bereits entnehmen konntet, war ich vom ehemaligen Einserschüler zum oberen Durchschnitt abgesackt. Nun wurde ich zum hinteren Drittel durchgereicht. Es kam noch dicker: wegen meines schlechten Benehmens war der eine oder andere blaue Brief gekommen, ich glaube, nach drei Einträgen ins Klassenbuch, war jeweils einer fällig, bei mir ergo alle paar Wochen. Nun schliefen meine Mutter und Manfred gern bis 9 und mein Job war es, morgens mit Blondie um den Block zu gehen, die Post und die Zeitung reinzubringen, damit man in Ruhe am Frühstückstisch die Mottenpost lesen konnte, während der Stammhalter bereits in der Schule war. So konnte ich die blauen Briefe stets abfangen, und da meine Mutter eine einfache Kinderhandschrift hatte, war es kein Problem für mich, sie den Lehrern unterschrieben vom Erziehungsberechtigten zur Kontrolle der Kenntnisnahme vorzulegen. Dreieinhalb Jahre war das gut gegangen, doch als im Winter 78/79 das Halbjahreszeugnis kam, standen da eine glatte Fünf in Latein und Französisch – klar, die klassischen Lernfächer – sowie der in roter Tinte fett geschriebene, grausame Satz:
DIE VERSETZUNG IST BEI GLEICHBLEIBENDEN LEISTUNGEN AUSGESCHLOSSEN
Das war ein Schock. Nicht, dass man „gleich bleibend“ damals noch zusammenschrieb – vor der Verstümmelung unserer Muttersprache durch die unglückselige Rechtschreibreform - sondern dass meine Eltern beschlossen, einen Termin mit meinem Klassenlehrer zu vereinbaren, um das weitere Vorgehen gemeinsam zu erörtern. Der Horror!
Alles kam raus …
Das nächste Halbjahr musste ich Latein und Französisch büffeln, Manfred hörte mich mehrmals die Woche ab und – schlimmer noch – meine Eltern schlossen sich regelmäßig mit den Lehrern kurz, um mir den jeweils aktuellen Stoff reinzudrücken.
Es gab kein Entkommen aus dieser unheiligen Allianz, ich wehrte mich zwar durch immer aufsässigeres Benehmen, doch das zog nur noch mehr Stubenarrest und Büffeln nach sich. Am Ende des Schuljahres wurde ich zwar sicher versetzt, schaffte sogar das Latinum, doch man kam überein, dass ein Schulwechsel wohl das Beste wäre, so lautete zumindest das Urteil meiner Lehrer, die keine Anarchisten wie mich in ihrer altehrwürdigen Institution duldeten. Die offizielle Begründung lautete, dass ich in meinem renitenten Rollenverhalten quasi gefangen sei und es einer neuen schulischen Umgebung bedürfte, um mich daraus zu befreien und neue Reize zu setzen.
Und so verließ ich das Eckener Gymnasium mit der mittleren Reife, um auf das OSZ Dudenstraße zu wechseln. OSZ stand für Oberstufenzentrum, eine damals völlig neue Schulform, die auf berufsspezifische Ausbildung setzte, in meinem Falle Wirtschaft. Betriebswirtschaft wurde Leistungskurs, daneben gab es Grundkurse in Volkswirtschaft, Recht, Informatik (damals noch neu und exotisch), Rechnungswesen, Marketing und sogar Maschineschreiben (Schreibmaschinen müsst ihr googeln, liebe Kinder, das waren analoge Laptops ohne Bildschirm, welche nur die Grundfunktionen von Word beherrschten – eine rein mechanische Tastatur mit Farbband – könnt ihr gewiss noch im Museum bestaunen…).
Da ich mit 16 noch außerstande war, einen konkreten Berufswunsch zu artikulieren, hielt Manfred es für richtig, mich auf diese Schule zu schicken, denn ich würde gewiss mal „in die Wirtschaft“ gehen, ein ähnlich diffuses Feld wie 20 Jahre später IMM (irgendwas mit Medien) aber es versprach profitable Zukunftsaussichten. Meine Mutter machte eh, was Manfred sagte, und ich wurde ohnehin nicht gefragt, also war das beschlossen.
Es begann – völlig wider Erwarten – eine herrliche Zeit. Das Eckener-Gynasium hatte ich als bestenfalls mittelmäßiger Schüler verlassen, doch aufgrund der elitären Ausnahmestellung jener völlig antiquierten Institution mit ihren völlig antiquierten Qualitätsstandards wurde ich plötzlich und ohne jede Mühe wieder der beste Schüler. Die Einsen flogen mir nur so zu, ohne dass ich mich groß anstrengen musste, denn in der so genannten Einführungsphase ging es nur darum, den gesamten Jahrgang halbwegs auf eine Wissenslevel zu bringen, jenes Wissenslevel, das ich schon in der 9. Klasse mit einer 3- gehabt hatte. Ich konnte also relaxen und wieder den Pausenclown geben. Doch die Lehrer geißelten einen dafür nicht mit einem Lineal oder zogen einen an den Kotelettenhärchen, sondern schickten einen einfach raus. Eine Win-Win-Situation. Sie wussten, dass ich den Unterricht nur deswegen störte, weil ich gelangweilt war, und wurden mich derart los.
Ich hingegen bekam, was ich wollte: Freizeit in der Cafeteria – ja, wir hatten nicht nur antiautoritäre Hippielehrer aus der 68er-Generation, sondern auch eine chillige Cafeteria und eine riesige Mensa, einen Übungsraum für Musik – mit Drums und E-Gitarren!!! – eine nagelneue Sporthalle mit vielen kleinen und einem riesigen Trampolin, nein, diese frisch erbaute Wellness-Oase unter den Berliner Schulen hatte tatsächlich noch fast 100.000 D-Mark übrig, über die wir – in bester 68er-Manier – demokratisch abstimmten, wie sie auszugeben seien. Eine Bücherei, ein Computerraum (ja, Computer gab es schon, doch waren die unerschwinglich und man meinte, das wäre auch in Zukunft nur etwas für die Raumfahrt und die Kernphysik…), selbst eine Minigolfanlage wurde ernsthaft diskutiert, doch entschied man sich dann mehrheitlich für 50 komplette Skiausrüstungen (= notwendiges Sportgerät, klar doch…), was sogar noch ein paar Tausender übrig ließ um dem gesamten Jahrgang jährliche Busreisen nach Südtirol zu subventionieren, so dass wir bis zum Abitur in den Winterferien für lächerliche 220 Mark (davon allein 80 für den Skipass und die Liftkarten!) 16 Tage Skiurlaub verbringen durften. Es gab sogar Noten für die Skiprüfungen, die in den Sport-Grundkurs einflossen.
Kurzum: Das OSZ Dudenstraße war das Paradies!
Doch bevor ich zu jenen sagenumwobenen Skifahrten komme, möchte ich noch einmal kurz auf meine häusliche Situation eingehen.
Mit 16 wurde es zuhause zunehmend unerträglich für einen freiheitsliebenden Menschen wie mich. Unter der Woche musste ich um 21 Uhr daheim sein, am Wochenende 22 Uhr. Auch nur 5 oder 10 Minuten zu spät zu kommen, wurde disziplinarisch geahndet. Dabei fuhren die Busse um die Zeit nur alle 15 Minuten, verpasste ich also einen (wenn Berliner Busfahrer im Rückspiegel einen heran sprintenden Fahrgast erblicken, warten sie mit dem Schließen der Türen exakt so lange, bis man noch mit der Gusche dagegen knallen kann und fahren dann extra schnell los), konnte ich die rund 2 km von der Bushaltestelle bis zu unserem Haus also nicht gemütlich in einer guten Viertelstunde latschen, sondern musste sie spurten, was mir bald in Zeiten um die 5 Minuten gelang. Wenn ich dann keuchend ankam, musste ich mir die Gardinenpredigt anhören, ich sei schon wieder 5 Minuten zu spät, warum ich nicht einfach einen Bus früher genommen hätte etc.pp. Wohlgemerkt: meine Mutter und Manfred hatten seit Ewigkeiten ZWEI Autos und konnten sich nur verschwommen an die öffentlichen Verkehrsmittel erinnern, so dass jedes Argument meinerseits völlig sinnlos war und als lahme Ausrede abgetan wurde.
Aber es begab sich zu der Zeit, dass wir unsere Terrasse unterkellerten und diverse Aushub- und sonstige Transportarbeit anfiel, für die sich Manfred zu fein war und die ich dankenswerterweise übernahm, versprach man mir doch dafür am Ende der Sommerferien ein Moped zu kaufen. Keine 4er (Führerscheinklasse IV bis 80 Kubik und Km/h – in Wirklichkeit fuhren die über 100), aber immerhin eine 5er (bis 50 Kubik und 50 Km/h, fuhren aber um die 70). Also schuftete ich jeden Tag, schippte Kies und mischte Zement, den ich dann mit der Schubkarre zur Verarbeitung in unserem Vorgarten fuhr.
Am Ende der Sommerferien war die Terrasse fertig und ich bekam den 4er Führerschein bezahlt und als die Prüfung bestanden war, spendierte mir Manfred schließlich den feuchten Traum eines jeden Teenagers, zwar nur eine 5er, aber immerhin mein erster Hobel:
Dunkelgrün war er mit einem schwarzen Scheinwerfer, in den der Tacho eingelassen war. Natürlich nicht neu, sondern gebraucht von einem 18jährigen - ebenfalls in Lichtenrade - der auf ein Auto umstieg.
Nun war die 4er Führerscheinprüfung eine rein theoretische. Praktisch hatte ich noch nie auf einem Moped gesessen, jedenfalls nicht als Fahrer, und so warfen wir die Starflite an, sie knatterte auch brav und ich beschloss, vor dem Kauf eine Probefahrt zu machen. Mit der allen männlichen Jugendlichen eigenen Selbstüberschätzung, legte ich den ersten Gang ein und drehte am Gashebel und ließ die Kupplung kommen, selbstverständlich viel zu schnell!
Der Bock erhob sich auf sein Hinterrad und ich vollführte meinen ersten Wheelie, doch leider völlig unkontrolliert. Bäuchlings auf dem Sattel liegend, mich verzweifelt am Lenker festhaltend und dabei automatisch noch mehr Gas gebend, schleifte mich die fast senkrecht fahrende Karre etwa 200 Meter, bis ich in eine rotweiß gestreifte Baustellenbegrenzung krachte, mich überschlug und dankenswerter Weise auf einem Rollsplitthaufen landete. Das Moped hatte, bis auf ein paar Kratzer alles gut überstanden. Ich ebenfalls. Wegen der Kratzer musste Manfred es jetzt kaufen und wegen meiner Unfähigkeit durfte ich es etwa 2 Kilometer bei sengender Sonne nach Hause schieben.
Ein neues Schuljahr begann und ich musste weiter mit Bus und U-Bahn zur Penne. Ganze 6 Wochen ließ Manfred mich die stets unbelebte Eisnerstraße auf und ab fahren, bis ich die Karre beherrschte und die heimische Straße verlassen durfte. Dann musste ich - verfolgt von Manfred und meiner Mutter im Auto - meinen Schulweg von Lichtenrade bis zur Dudenstraße in Schöneberg fahren. Einmal vergaß ich den Blinker beim Spurwechsel, wurde dafür gescholten, aber sonst ging alles glatt. Was mir damals als unglaubliche Schikane vorgekommen war, sehe ich heute als Fahrschule und den Versuch besorgter Eltern, dafür zu sorgen, dass sich ihr Spross nicht gleich am ersten Tag im Berliner Verkehr umbringt.
Doch ich war natürlich ein undankbarer, uneinsichtiger Teenager und hasste sie dafür, wollte ich doch vor meinen Mitschülern mit dem Moped angeben, das zwar nur eine 5er war, aber aussah wie eine 4er. Und 74 km/h zeigte der Tacho an, das hatte ich - bergab mit Rückenwind - genau getestet!
Ich sollte mich selbst noch oft überschätzen im kommenden Herbst und noch oft den Asphalt küssen - wer hätte vermutet, dass nasses Kopfsteinpflaster oder gar Basalt rutschig ist oder feuchtes Laub glitschig?
Wer rechnet schon damit dass einen bei einer Vollbremsung im Regen das eigene Hinterrad überholt? Aber wie durch ein Wunder überlebte ich das Jahr ohne schwerere Verletzungen.
In den zweieinhalb Januarwochen vor Beginn des zweiten Halbjahres war Klassenreise angesagt. Genauer gesagt: eine Reise der gesamten Oberstufe. Klassen - auch das war neu für mich - wurden mit Beginn der Grund- und Leistungskurse abgeschafft. So saßen in Mädchenfächern wie dem Bioleistungskurs 40 Schüler, in Physik nur fünf (mich eingeschlossen). Aufgrund der Spezifik unserer Schule war klar, dass Betriebswirtschaft als Leistungskurs gesetzt war und das zweite Prüfungsfach im Abi werden würde. Die anderen konnte man wählen, doch es musste ein sprachliches Fach dabei sein (alle nahmen Deutsch, sieben wackere Zwerge und ich Englisch) und ein naturwissenschaftliches (siehe oben, Mathe hatten ALLE in der Sekunda abgewählt, nur so lang war es Pflicht, zumindest als Grundkurs). Das vierte Prüfungsfach war frei wählbar, und auch wenn zwei dicke Kids und ein paar Mädchen sich für Musik oder Kunst entschieden, wählte der Rest von uns Sport, denn - und hier schließt sich der Kreis - es wurde tatsächlich ein Skikurs angeboten, der in die Note mit einfloss, und so fuhren wir bis zum Abi jedes Jahr nach Vals in Südtirol, um dort die Pisten unsicher zu machen. Scheiße, hatten wir ein Glück!
Die Reise wurde von unseren beiden Sportlehrern geleitet, Herrn Fritzsche und Herrn Michail mit unaussprechlichem russischen Nachnamen, den wir deshalb auch nur „Herr Michail“ nannten. Er war ein Mitglied der sowjetischen 1960er Ringer-Olympiamannschaft gewesen und nach der Olympiade in Rom anlässlich eines internationalen Ringerturniers in Berlin aus der Halle getürmt und seitdem im Westen geblieben. Auch wenn das zu diesem Zeitpunkt bereits 20 Jahre her war, sprach er nur gebrochenes Deutsch, aber es reichte damals anscheinend, um als Sportlehrer verbeamtet zu werden.
Herr Fritzsche hingegen war ein anderes Kaliber. Man fühlte sich ins Kaiserreich zurückversetzt, wenn man ihn sah mit seinem Bürstenschnitt, Zwirbelbart alà Horst Lichter und dem Schmiss im Gesicht – der Mann war Mitglied einer schlagenden Verbindung und trug diese Narbe, die von einer Mensur stammte, als Ehrenmal. Wenn er im Sportunterricht eine Übung vorturnte, hob er den rechten Arm – wie zum Hitlergruß – und rief laut „Fritzsche Deutschland“, bevor er die Übung turnte. Zigmal hatten Eltern ihn verklagt, doch man kam ihm nie bei, denn er wusste genau, wo die Grenze war und er war auch kein echter Nazi, sondern ein "Kaiserdeutscher", der es einfach nur liebte, gegen den 68er Wind zu pissen.
Was ein Kaiserdeutscher ist, davon später mehr, für den Moment genügt es, dass wir Schüler Herrn Fritzsche, der neben Sport auch Englisch Leistungskurs unterrichtete, in einer Mischung aus Abscheu und Bewunderung betrachteten, denn einerseits war uns jedes rechte Gedankengut zuwider - das Dritte Reich und seine Verbrechen waren uns immer und immer wieder eingetrichtert worden, nicht nur in Geschichte, sondern auch in Deutsch und Sozialkunde - andererseits war Herr Fritzsche extrem intelligent und humorvoll, was, in Verbindung mit seiner offensichtlichen Verachtung für Autoritäten auf Jugendliche eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübt: der Mann hatte Charisma!
Dieses ungleiche Paar brachte uns das Skifahren bei, was auch auf dem Anfängerhügel ganz gut klappte. Als es dann auf die Piste ging, sah es anders aus: ein Tellerlift sollte uns den Berg hinauf ziehen. Ich Depp fuhr als Erster und dachte, man könne sich auf diesen Teller setzen, und fiel natürlich prompt auf meinen Arsch, hielt mich an dem Teller fest, der aussah wie das Lenkrad eines Kettcars, und ließ mich fast einen Kilometer nach oben schleifen, dort empfangen von den wilden Flüchen eines Liftführers, weil es mir so gelungen war, die komplette Spur zu zerstören, welche meine ebenfalls ungeübten Klassenkameraden normalerweise wie auf Schienen herauf geleitet hätte. Da ich jedoch nur aufgewühlten Schnee hinterließ, eierten alle rum, fielen ebenfalls hin und wurden wie totes Vieh hochgeschleift. Oder sie ließen los, fuhren wieder runter und mussten sich erneut anstellen und - was viel schlimmer war: ihre 10er Liftkarte wurde zum zweiten Mal gelocht - ein Desaster!
Oben angekommen sammelten Herr Fritzsche und Michail die Überlebenden und trichterten uns mahnend ein, die Parallelschwünge zu vollführen, die wir trainiert hatten und sobald wir zu schnell würden, den Schneepflug einzusetzen.
Nun waren wir alle 16 bis 17. Muss ich mehr sagen? Während die Mädchen und die unsportlichen Jungs brav ihre Schwünge übten, lieferten wir Halbstarken uns ein Rennen. Im Schuss ging es den Berg hinunter, dabei laut den Schlachtruf der Ramones "Gabba Gabba Heee!" brüllend. Michail versetzte das in Panik. Er sah sich schon unsere zerschmetterten Körper im Tal aufsammeln und wie er das unseren Elterrn erklären musste, also setzte er - ein exzellenter Skifahrer - zur Verfolgung an, laut rufend "Parallelle-Parallelle!" - nur mit noch mehr Ls in dem Wort als es dem Schriftbild hier gut täte ...
Wir hingegen, berauscht von der Schussfahrt, dachten gar nicht daran. Einer versuchte es, doch da er bereits viel zu schnell war, endete sein Parallelschwung in einer weißen Wolke aus Schnee und Hautabschürfungen. Die Talstation kam immer näher und nun setzte auch bei uns so etwas wie ein Lebenserhaltungstrieb ein, zumal Michails Rufe immer heiserer, schriller und panischer klangen; "Schneeeeeefluuuuch! Daaawai! Schneeeefluuuuuch!"
Schon mal versucht, in voller Schussfahrt einen Schneepflug zu machen? Es wird ein schöner Salto vorwärts. Vier Jungs hatte es noch nicht gerissen, aber nun erwischte es uns alle. das Problem war eigentlich nicht, sich bei hohem Tempo immer und immer wieder zu überschlagen. In schönem Pulverschnee tut da kaum weh, macht sogar Spaß (wenn man 16 ist und dämlich ...), das Problem waren die Skistopper. Kennt ihr diese kleine Bremse, die ausfährt, sobald sich die Bindung löst? Sehr sinnvoll, damit der Ski nicht endlos weitersaust, um im Tal jemanden aufzuspießen oder für immer verloren zu gehen. Ihr kennt also die Skistopper? Gut. Denn wir hatten keine. Die kamen Anfang der 80er groß raus. Wir hatten LEDERRIEMEN! Ja, mit guten alten Lederriemen war der Ski am Stiefel befestigt, was im Prinzip denselben Zweck erfüllte: der Ski verschwand nicht im Tal. Was der Ski stattdessen tat - speziell, wenn man sich in hohem Tempo mehrmals überschlug - war einen windelweich zu prügeln. Man bekam die Stahlkanten (ja Stahlkanten, wir kannten noch keine Karbonfasern!) immer und immer wieder in die Fresse, ins Kreuz, gegen die Schienbeine und jedes andere Körperteil, so dass wir - als wir endlich zum Stillstand kamen - das Gefühl hatten, man hätte uns mit einer Eisenstange verdroschen. Einer wurde mit sechs Stichen genäht, ich hatte mir das Knie verdreht, aber ansonsten waren wie durch ein Wunder keine größeren Verluste zu beklagen. Ronalds Schneidezähne wackelten und er jammerte, was nur dazu führte, dass Reiner und ich sich nachts in den Materialraum schlichen, wo unsere Ausrüstung lagerte, und in seine Skistiefel schissen. Also wir wollten, Reiner schaffte das auch, aber ich konnte einfach kein Ei legen, weshalb ich einfach hineinschiffte und das gute Stück immerhin bis zum Knöchelschutz füllte. Es war ein schönes Bild am nächsten Morgen. Ronald zog sich zuerst meinen an "IHHH, welche Sau war das!?"
Unter allgemeinem Gelächter den Stiefel ausgekippt und mit Zeitungspapier gefüllt. Hilfreich wie ich nun mal war, brachte ich noch einen Fön, denn ich wollte sicherstellen, dass er den zweiten Stiefel auch noch anzog. Fritzsche mahnte zur Eile, Zeitungspapier raus, schnell Fön reingehalten und - Ronald war jetzt argwöhnisch - den anderen Stiefel umgedreht. Kam keine Pisse raus, schien ok zu sein. Und schwupps - hinein ins Vergnügen!
Robert fuhr an diesem Tag nicht mehr Ski...
Anlässlich folgender Ereignisse möchte ich jetzt doch noch ein paar nachdenkliche Worte über Reiner und Ronald verlieren. Reiner und ich sind seit nunmehr 35 Jahren beste Freunde. Niemand könnte gegensätzlicher sein als wir beide.
Ich bin das verwöhnte Einzelkind aus ziemlich gutem Hause, immer gut in der Schule, das meiste flog mir ohne große Anstrengung zu, ich war ein extrovertierter Pausenclown, immer laut, unsensibel und nie bescheiden.
Reiner Lohse hingegen kam aus einer bitterarmen Familie mit zehn Kindern. Acht hatten überlebt. Als er 13 war, starb seine Mutter an Krebs, seinen Vater fand er kurz darauf erhängt auf dem Dachboden - Selbstmord. Reiner hatte zwei jüngere Schwestern und fünf ältere Geschwister. Die Älteren zogen die Jüngeren auf. Evchen war damals schon an die 40 und ihr Sohn Bruno war in unserem Alter, gut ein Jahr jünger, sie kümmerte sich um Reiner, bis ihm das Sozialamt eine eigene Wohnung besorgte, da war er 17. Einmal sitzen geblieben, war er sowieso schon ein Jahr älter als wir, aber er war mit 1.92m auch der Längste. Dennoch war Reiner ein schüchternes Kind, stotterte teilweise, war intelligent, aber schlecht in der Schule, ein Schweiger, sensibel und bescheiden.
Er saß links neben mir, Ronald rechts. Der war ebenfalls hoch aufgeschossen, 1.90m, genau wie ich und vielleicht saßen wir auch deshalb zusammen, weil wir die langen Lulatsche waren, jeder auf seine Art Außenseiter, doch zusammen wagte niemand, uns anzupissen.
Ronald Krause war ein extrem gut aussehender Junge, aber aus Gründen, die wir nie herausfanden, voller Komplexe. Seine Familie wohnte in der Leibnizstraße, ganz dicht am Ku-Damm, eine Topadresse, sie war wohlhabend aber nicht reich. Ronald hatte alles, viel Taschengeld, er bekam mit 18 schon ein Auto aber er war immer unzufrieden. Ronald war nicht besonders schlau. Ihm fehlte jede soziale Kompetenz und er versuchte daher, die Leute mit seinen materiellen Möglichkeiten zu beeindrucken, trug immer schicke Klamotten aber gab auch an wie eine Tüte Mücken, weshalb ihn niemand leiden konnte. Und er war großspurig, erzählte von vielen Frauengeschichten, die aber so erbärmlich offensichtlich erfunden waren, dass niemand darauf hineinfiel. Obwohl er so gut aussah!.
Alle spielten ihm immer Streiche, auch Reiner und ich. Also hauptsächlich ich. Wir drei saßen in der letzten Reihe. Reiner und Ronald, weil sie schlechte Schüler waren und nicht auffallen wollten, ich weil ich gelangweilt war und so besser Scheiße bauen konnte. Ronald war immer schläfrig - heute glaube ich, dass es an Medikamenten lag, aber dass er zum Psychiater ging, erfuhren wir erst Jahre später - und ratzte sogar ab und zu weg. Die Lehrer störte das nicht, solange es den Unterricht nicht störte. Einmal war er weggenickt, ich stupste Reiner an und lieh mir sein Lineal. Lineale waren damals noch aus Holz. Ronald trug enge Röhrenjeans und ich zog ihm eins über den Oberschenkel. Er schrie laut, ich versteckte das Lineal und blickte aufmerksam zum Lehrer, einem kleinen dicken Herrn Fraebel, den ich sehr mochte, der mich auch sehr mochte und der mir mal erklärte, Kindererziehung sei für ihn eine Tortur. Sein verhaltensgestörter Sohn übergab sich immer, wenn ihm was nicht passte. Wann auch immer Herr Fraebel also mit Fraebel Junior einen Disput hatte, schleifte er ihn ins Bad und setzte ihn in die Wanne, bevor er erzieherisch tätig wurde. Nur so waren Polstermöbel im Hause Fraebel zu erhalten. Dennoch, so klagte er mir mal in einer Hofpause, zöge stets ein säuerlicher Geruch durch seine Wohnung, da sein Sohn leider regelmäßig Mist baute.
Egal, jener Fraebel stauchte Ronald mächtig zusammen, während ich in mich hineingrinste. Keine zehn Minuten waren vergangen, Ronald wieder weggenickt, da holte ich das Lineal raus und wemste es ihm mit aller Kraft über den Oberschenkel, dass das Holz einen Sprung bekam. Mit einem Ohren betäubenden animalischen Jaulen schrak Ronald hoch, nicht wissend, wie ihm geschah, und Fraebel platzte der Kragen. Aus Ronald würde nie etwas werden, ihm mangele es an Disziplin, er solle sich ein Beispiel an mir nehmen (haha, ausgerechnet an mir - aber ich war nun mal Fraebels Liebling und bekam immer eine 1, also 14 oder 15 Punkte, was einer 1 oder 1+ entsprach), dann warf er ihn aus der Klasse und der arme Ronald schlich sich wie der geprügelte Hund, der ja auch war.
Warum elaboriere ich das alles? Aus schlechtem Gewissen. Die Geschichte, die folgte, muss ich erzählen, denn auch wenn ich mir nicht wirklich die Schuld an den Vorkommnissen gebe, frage ich mich dennoch, ob nicht alles anders gekommen wäre, wären wir nicht immer so gemein zu ihm gewesen. Nicht, dass wir nicht auch viel Spaß mit ihm gehabt hätten, Reiner, Ronald und ich verbrachten viel gemeinsame Zeit miteinander, meist nur Reiner und ich, aber Ronald war oft dabei, genau wie Evchens Sohn Bruno, wir waren Fans von Strategiespielen, spielten ganze Wochenenden irgendwelche Schlachten nach. Egal, Folgendes geschah:
Mit 17 lernte Ronald seine erste Freundin kennen, Simone Viol, eine Postlerin. Postler nannten wir die Berufsschüler am OSZ, die Post- und Verwaltungswesen lernten, das geschah in einem anderen Teil desselben Gebäudes. Simone Viol war 16, nicht hübsch, nicht hässlich, ein geistig wie körperlich unscheinbares Mädchen. Ronald und sie waren ein paar Monate zusammen, dann machte Simone mit ihm Schluss. Drei Wochen später verschwand Simone Viol und wir bekamen alle Besuch von der Mordkommission, deren Fragen eindeutig in Richtung Ronald Krause zielten. Wir alle beschrieben ihn als labil und auch am Boden zerstört, denn das war er damals und das ist wohl jeder von uns gewesen, nachdem die erste große Liebe mit einem Schluss gemacht hat, oder? Ich, du, JEDER!
Aber Entführung oder gar Mord? Nein, das konnte sich keiner von uns vorstellen!
Doch um der Chronologie Willen sollte ich zuerst bis zum Abi weiter erzählen. Im Prüfungsjahr entschloss ich mich zu einem folgenschweren Schritt: ich musste von zuhause weg. Reiner und ich verbrachten viel Zeit miteinander, meist ungestört von lästigen Eltern, Musik hörend und Strategiespiele spielend in seiner Wohnung in Tegel, was im nördlichsten Teil Berlins lag - ganz im Gegensatz zu Lichtenrade am südlichen Stadtrand. Mit den Öffentlichen fuhr man anderthalb Stunden, mit der 5er auch noch fast eine Stunde. Speziell im Winter 1980/81, wo es bitterkalt war, wurde dies zur Tortur. Trotz dicker Jacke, Balaklava, Handschuhen und langen Unterhosen, war ich nach 30 Minuten im Fahrtwind steif gefroren und meine Finger ließen sich kaum noch bewegen. Wenn ich dann in Lichtenrade ankam, fehlten mir tatsächlich Kraft und Gefühl, den Haustürschlüssel umzudrehen, denn unser Schloss war sehr schwergängig, ganz besonders bei Kälte. Und nach wie vor musste ich pünktlich zuhause sein, 5 Minuten Verspätung war ein Unding, wozu hatte man mir denn ein Moped gekauft?
Eines solchen Winterabends bekam ich mal wieder die Tür nicht auf, weil meine Hände total steif und Finger nur noch optisch wahrnehmbar waren. Ich hatte geklingelt, versucht, mir die Hände in der Hose zu wärmen, aber ich bekam die Handschuhe auch mit den Zähnen nicht ausgezogen. Aber meine Mutter und Manfred waren ausgegangen, da konnte ich mir einen Wolf klingeln. Die Nachbarn waren ebenfalls nicht zuhause, also musste ich sehr lange warten, bis meine Eltern irgendwann fröhlich von ihrer Sause heimkehrten. Ich bat sie, mich doch ab und zu bei Reiner übernachten zu lassen, wenigstens im Winter, argumentierte, dass ihr "Du musst rechtzeitig ins Bett, damit du frisch für die Schule bist" zumindest an Wochenenden kein Argument sei und die Gefahr, auf Berlins eisglatten Straßen halb erfroren heim zu fahren, doch viel größer sei als alles, was sie sich vorstellten, außerdem sei ich doch in 5 Monaten eh volljährig, also zur Hölle noch mal, was sollte der Scheiß?
Es kam zum Eklat.
Nie würde ich aushäusig übernachten dürfen (Ausnahme Klassenfahrten oder Verwandtenbesuche), nie würde je ein Freund bei uns übernachten dürfen (Mutter und Manfred rannten morgens gern leicht oder unbekleidet herum und fühlten sich in ihrer Privatsphäre gestört), ich hätte weiterhin pünktlich zuhause zu sein und basta!
Und da lag ich in meinem Zimmer, litt ziemliche Schmerzen - angefrorene Finger haben kein Gefühl, aber wenn sie wieder auftauen, tut das höllisch weh! - kultivierte meinen jugendlichen Hass und schwor Rache.
Ich würde nie wieder ein Wort mit meinen Eltern sprechen und von zuhause abhauen, sobald ich die Wohnsituation geklärt hatte. Kindisch, ich weiß, aber ich war 17 ...
Und so hörte ich mich um, nach Möglichkeiten zum Pennen und vor allem Jobs. Wie der Zufall es wollte, war ein Schwuler im Englisch Leistungskurs und auch im Physik-Grundkurs, ein gewisser Frank Urban. Da waren noch mehr Schwule, aber die meisten outeten sich erst bei der Abifete. Doch Frank-"Du darfst mich Franka nennen"-Urban trug schon immer Lidschatten, hohe Stiefeletten und wackelte in seinen viel zu engen Röhrenjeans über den Hof, wobei er/sie/es den typisch transenmäßigen Hüftschwung pflegte. Das störte keinen. Frank war nett. Franka war cool.
Außerdem hatte Frank ein interessantes Hobby: Akustik. Er baute Boxen. Wir freundeten uns an, also nicht dass ich ihm irgendwelche Hoffnungen gemacht hätte - ich sollte bald rausfinden, dass ich eine Hete war. Er lebte in Mariendorf mit seinem sehr alten Vater (Mutter war verstorben) in einem großen Einfamilienhaus und hatte das gesamte Kellergeschoss für sich. Das Witzige dabei: er war der Boss, kaufte ein, kochte, fuhr schon Auto (waren eigentlich alle ein Jahr älter als ich???) und verdiente ordentlich Schotter mit dem Verkauf von Boxen und selbst entwickelten Frequenzweichen, ein echter Tüftler. Sein Vater war eher so der schusselige Typ, Frührentner, trank viel und kümmerte sich um nichts. Eigentlich ein Traum, denn man hörte von ihm immer nur zwei Worte: "Macht mal!"
Eine Anekdote muss ich zum Besten geben, denn da lernte ich zum ersten Mal, wie mächtig autosuggestive Kräfte sein können. Die Urbans hatten sich eine nagelneue Einbauküche gekauft mit dem allerneuesten Gimmick: Cerankochfelder. An Induktion war damals noch nicht zu denken, man hatte also entweder elektrische Kochplatten oder Gas. Die Urbans hatten Ceran oder den Vorläufer davon, keine Ahnung, wie das hieß, war jedenfalls eine Weltneuheit - keiner hatte sowas und es begab sich, dass wir eines Tages zu dritt in der Küche standen. Nun kann man ja bei Induktion - selbst wenn das Wasser kocht - den Topf herunter ziehen und die Hand drauf legen, das Feld selbst bleibt kalt. Diese damals noch neumodischen Ceranfelder hingegen wurden verdammt heiß! Wir standen also zu dritt in der Küche, Frank erzählte irgendwas, ich weiß nicht mehr worüber, und stand dabei an den neuen Herd gelehnt, sich mit beiden Händen nach hinten abstützend. Ich bin jemand, der anderen gerne Streiche spielt (umgekehrt liebe ich das auch, nur von hinten erschrecken dürft ihr mich nicht, da gibt euch mein Stammhirn eins in die Fresse, bevor mein Großhirn das registriert hat), und als ich Frank so sah, mit den Händen auf den Herdplatten, schrie ich plötzlich mit schreckgeweiteten Augen: "Frank, deine Hände!"
Der riss die Hände vom Herd, brüllte wie am Spieß, rannte zur Spüle und hielt die Pfoten unter kaltes Wasser. Lachend erklärten wir ihm, dass das ein Joke war und der Herd natürlich ausgeschaltet, doch dann konnten wir unseren Augen kaum trauen: Frank streckte seine Hände vor und zeigte uns die fetten Brandblasen, die seine Handflächen fast völlig bedeckten. Wie war so etwas möglich? Tatsächlich muss die Information "Handflächen auf heißer Herdplatte" irgendwie eine psychosomatische Reaktion in Form von Brandblasen ausgelöst haben, und zwar blitzartig. Tatsächlich ist die Brandblase ja ein Schutz: die oberste Hautschicht löst sich ab und füllt den Zwischenraum mit Flüssigkeit, was quasi ein Polster ergibt, um tiefer liegendes Gewebe von der Hitzequelle zu isolieren und weitere Gewebeschäden abzuwenden. Egal, wie schön man das wissenschaftlich erklären kann, war es faszinierend, das zu beobachten. Frank selbst war zu ungläubig, um mir böse zu sein. Ich legte beide Händen auf die Kochfelder - sie waren kalt - er konnte es nicht fassen.
Wir stachen die Blasen auf, sie trockneten schnell aus und schon nach vier bis fünf Tagen konnte er die Pelle abziehen - alles war fix geheilt, Frank war das Schulgespräch, hundertfach mussten wir die Story erzählen und Frank zeigte noch Wochen lang seine dunkelbabyrosa Patschehändchen vor, um sie bestaunen zu lassen.
Naja Anekdote hin oder her - sorry, die hier musste einfach sein - Frank und ich wurden Freunde, gingen am Wochenende auch zusammen weg und so wurde ich in die Berliner Schwulenszene eingeführt, die damals wohl die größte und freizügigste in Europa war.
Nun ging ich schon seit ich 15 war in Diskotheken, ab 16 kam ich sogar in die guten Läden, wo man fast jede Nacht David Bowie oder Iggy Pop traf, die sich damals in der Hauptstraße 155 in Schöneberg (ist bei mir gleich um die Ecke...) eine Wohnung teilten und von Ende der 70er bis Anfang der 80er das Berliner Nachtleben bereicherten. Doch nun, mit, fast 18 eröffnete sich mir eine neue Welt und ich wurde in eingeweihte Zirkel eingeführt. Man muss dazu erwähnen, dass die größten, besten und berühmtesten Szeneläden von Schwulen geführt waren: Das legendäre Sound gehörte Schumacher, das Metropol, all die Ballhäuser und Lorettas (Ballhaus Spandau, Ballhaus Moabit - Loretta Lietzenburger, Loratta am Wannsee) und noch ein paar andere Läden gehörten Klaus Wehler, von dem ich euch noch berichten werde. Dann gab es noch den schwulen Kiez um die Kleiststraße, der vom Nollendorf- über den Wittenbergplatz bis zum Ku-Damm ging (ist heute noch so, nur weniger Läden) und in jeder Seitenstraße noch einige Szeneschuppen beherrbergte, den Dschungel, das K1, das Wuwu, das Trocadero, das Pour Elle (ein Lesbenladen), um nur einige der wichtigsten zu nennen. Hier tobte der Bär bis morgens um 7, dann traf man sich in den unzähligen Cafes für den Absacker oder gar feste Nahrung. Doch Frühstück vor 18 Uhr war verpönt, auch wenn man damals alles rund um die Uhr bekam - Berlin vor dem Mauerfall! Was für eine Partyinsel der kollektiven Glücksseligkeit!
Doch für mich waren das noch verbotene Früchte, ich musste unter der Woche um 22 Uhr zuhause sein, wenn Frank, sich noch nicht einmal zu schminken begann - Berliner gehen vor Mitternacht nicht in eine Zappelhalle, das machen nur Kinder, Wessis und Touris! - und selbst am Wochenende hieß es für mich 23 Uhr zuhause oder Stubenarrest!
Also kam es unweigerlich zum bereits angekündigten Eklat.
Ich zog mit Frank und einer großen Gruppe Tunten und Transen um die Häuser - bis zum frühen Morgen - und dann versackte ich auf Franks Couch. Am frühen Nachmittag rief ich zuhause an, um anzukündigen, dass ich noch am Leben sei. Dort war merkwürdigerweise niemand besorgt, die Antwort war ein eisiges "Komm du mal nach Hause, Freundchen!"
Die Funkstille mit meinen Eltern hatte ich so gut wie möglich aufrecht erhalten. Etwa zwei Monate richtete ich kein Wort an sie, bemühte mich, Fragen nur mit einem Grunzen, Nicken oder Kopfschütteln zu beantworten, doch kamen auch komplexere Fragen, die man nicht ignorieren konnte, denn dann kam ein "Antworte gefälligst, wenn man dich was fragt!"
Jetzt stand ein Gespräch an. Verkatert fuhr ich heim.
Nachdem ich Manfreds Gebrüll und Mutters Flehen, man wolle doch nur mein Bestes, über mich hatte ergehen lassen, fragte ich noch "War's das?", worauf mir derselbe Salmon erneut entgegenschlug und zusätzlich ein Monat Stubenarrest verhängt wurde.
"Das wars!", verkündigte ich, "Ich hau ab."
Sprachs, ging in den Keller, wo mein Koffer in einem Abstellraum gelagert war, kam die Treppe wieder hoch und ging in mein Zimmer, um zu packen. Mutter heulte, Manfred kam in mein Zimmer, streckte seinen Zeigefinger drohend vor und verbat es mir. Ich schaute ihn nur schicksalsergeben an: "Willst du mich verprügeln? Mach das! Ich bin in nicht mal 10 Wochen volljährig, dann bin ich eh weg. Willst du mich so lange einsperren? Ich muss zur Schule. Keine Sorge, ich mach mein Abi fertig. Willste mich heute noch einsperren? Ok, mach das, dann hau ich morgen nach der Schule ab. Von mir aus halt ohne Klamotten zum wechseln, dann stinke ich eben ab morgen..."
Sie starrten mich entgeistert an, als ich ging, Manfred versteinert, Mutter verheult.
In jener ersten Nacht, da ich die Freiheit kostete, hatte ich - wohl auch unter dem Einfluss diverser Drogen, die man mir anbot - viele neue Freunde gefunden und viele gute Gespräche geführt. Frank bot mir an, bei ihm zu pennen und da ich ein halbwegs hübscher und gut gebauter Junge war, bot man mir in diversen Bars, Diskotheken und Nachtklubs an, ich könne gerne kellnern. Denen war egal, ob ich eine Hete war, Hauptsache, ich sah gut aus und klaute nicht, dann wäre das kein Problem.
Naiv wie ich war, nahm ich alles für bare Münze, doch es stellte sich erstaunlicherweise heraus, dass fast alle zu ihrem Wort standen, auch jene, die ich erst seit letzter Nacht kannte.
Nun war Franks Couch keine Dauerlösung. Sein Vater murrte zwar nicht, aber Frank war - für einen 18jährigen Berliner Schwulen völlig normal - sexuell sehr aktiv. Und so verbrachte ich so manche Nacht übermüdet in Cafes oder sogar - zwischen Tegel und Lichtenrade hin- und herfahrend in der U6 - denn Schwulensex machte mich nicht wirklich an und Franks Lover fanden es auch eher abtörnend wenn beim gepflegten Arschficken drei Meter weiter eine Hete auf der Couch liegt und Carlos Castaneda liest...
Die Lösung lag in einer Umstellung meines Biorhythmus', ich schlief jetzt nachmittags, machte mich dann fertig, arbeite nachts in diversen Clubs, frühstückte um 7 in einem Cafe und ging dann um 8 zur Schule. Perfektioniert wurde dieses System dann durch zwei neue Jobs, die auch mein Wohnungsproblem lösen sollten.
Die beiden ältesten von Reiners Brüdern eröffneten ein Sportstudio. Fitness und Bodybuilding war eine völlig neue Welle, die da aus den USA angeschwappt kam und hier auf einen relativ jungfräulichen Markt traf. Manche Mark konnte ich mir durch Hilfsarbeiten beim Ausbau der Fabrikhalle dazu verdienen, welche Gerd und Jürgen (letzterer von allen und auch von mir fortan nur "Der Dicke" genannt) in der Rheinstraße in Steglitz günstig angemietet hatten, um dort das Studio "Deen" - benannt nach einer Figur aus den Heavy
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 16.10.2015
ISBN: 978-3-7396-1850-0
Alle Rechte vorbehalten