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Buch IV

 

Alpha O‘Droma

 

EINS

Die Entscheidung

 

 

 „Er ist uns entkommen“ Demütig neigte Jonathan Spook das Haupt. Das Eingeständnis seines Versagens - so unerträglich wie einmalig.

Bruder Jonathan war kein gewöhnlicher Freimaurer. Er bekleidete in der höchsten aller Logen die Position des Jagdmeisters. Außerdem bekleidete er den Posten des Chief Directors der CIA, ein sehr hilfreiches, aber vergleichsweise geringes Amt. Den gesamten Apparat hatte er mobilisiert, Agenten in aller Herren Länder geschickt, die Zielperson identifiziert, in Nepal lokalisiert und eingekreist, aber dennoch war ihm dieser kleine Wichser entwischt. Dabei handelte es sich nicht mal um einen Profi. Lächerlich!

 

Besagter Wichser hört auf den Namen Thor Becker und ist der Held unseres kuscheligen kleinen Epos’.

 

In Bruder Jonathan brodelte es. Dieser Kraut hatte nie eine Feldausbildung erhalten. Als Berliner Mauerkind war er nicht mal beim Militär gewesen. Ein nichtsnutziger kleiner Globetrotter, ein Zocker, der ein Vermögen machte, als die Börse wegen dieses dummen Aliens verrückt spielte. Und jetzt war er der gefährlichste Mann auf diesem Planeten. Er trug eine Art Virus in sich, das die Weltordnung bedrohte, jene Ordo seclorum, die seine Brüder in Jahrhunderte langer Schwerstarbeit mühsam aufgebaut und die zu verteidigen er, Jonathan, Bewahrer des Lichts, bei seinem Leben geschworen hatte. Und dann kommt so ein Freak daher und ...

„Gräme dich nicht, Bruder Jonathan!“ Zwölf Augenpaare wandten sich erstaunt der Person am Kopfende der antiken Tafel zu, deren Stimme unerschütterliche Autorität und Weisheit transpirierte wie ein Buddha in der Dampfsauna. Eine Stimme, der man wie hypnotisiert lauschte und die jeden Widerspruch absurd erscheinen ließ: „Zähme deinen Zorn, Bruder Jonathan! Zorn ist nicht nur der Ausdruck von Hilflosigkeit, Zorn ist Hilflosigkeit. Und du, Meister der Jagd, bist nicht hilflos. Etwas kurzsichtig vielleicht. Er wird uns nicht entkommen. Ich weiß es! Du wirst ihn für uns fangen. Lebend!Nur wenn wir einen Gegner nicht mit dem nötigen Respekt behandeln, laufen wir Gefahr, ihn zu unterschätzen. Dieser Fehler wird dir nicht noch einmal passieren. Du wirst deine Einstellung ändern, erkennen, dass er deiner würdig ist, und lernen, zu denken wie er. Erst dann wirst du ihn besiegen. Bedenke dies, mein Sohn, und der Erfolg ist dein!“

Sie beendeten die Zusammenkunft mit Lobpreisungen der Hagia Sophia und des Sohnes der Witwe, die sie in uralten Zungen rezitierten. Dann wurde die Krypta mit einem Schutzzauber versiegelt. Die dreizehn Männer ließen ihre saphirblauen Roben in einer der Vorhallen zurück, verwandelten sich in Executives in 5.000-Dollar-Maßanzügen und bahnten sich auf verschlungenen Geheimpfaden ihren Weg durch ein Labyrinth zurück an die Erdoberfläche. Die meisten dieser Pfade endeten in der Nähe des Capitolshügels, einige direkt im Pentagon.

Jonathan wählte heute den Ausgang übers Lincoln-Memorial, denn er wollte das Büro meiden, um allein zu sein. Immer wieder brandeten Aufwallungen von Zorn in ihm hoch ob seines Versagens, doch er bekämpfte sie erfolgreich mit einer meditativen Atemtechnik. Die Worte des höchsten Logenführers klangen immer noch in seinen Ohren – wie der Nachhall einer riesigen Kirchenglocke: „Lerne zu denken wie er, und du wirst ihn besiegen“

 

Genau das würde er tun.

 

Anna Tiny Andersons Brüste wippten auf und ab. Im Prinzip hatte die bildschöne Schwedin nichts dagegen, im Gegenteil, sie genoss es meist sogar, zum Beispiel, wenn es darum ging, einen neuen Hengst einzureiten. Einerlei, ob auf dem Reitplatz am Hof ihrer Familie oder im Schlafzimmer ihrer Stockholmer Studentenwohnung, sie war gewohnt, dem Säugetier, auf dem sie ritt, ihren Willen aufzuzwingen. Anna war die Frau, die die Situation kontrollierte, die Macht ihrer Ausstrahlung und ihres Intellekts alles im Griff hatte. Nur heute war so ein Tag. Nichts funktionierte. Ihre Kleidung hing in verschwitzten Fetzen von ihr herunter und die drei malaysischen Killer, die sie verfolgten, waren ihrer gewohnten Souveränität eher abträglich. Barfuß rannte sie über den Sandstrand, vor Augen ein Lagerfeuer am Ende des Beaches, nur wenige hundert Meter entfernt. Die kitschige Rettung? Oder nur ein weiterer Horror auf ihrem schicksalhaften Trip?

Egal. Renne, so schnell du kannst, Süße!

 

Wie kam Anna in diese beschissene Lage?

Was hat das mit unserer Geschichte zu tun?

 

Keine sechs Monate waren vergangen, seit sie mit ihrem Vater in Lulea, Nordschweden, ausgelaufen war. Sie wollten dem skandinavischen Winter entfliehen, dieser endlosen, kalten Nacht. Anna hatte ihr Medizinstudium summa cum laude bestanden, und der Segeltrip war das Geschenk ihres Vaters. Eigentlich war Magnus Anderson ihr Stiefvater. Ihre Mutter hatte als junge Witwe wieder geheiratet, daher der blöde Doppelname. Doch Magnus Tiny Anderson war mehr als ein Ersatzvater, eher ihr bester Freund. Besonders nach Mutters Reitunfall. Sie war auf einem Stein aufgeschlagen und hatte sich das Rückgrat gebrochen.

Nach drei Wochen verbissenen Kampfes um das Leben, das sie so sehr liebte, rief sie Anna und Magnus an ihr Bett. Mutter war fröhlich und sah großartig aus. Dann sprach sie über ihr herrliches Schicksal, und wie viel Glück sie doch immer gehabt hätte, hielt ihre Hände und starb mit einem süffisanten Lächeln. „Seid nicht traurig!“, waren ihre letzten Worte. Gar nicht so einfach. Da zählte Anna 17 Lenze. Das Leben ging weiter, und sie verließ kurz darauf den Hof. Magnus, der Reichtum und Großzügigkeit vereinte, kaufte ihr eine Wohnung in Stockholm und finanzierte ihr Studium. Sie zahlte es ihm mit Bestnoten und regelmäßigen Besuchen zurück. Magnus war, obwohl nicht verwandt, ihre Familie. Sie hatte sonst niemanden.

Der Segeltrip war lange geplant. Die hochseetüchtige 18-Meter-Jacht strotzte vor High Tech und schrie danach, in See zu stechen. Ziel war das Mittelmeer. In Kairo wollte Anna von Bord gehen und den Nahen Osten bereisen, während Magnus von dort aus die Heimfahrt antreten würde. Seit Jahren hatte sie sich auf diesen Trip gefreut, was einer der Gründe war, warum sie ihren Doktortitel in Rekordzeit geschafft hatte. Magnus war stolz auf sie. Während andere Mädchen in ihrem Alter in Discos rumhingen, Kerlen nachjagten oder Drogen nahmen, hatte seine kleine Anna gebüffelt und gebüffelt und gebüffelt. Mit 24 Jahren war sie nun ein waschechter Doktor der Medizin und wollte die Welt kennen lernen. Fair enough! Sie hatte sich diese Belohnung verdient. Bester Laune legten sie ab.

 

Es geschah auf See.

 

Magnus hatte den Abreisetermin um zwei Tage vorverlegt. Der Grund war dieser merkwürdige Komet, der alle verrückt machte. Wissenschaftler hatten ihn schon vor Wochen gesichtet, und eigentlich war ja auch nichts Ungewöhnliches dabei, aber seit man ihn mit bloßem Auge erkennen konnte, wurden Stimmen laut, das Ding rase genau auf die Erde zu. Die Medien wiegelten ab, dies sei alles Panikmache, man brauche sich keine Sorgen zu machen und so weiter, doch das Teil wurde jeden Tag größer und heller. Magnus wollte auf Nummer sicher gehen. Sollte es tatsächlich einen Meteoriteneinschlag geben, war man nirgendwo so sicher wie auf einem Binnenmeer. An Land mochte es Erdbeben geben, auf dem Meer vielleicht eine hohe Flutwelle, doch der guten alten Ostsee würde nichts passieren, jedenfalls, solange das Ding nicht genau da hinein plumpste. Er hatte Anna seine Überlegungen mitgeteilt – man konnte ihr sowieso nichts vormachen – und ein zustimmendes Nicken geerntet. Nicht mehr und nicht weniger.

Sie, die noch ihre ganze Zukunft vor sich hatte, kannte keine Zukunftsängste. Bemerkenswert.

 

Es war spät in der Nacht. Oder früh am Morgen – kommt auf das Alter an. Magnus hatte auf Autopilot geschaltet und sie saßen am Heck. An Müdigkeit nicht zu denken, denn der Komet wurde immer größer, und schien genau auf ihren Mast zu zielen. „Anna, mein Schatz, könntest du uns noch `nen Kaffee machen?“

„Klar, ich koch’ besser ‘ne ganze Kanne“

Magnus stopfte sich eine Pfeife mit seinem Lieblingsapricot und hatte sie kaum angezündet, als Anna mit zwei dampfenden Tassen aus der Kombüse kam. Sie blieb abrupt stehen und blickte gen Himmel: „Sag mal, wenn das ein Komet ist, müsste er doch einen Schweif haben. Das ist zwar nicht mein Fachgebiet, aber ich erinnere mich, dass der Schweif eines Kometen immer von der Sonne weg zeigt“

Magnus nahm ihr eine Tasse ab, sog gedankenversunken an seiner Pfeife und meinte: „Vielleicht können wir keinen Schweif sehen, weil die Sonne hinter uns steht?“ „Es ist fast fünf Uhr. Auch heute Mittag war kein Schweif zu sehen. Ich glaube, das lässt nur zwei Möglichkeiten offen: Entweder es fliegt uns direkt auf die Mütze oder ..“

„Oder was?“

„Oder es ist kein Komet und die Medien verarschen uns“

„Hab` ich schon immer gesagt“

„Was?“

„Dass die Medien uns verarschen“

Lange Zeit tranken sie schweigend ihren Kaffee.

„Es sieht irgendwie grünlich aus, findest du nicht?“

„Ja. Und es ist noch heller geworden“

„Und größer!“

„Hmhmm“

„Wann, sagten die Nachrichten, soll es die Erde passieren?“

„9.14“

Sie schauten beide auf ihre Armbanduhren.

„In zweieinhalb Stunden“

„Bist du nicht müde?“

„Nö. Du?“

„Nö“

Dann platzte es aus Anna heraus: „Also die Medien verarschen uns. Wenn uns die Medien verarschen, und ich meine kollektiv verarschen, kann es dafür nur zwei mögliche Gründe geben: Entweder, es ist etwas fürchterlich Geheimnisvolles, Captain Kirk oder so, oder ...“

„Oder was?“

„Oder in zweieinhalb Stunden gehen jede Menge drauf und sie wollen eine Massenpanik verhindern“

„Oder Frau Doktor leistet sich ihre erste Fehldiagnose“

Sie sahen einander in die Augen und glaubten beide nicht daran.

„Nimm mich in den Arm!“

„Klar, Kleines“

 

Warten.

 

Als der kleine grüne Punkt zu einer stattlichen grünen Scheibe angewachsen war, begann Anna, in seinen Armen zu zittern. „Mach dir keine Sorgen, mein Schatz! Ich wette, es ist ein grünes Männchen vom Mars, das versucht, eine Arschbombe im Atlantik zu machen“

Ihr Zittern wurde zu einem konvulsiven Zucken. Dann lachte sie so laut in sein Ohr, dass er dachte, ihm würde das Trommelfell platzen. Tatsächlich schien sich die Form der Erscheinung verändert zu haben. Es sah wirklich aus wie ein riesiger giftgrüner Arsch.

„Wenn es jetzt furzt, gibt das unserer Ozonschicht den Rest“, antwortete Anna, worauf Magnus losprustete. Dann lachten sie den womöglich letzten zehn Minuten ihres Lebens herzhaft ins Gesicht.

Als sie sich wieder beruhigt hatten, sah Anna auf die Uhr: „Ich liebe dich“

„Ich liebe dich auch“

Gebannt starrten sie nach Steuerbord und hielten sich an den Händen.

 

Dann war der grüne Arsch verschwunden. Ein seltsames grünes Licht schien diffus im Norden, verblasste aber zusehends.

 

„Sind wir noch da?“

„Ja“

„Wo ist dein Marsianerhintern?“

Magnus sah sich um und zuckte zusammen: „Da! Backbord!“

Anna wirbelte herum: „Das war der gottverdammt schnellste Arsch in der Galaxis“

 

Die junge Schwedin konnte eh nicht schlafen, also übernahm sie die erste Wache. Kaum war Magnus unter Deck, konnte sie sein rhythmisches Schnarchen hören. Wenn man dem Radio trauen durfte, war die Welt nicht untergegangen. Weder Erdbeben noch Flutwellen. Aber irgendetwas hatte sich verändert. Sie wusste nicht, was, aber etwas Bedeutsames war geschehen. Das spürte sie.

 

Es wurde langsam heller. Ein steter Nordwind hatte ihre Fahrt extrem beschleunigt. Morgen früh, wenn sie Bornholm erreichten, würden sie zum ersten Mal die Sonne sehen. Ein gutes Omen. Sie hatten abwechselnd Wache gehalten und sich ordentlich ausgeschlafen. Auf hoher See konnte man es sich schon mal erlauben, ein paar Stunden unter Deck zu bleiben, aber hier, auf dem Weg zum Kattegatt, dem einzigen Zugang zum Atlantik, herrschte reger Schiffsverkehr. Anna ging 10 Grad nach Steuerbord, um Abstand zu einem Schiff zu halten, das in wenigen hundert Metern Entfernung ihren Kurs kreuzte. An Backbord waren erst nur die grünen Positionslampen zu erkennen, die schnell aufholten. Wenig später wurden sie von einem schwarzen Schatten überholt, dessen Umrisse wie eine achtstöckige, fahrende Mietskaserne anmuteten. Nachdem das Containerschiff vorbei war, ging sie auf den ursprünglichen Kurs zurück. Die Jacht begann etwas zu rollen, als sie die Heckwelle des Riesen traf. Später Nachmittag. Aus der Kombüse waberten die Brandenburgischen Konzerte von Bach und der verführerische Duft gebratenen Specks. Anna leckte sich die Lippen. Kurz nach dem Schlussakkord war die Stimme eines Nachrichtensprechers zu hören. Dann die von Magnus: „Hör dir das an!“

Er drehte den Weltempfänger auf. „...gab der Präsident der Vereinigten Staaten in seiner Rede an die Nation soeben folgendes bekannt ...“, erklärte die nasale Stimme des Sprechers mit dem üblich tuntigen BBC-Akzent. Eine Orginalaufnahme wurde eingespielt: „Liebe amerikanische Mitbürger. Was ich Ihnen heute zu sagen habe, betrifft alle Menschen auf dem Globus. Sie alle haben sicherlich das Naturschauspiel verfolgt, welches sich an unserem Himmel zugetragen hat. Wir haben Ihnen versichert, dass keinerlei Gefahr bestand, und dem war auch so. Dennoch betrachte ich es als meine moralische Pflicht, sie von einer Tatsache in Kenntnis zu setzen, die, wie ich meine, unsere Sicht des Universums verändern wird. Das Licht, das wir sahen, stammt nicht, wie ursprünglich angenommen, von einem Kometen. Vielmehr handelte es sich, und diese Erkenntnis ist mittlerweile wissenschaftlich verifiziert, um viele fluoreszierende Kleinstlebewesen“

Im Hintergrund waren ein Raunen und erstaunte Ausrufe zu hören. Der Geräuschkulisse nach zu urteilen war der Presseraum des White House proppevoll. Nachdem sich die Menge etwas beruhigt hatte, fuhr der Präsident fort: „Ladies und Gentlemen, ich darf betonen, dass nach wie vor keinerlei Grund zur Besorgnis besteht. Diese Lebensformen ernähren sich von UV-Strahlung, und sie waren unterwegs zur Sonne. Man könnte sie am ehesten mit einem Schwarm blaugrüner Algen vergleichen. Als sie die Sonne erreichten, teilte sich der Schwarm. Dies stellt eine Form der Reproduktion dar, die analog zur Zellteilung ist. In diesem Moment befinden sich die beiden Schwärme bereits Milliarden von Meilen jenseits der Sonne und sind auf dem Weg, unser Sonnensystem zu verlassen. Ich wiederhole, dass diese Fakten wissenschaftlich gesichert sind. Wissenschaftler in allen Erdteilen können sie überprüfen, und, glauben Sie mir, sie werden sie bestätigen. Ladies und Gentlemen, dies ist ein bedeutender Tag. Er lieferte uns die Antwort auf eine der ewigen Fragen der Menschheit. Wir sind nicht allein. Es gibt Leben da draußen, und diese Tatsache sollte uns nicht ängstigen. Nein! Sie sollte uns Mut machen. Wir müssen unsere Position neu überdenken. Der Mensch ist eine Spezies unter vielen und manche unserer Konflikte, seien sie kriegerischer, wirtschaftlicher oder religiöser Art, müssen uns in diesem neuen Licht erscheinen als das, was sie sind: kleinlich und überflüssig. Vielen Dank. Gott schütze Sie und unser Land!“

 

Der verbrannte Speck begann, langsam zu qualmen. Mechanisch stellte Magnus den Herd ab, drehte die Propangasflasche zu und kam an Deck. Er kippte den geschwärzten Inhalt der Pfanne wortlos über Bord und setzte sich neben Anna. Die glotzte genau so konsterniert wie er, fand jedoch bald ihre Sprache wieder: „Der amerikanische Präsident hat unser Abendessen auf dem Gewissen“

Mehr fiel ihr im Moment dazu auch nicht ein.

 

Sie war ein Lichtwesen, ein Ball aus reiner Energie. Schwerelos trieb sie umher, von anderen Lichtern umgeben, ein jedes so lebendig wie sie. Sie sah sich um. Alle Lichter waren mit rötlich leuchtenden Energiefäden verbunden. Es gab kein Oben oder Unten. Sobald sie sich auf ein anderes Licht konzentrierte, war sie schon dort, und man tauschte sich aus. Ihr Geist schien ein Vehikel zu sein, das sie mit Überlichtgeschwindigkeit an jeden Ort beförderte, der ihr in den Sinn kam. Jedes dieser Lichter hatte seine eigene Individualität, und dennoch waren sie alle miteinander verbunden. Plötzlich war alles klar. Sie war Teil eines großen Ganzen. Sie und die Myriaden von anderen Lichtwesen, die Erde, die Sterne, das Ganze war Eins.

Sie begriff. Es war wunderschön. Erkennen. Liebe. Geborgenheit. Dann spürte sie etwas. Es war wohl ein Geräusch, doch es fühlte sich wie ein Ziehen an. Sie wurde davon gerissen. Blitzschnell zog sich ihre Silberschnur zusammen. Sie fiel und fiel und fiel ...

Dann wachte sie abrupt auf und knallte mit dem Kopf gegen die Decke ihrer Koje. „Au!“

„Anna, Frühstück!“

Benommen rieb sie sich die Augen. Wo war sie? Ach ja, Magnus, das Boot, Ostsee, Kaffee, Spiegeleier und Toast. Sie kletterte aus der Koje und rieb sich die Stirn. Kettenkarussell im Bauch. Wer bin ich? Was bin ich? Die Umgebung war ihr vertraut, doch sie wirkte irgendwie irreal. Ihre Betrachtungsweise hatte sich verändert. Sie hatte sich verändert. Aber wie?

„Na komm schon! Die Eier werden kalt“

Sie schüttelte den Kopf, versuchte, ihre Verwirrung zu verdrängen, zog sich einen Overall aus Goretex über und ging an Deck. Draußen herrschte Zwielicht. Es war nicht das gewohnte Zwielicht des nordischen Winters. Es war die erste Dämmerung seit fast vier Monaten.

„Morgen, Anna!“

Schlaftrunken setzte sie sich zu Magnus und nahm ihr Frühstück in Empfang: „Morgen!“

Backbord voraus war Bornholm zu erkennen, ein dunkler Fleck, in Morgennebel gehüllt. Magnus hatte sein Frühstück schon verputzt und stopfte sich eine Pfeife. Anna stocherte nachdenklich in ihrem Spiegelei herum und schwieg. Seine Kleine war ein berüchtigter Morgenmuffel und Magnus nahm Rücksicht darauf. Einer der Gründe, warum sie ihn liebte: sie konnten gemeinsam schweigen. Als sie fertig war, zündete Magnus sich die Pfeife an und deutete nach Osten: „Wir hatten wieder sehr guten Wind heut` Nacht. Es ist gleich soweit“

Der Himmel schien feuerrot und die gute alte Sonne begann, sich aus dem trüben Wasser zu quälen. Ein Feiertag für Skandinavier. Magnus kramte zwei Gläser aus einem Fach unter seiner Sitzbank hervor, holte eine Leine ein, die in ihrem Kielwasser schwamm, und zum Vorschein kam eine Flasche Champagner. Er ließ den Korken knallen. „Auf die Sonne!“

In dem Moment, da der lebensspendende Feuerball in vollem Umfang den Horizont erobert hatte, stießen sie an. „Auf die Sonne!“ Anna betrachtete den Stern und bekam eine Gänsehaut. Ihr wurde bewusst, dass die Sonne, genau wie alle andere Energie und Materie im Universum, Bewusstsein besaß. Dass Bewusstsein nicht auf Gehirne beschränkt war, sondern sich auch auf atomarer und energetischer Ebene manifestierte. Und dass all dieses Bewusstsein Teil eines größeren Ganzen darstellte. Alles war Eins. Und sie war ein Teil davon, genau wie die Sonne, der Mond oder die Erde. Sie sah den Feuerball mit anderen Augen.

„Woran denkst du?“ Magnus hatte beobachtet, wie sie verträumt den Horizont betrachtete. War sich Anna eben noch sicher gewesen, die Natur des Universums verstanden zu haben, fühlte sie sich plötzlich konfus. Der Traum – war es überhaupt ein Traum? – hatte sie verwirrt.

Sie musste sich erst selbst über diese Sache klar werden, bevor sie mit jemand anders darüber sprach.

„Ooch, nichts“, war ihre Antwort.

Magnus spürte, dass ihr etwas auf dem Herzen lag, doch er wollte sie nicht bedrängen.

 

Also killten sie den Schampus, Anna übernahm das Ruder und er haute sich aufs Ohr.

 

Dieser erste aller Tage war ein eher kurzes Exemplar, gerade mal wenige Stunden lang. Klärchen ging schon unter, als Magnus, verschlafen blinzelnd, an Deck zurückkehrte. Sie befanden sich südlich von Malmö, und Anna hatte keine Ahnung, wie sie hier hingekommen waren. Dunkel erinnerte sie sich an eine steife Brise, und daran, dass sie mehrmals den Kurs hatte korrigieren müssen, um anderen Schiffen auszuweichen. Das hatte sie ganz automatisch erledigt, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Ihr Gehirn war anderweitig beschäftigt gewesen und hatte derweil auf zerebralen Autopilot umgeschaltet.

„Der Geist ist ein wundersam Instrument“

Diese Worte kamen ihr ebenfalls über die Lippen, ohne dass sie darüber nachgedacht hatte.

„Komisch, dass du das jetzt sagst“, meinte Magnus versonnen, „Ich hatte gerade so einen fantastischen Traum“

Annas Nackenhärchen stellten sich schlagartig auf. War sie sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht sicher gewesen, ob ihr Traum und der damit verbundene Sinneswandel wirklich ernst zu nehmen wären, bot sich jetzt die Gelegenheit, gewisse Zweifel endgültig zu bestätigen oder auszuräumen: „Auf die Gefahr hin, mich lächerlich zu machen: Lass mich raten! Du hast geträumt, du wärst ein Energiewesen, das mit allen anderen Entitäten in diesem Universum durch rötlich leuchtende Lichtfäden verbunden ist. Alle diese Bewusstseinsformen bildeten ein großes Ganzes und du warst ein Teil davon. Alles war Eins...“

Magnus war ein eher beherrschter Mensch. Nichts brachte ihn so leicht aus der Ruhe, und eine hochgezogene Augenbraue war normalerweise das Maximum der öffentlichen Zurschaustellung seiner Gefühle. Doch jetzt klappte ihm die Kinnlade herunter, und dies ist keine der billigen Metaphern, die wir Schreiberlinge so gerne verwenden. Nein, sein Mund stand vielmehr offen wie ein Scheunentor und er glotzte wie ein Auto.

„Woher ... ich meine, wie ... woher wusstest du das?“

„Ich wusste es nicht. Es war nur der Test einer Theorie. Glaube mir, ich bin vom Ergebnis genau so überrascht wie du“

Magnus massierte sich angestrengt die Schläfen und entschied dann, erst mal den Portwein zu holen und sich eine Pfeife zu stopfen. Kaum war diese angezündet, zogen wohlriechende Schwaden über das Achterdeck und er fand zu seiner gewohnten Gelassenheit zurück: „Hör´ zu, Anna! Ich komme soeben vollkommen rammdösig an Deck, aufgewühlt von einem Traum, der so real war, dass ich bereit bin, an der Realität dessen zu zweifeln, was ich unter normalen Umständen mein reales Leben nenne. Der Inhalt des Traums und seine Interpretation sind mir selbst noch nicht klar. Und da sitzt du, und erzählst mir, was ich geträumt habe und was es bedeutet. Ich habe keine Ahnung von diesen esoterischen Dingen. Ich bin nur ein Pferdezüchter, jedoch als solcher mit der notwendigen Portion Menschenverstand ausgerüstet. Das Ganze lässt nur – und ich zitiere hier eine intelligente schwedische Doktorin – zwei Möglichkeiten offen: Entweder, du kannst Gedanken lesen, oder du hast dasselbe geträumt wie ich“

Anna nickte zustimmend.

„Was denn nun?“

Sie zuckte mit den Schultern: „Leider kann ich keine Gedanken lesen, aber ansonsten bringst du die Sache auf den Punkt“

Magnus nuckelte nachdenklich an seiner Pfeife: „Deshalb warst du so abwesend. Du hast das gleiche geträumt, und daran genau so zu knabbern wie ich?“

„Hooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooonk!!!“, ertönte ein gewaltiges Horn.

„Scheiße!“ Magnus wirbelte das Ruder herum. Keine Sekunde zu früh. Der Frachter hätte sie mittschiffs gerammt.

Im letzten Moment gelang es ihm, auszuweichen und längsseits des Ungetüms zu gehen. Die haushohe, stählerne Bordwand war zum Greifen nahe. 20 Sekunden später traf sie sein Kielwasser und schüttelte sie gut durch. Magnus zog die linke Augenbraue hoch: „Wo waren wir stehen geblieben?“

Gewohnt cool überspielte er die Peinlichkeit der Situation. Seit über 20 Jahren war er Skipper, und so etwas war ihm noch nie passiert. Aber merkwürdigerweise schien der Vorfall ihnen beiden keine Erwähnung wert.

„Wir haben an demselben Traum zu knabbern. Da waren wir stehen geblieben“

Magnus räusperte sich, was in der Skala seiner extrovertierten Gefühlsäußerungen gleich hinter der hochgezogenen Augenbraue kam: „Ich träume selten, und wenn, dann nur von Pferden, Titten oder Segelbooten. Das war kein normaler Traum. Eher eine Vision. Außerdem glaube ich nicht an Zufälle. Es steckt also mehr dahinter. Du, mein Schatz, bist etwa doppelt so intelligent wie ich, also erzähl mir, was du davon hältst!“

Anna runzelte die Stirn: „Es gibt zwei Möglichkeiten“

Magnus verdrehte die Augen und sie grinste süffisant: „Entweder wir hatten dieselbe Halluzination, oder wir haben beide ein Stück kosmische Wahrheit erfahren“

„Intuitiv würde ich meinen: Nein zu entweder, ja zu oder“

„Genau! Aber warum? Und warum gleichzeitig?“

„Wäre ich völlig unbeteiligt, würde ich einen äußeren Einfluss vermuten. Da uns aber niemand beeinflusst hat, seit wir ausgelaufen sind, kann es sich nur um etwas handeln“

Während er diese Schlussfolgerung äußerte, deutete sein rechter Zeigefinger bedeutungsschwanger gen Himmel.

Anna nickte: „Erinnerst du dich? Als dein Marsianerarsch vorbei gerauscht war, konnte man im Norden ein Leuchten sehen. Fast wie ein Nordlicht, nur gleichmäßiger und in grün. Außerdem war da so ein Duft, so ähnlich wie Moschus“

„Ich dachte, ich hätte mir das eingebildet. Wie Moschus mit einem Hauch von Zimt?“

„Genau! Wir haben hier also ein außergewöhnliches psychologisches Phänomen und außergewöhnliche physikalische Umstände. Alles spricht dafür, dass das Eine mit dem Anderen zusammenhängt“

Magnus hatte eine Idee: „Lass uns das herausfinden!“

Er holte das Satellitenhandy und hämmerte eine schwedische Nummer: „Hallo Ole, Magnus hier. Nein, nein, alles o.k. wir sind kurz vor Kopenhagen, der Wind ist gut. Ich habe da mal `ne Frage. Lach mich bitte nicht aus! Hast du letzte Nacht etwas Ungewöhnliches geträumt?“

Sekundenlange Stille.

„Warum ich frage? Nun, Anna und ich haben ...“

„Im Ernst? Und deine Frau auch? Nein, ich halte dich nicht für bekloppt. Was meinst du, warum ich anrufe?“

Die nächsten Minuten waren nur Ahas und Mhmhhhms zu hören, jene Laute, die wir von uns geben, wollen wir unseren Gesprächspartner unserer ungeteilten Aufmerksamkeit versichern. „Uns geht’s genau so. Machs gut! Ich melde mich“

 

Magnus schaltete das Handy aus und sah ihr in die Augen: „Zufall scheidet definitiv aus“

Anna kratzte sich am Kinn: „Die Welt wird sich verändern“

Magnus nickte, korrigierte 10 Grad nach Backbord und steuerte das Boot schweigend Richtung Kattegatt.

Zwei Tage später hatten sie Kattegatt und Skagerrak hinter sich gelassen und befanden sich der Nordsee. Selbige wogte ziemlich rau, was eine willkommene Ablenkung darstellte. Die physische Anstrengung enthob einen der Verpflichtung, geistig anspruchsvolle Gespräche zu führen, und gab so jedem die Gelegenheit, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Nach dem Ärmelkanal glätteten sich die Wellen. Ihr Ziel war Porto. Eine faszinierende Hafenstadt, auf die sie beide gespannt waren. Außerdem mussten sie Wasser und Proviant fassen.

Der Himmel schien in kitschigem Postkartenblau, als sie durch den Golf von Biscaya glitten. Die Gore-Tex-Klamotten waren Jeans und T-Shirt gewichen, die Stimmung fröhlich und so wagte Anna, das heikle Thema wieder aufzugreifen: „Eine Sache geht mir nicht in den Kopf. Also, irgend so ein interstellares, äh, Ding rast an der Erde vorbei, wenn wir dem amerikanischen Präsidenten glauben wollen, ein Schwarm von fluoreszierenden Weltraumalgen. Ich neige dazu ihm das zu glauben, denn die Geschichte ist zu abstrus, um erfunden zu sein. Sie rasten unheimlich knapp vorbei und es waren wahnsinnig viele, das konnte selbst der gemeine Steuerzahler mit bloßem Auge erkennen. Wenn ich das grünliche Leuchten und diesen merkwürdigen Geruch hinzuziehe, gehe ich sogar davon aus, dass dieses Algenzeugs unsere nördliche Polkappe gestreift hat. Hältst du diese Annahme für übertrieben?“

Magnus, der gerade Fische putzte, schüttelte energisch den Kopf und warf den entschuppten Hauptgang ihres Mittagessens in den Eimer: „Fahr` fort!“

„O.k., dieses Zeug streift die Erde, und kurz darauf bekommen wir alle merkwürdige pantheistische Visionen, fühlen uns eins mit dem Universum und der Natur. Folgende Frage: Seit Tagen hören wir Radio, BBC, Voice of America und Deutsche Welle. Niemand hat auch nur in einem Nebensatz dieses Phänomen erwähnt. Wie immer gibt es zwei Möglichkeiten. Also entweder diese Aliens sprechen nur schwedisch, oder die Sache wird von den Medien konsequent totgeschwiegen“

Magnus blieb nichts übrig, außer ihr abermals zustimmend zuzunicken. Derart ermutigt, platzte es aus Anna heraus: „Schwedische Weltraumalgen empfände ich persönlich zwar als äußerst schmeichelhaft, aber die Gesetze der Logik und der Wahrscheinlichkeit deuten wohl eher auf die zweite Alternative hin“

Magnus lächelte. Er war so stolz auf sein kleines Mädchen. Genau diese Gedanken hatten verschwommen schon seit Tagen in seinem Schädel herumrumort, doch nie hätte er sie so präzise auf den Punkt bringen können, wie Anna das jetzt tat. Dennoch hatte sie einen Gedankengang übersehen, der ihm als Seemann bereits aufgefallen war: „Beides kann der Fall sein“

Anna schenkte ihm einen erstaunten Blick.

„Wir sahen dieses Licht im Norden. Vielleicht sind nur die nördlichsten Länder betroffen. Trotzdem müssten auch die internationalen Medien davon berichten, da geb` ich dir Recht. Aber womöglich sind alle noch schockiert und wollen sich nicht äußern, bevor die Sache untersucht ist und man mehr weiß“

„Oder sie haben Angst …“

Unverständnis machte sich auf Magnus` Gesicht breit. Er war einfach zu unschuldig, zu anständig, um zu verstehen, worauf Anna hinaus wollte. Sie sah das, liebte ihn noch mehr dafür und versuchte, es ihm zu erklären: „Die Erkenntnis, die uns durch diese Erfahrung zuteil wurde, was meinst du, würde sie bewirken, wenn alle Menschen auf unserem Planeten sie teilten und danach handelten? Wenn wir erkennen würden, dass alles Eins ist, dass wir eine Spezies in einem Biotop sind, dass Leiden oder Wohlergehen eines Einzelnen untrennbar mit dem der Gemeinschaft verbunden sind? Dann könnten wir nicht unbeschwert unseren Volvo waschen und Lasagne essen gehen, während in Entwicklungsländern Kinder sterben, weil sie nicht genug Wasser oder Nahrung haben. Es liefe auf eine Globalisierung der Bedürfnisse und der Ressourcen hinaus. Die Oligarchie der finanziellen Imperien, die unsere Politik, unsere Regierungen und unsere Gesellschaftsstruktur bestimmt, müsste sich dem Gemeinwohl unterordnen. Das geben sie schon jetzt vor zu tun, doch kümmert sich jeder nur um sich selbst. Die schwedische Regierung garantiert auch dem ärmsten arbeitslosen Schweden einen Lebensstandard, von dem der durchschnittliche Asiate oder Afrikaner nur träumen kann. Dafür wird sie gewählt. Wenn wir wirklich anfingen, global zu denken, müssten wir beginnen, unseren Reichtum zu teilen, auf Privilegien zu verzichten. Glaubst du ernsthaft, dazu wäre eine Oligarchie bereit? Diejenigen, die an den Hebeln der Macht sitzen, sorgen dafür, dass die Reichen reich bleiben und die Armen arm. Eine soziale Umverteilung auf globaler Ebene würde sie ihrer Macht berauben. Nie würden sie so etwas zulassen. Praktischerweise kontrollieren sie auch die meisten Medien und damit die öffentliche Meinung. Darum wird die Sache totgeschwiegen. Und wenn du Recht hast, und dieses Phänomen wirklich nur die nördlichsten Regionen der Erde betrifft, werden sie es noch einfacher haben, die Sache zu vertuschen. Ein paar verrückte Skandinavier und vielleicht einige spontan kommunistische Eskimos werden die Weltordnung nicht kippen. Dafür werden sie schon sorgen“

In ihrer Stimme schwang ein Zynismus mit, den er so nicht von ihr kannte. Es versetzte ihm einen kleinen Stich, doch war jetzt nicht der Augenblick, Annas Erwachsenwerden zu betrauern. Was sie sagte, klang verdammt einleuchtend und die Bedeutung dieser Einsicht schien wesentlich schmerzhafter als der Verlust väterlicher Naivität: „Du klingst bitter, und deine Befürchtungen sind nicht unbegründet. Aber ob das Phänomen wirklich lokal begrenzt ist, könnte ich herausfinden. Ich habe Deckhengste in die ganze Welt verkauft. Die Nummern meiner wichtigsten Geschäftsfreunde habe ich an Bord“

Er ging unter Deck und kam kurz darauf mit einem Kalender wieder, aus dem Zettel quollen und auf dessen Deckel in goldenen Lettern 1994 gedruckt war.

Anna lachte: „Nicht mehr ganz aktuell“

„Doch, doch! Ich bin nur zu faul, jedes Jahr alle Nummern umzuschreiben“

„Du könntest dir ein Laptop leisten“

Magnus winkte verächtlich ab: „Ich bin zu alt für diesen Computerscheiß“

Anna stemmte die Hände in die Hüften: „So, so! Was haben wir denn hier? Ein Bordcomputer, der Geschwindigkeit und Kurs berechnet, mit einem Autopiloten, unterstützt durch GPS, Global Positioning System via Satellit. Und dort drüben. Ein Sonar, mit automatischem Tiefenalarm, eingestellt auf 20 Meter. Und dann erst der elektronische ...“

„Aber das ist doch ganz was Anderes!“

„Ist es nicht!“

„Ist es doch!“

Sie mussten beide lachen.

„Egal“

Magnus kramte in seiner Kladde herum und wurde fündig: „Hier! Rex Barrymore in Texas“

Er warf das Handy an und erreichte den Texaner im zweiten Versuch. Nach großem Hallo und endlosen Gesprächen über Pferde kam Magnus zur Sache. Ja, man hätte das Weltraumgemüse auch in Texas beobachten können. Nein, danach war kein grünes Leuchten und auch kein Geruch festzustellen gewesen. Nein, niemand hatte merkwürdige Träume. Alle hatten ein wenig Angst gehabt, doch die Pferde waren ruhig geblieben und das war immer ein gutes Zeichen. Jetzt sei das Ding verschwunden, man rede zwar noch darüber, aber das Leben ginge ganz normal weiter. Magnus richtete noch Grüße an Barrymores zwanzigköpfige Familie aus und legte auf. Er telefonierte weiter: ein Rennstallbesitzer in Südengland, ein Züchter in Deutschland und ein italienischer Pferdehändler. Keiner hatte irgendwelche besonderen Auswirkungen gespürt. Dann machte er die Gegenprobe und rief einen Onkel in Nordschweden und ein Gestüt in Norwegen an. Die wussten sofort, wovon er sprach. Auch sie hatten diese Träume, und in ihren Dörfern redete man von nichts Anderem mehr. Es betraf also tatsächlich nur die nördliche Polarregion des Planeten.

„Gib mal das Handy! Ich will Stockholm checken“

Sie rief eine ehemalige Kommilitonin an. Die wusste von nichts. Anna grübelte: „Die Grenze muss durch Nordschweden verlaufen irgendwo in der Nähe des Polarkreises. Das heißt, es sind äußerst wenige Menschen betroffen. Und die wird man versuchen, tot zu schweigen oder mundtot zu machen. Das ist schon längst der Fall, denn das Radio hat kein Wort darüber verloren, obwohl es doch `ne super Story wäre“

„Vielleicht sind aber noch weniger Menschen betroffen. Onkel Dolph hat mir erzählt, dass es nur den Leuten geschah, die zu jener frühen Morgenstunde draußen waren, und das Schauspiel beobachtet haben. Du kennst doch die Sondbergs, ihre Nachbarn?“

„Klar“

„Die haben noch geschlafen und wissen überhaupt nicht, wovon wir reden“

„Womit bewiesen wäre, dass es sich um ein physisches Phänomen handelte: das grüne Leuchten und der Duft. Wenn wir die Uhrzeit berücksichtigen, betrifft es also nur die Nordskandinavier, die so früh schon auf waren. Die Nordkanadier und den Norden Alaskas hat es mitten in der Nacht getroffen, also eine Hand voll Trapper und Holzfäller, die extra so lange wach geblieben sind. Und Sibirien. In Sibirien war heller Tag, doch ist die Bevölkerungsdichte genau so lächerlich. Ein paar Bergleute, zwei, drei Raketenabschussbasen und allesamt komplett von der Außenwelt isoliert. Dann müssen wir noch jene abziehen, die südlich des Polarkreises überwintern, also etwa ein Drittel, und es bleiben verdammt wenige übrig“

„Und garantiert kein Politiker oder Industriemogul darunter“, vervollständigte Magnus ihren düsteren Gedanken, „Aber wenn wir uns organisieren?“

Anna winkte ab: „Dann werden sie uns als Flowerpower-Bewegung abtun, die sektiererischen Mutter-Erde-Fanatiker aus dem hohen Norden“

„Die Grünen haben auch so angefangen“

 

Sein unerschütterlicher Optimismus tat ihr gut. Vielleicht bestand doch eine Hoffnung?

 

Porto röhrte bunt und laut. Magnus legte dem Zollbeamten ihre Pässe vor, doch der spielte gerade Schach mit dem Hafenmeister, warf nur einen flüchtigen Blick darauf und winkte mürrisch ab: Vereinigtes Europa.

Wasser, Diesel und Propangas gab es direkt am Pier. Ihr Proviant reichte noch für Wochen. Sie würden ihn nur um ein paar frische Hühnchen ergänzen. Nachdem alles verstaut war, gönnten sie sich einen Landgang. Die Altstadt bot zauberhafte Cafés. Sie wählten eines mit malerischem Blick auf das Meer. Scheinbar unentschlossen führte die schmale, alte Gasse hinunter zum Jachthafen. Wenn man sich die Autos wegdachte, die über das unebene Kopfsteinpflaster rumpelten, hatte sich hier seit dem 18. Jahrhundert wenig verändert. Anna genoss diesen romantischen Gedanken, als ein Handy am Nachbartisch Beethovens Elise verstümmelte und sie in die Gegenwart zurück riss. Magnus knurpselte gerade den Schenkel einer gegrillten Wachtel ab, spülte das Ganze mit etwas Rosé herunter und stupste sie an: „Erde an Anna! Wollen wir ein paar Tage bleiben, oder weitersegeln?“

Anna wollte die Entscheidung nicht alleine treffen: „Was meinst du?“

„Ihr Wein ist gut, aber ihr Geflügel ist unterernährt. Mir egal“

Magnus war so herrlich unkompliziert.

„Ich weiß nicht“, meinte sie, „Es ist schön hier, aber ich habe über so Vieles nachzudenken. Im Moment fühle ich mich auf dem Boot am wohlsten“

Sie sprach ihm aus der Seele und er lächelte: „Also kaufen wir etwas von ihrem Wein und lassen sie diese mickrigen Viecher selbst abnagen“

Sie gab ihm einen dicken Schmatzer und er verlangte die Rechnung.

 

 

Beim Umrunden der iberischen Halbinsel ließen sie sich Zeit. Die Brise flaute öfters ab, und da sie alle Muße der Welt besaßen, bemühten sie ihren Dieselmotor nicht, sondern nahmen die Gelegenheit wahr, um vor Anker zu gehen. Meist nur zum Schnorcheln oder Faulenzen, doch auch der eine oder andere Landgang war dabei. Lissabon ließen sie aus. Nach der Ruhe auf See wirkte es wie ein hektischer Moloch, und sie segelten weiter. In Cadiz hielten sie nur, um Frischwasser aufzufüllen, und so passierten sie tags darauf den Felsen von Gibraltar. Die Reise ins Mittelmeer hatte nicht mal einen Monat gedauert. Noch immer hatten die Medien nichts verlauten lassen. Es wurde zwar viel über die Weltraumalgen berichtet und noch mehr über andere mögliche außerirdische Lebensformen spekuliert, doch paranormale Erfahrungen von Nordländern wurden mit keinem Wort erwähnt.

 

Es war Sonnenuntergang, etwa 10 Seemeilen nördlich von Algier. Vorgestern hatten sie den Bazaar in Mellila besucht, einer ehemals spanischen Enklave an der marokkanischen Küste. Magnus musste alle Überredungskünste aufbringen, um Anna davon abzubringen, ein Äffchen zu kaufen, das ihr ein marokkanischer Händler wiederholt angeboten hatte. Der putzige, kleine Kerl hatte auf ihrer Schulter gesessen und sie gelaust. Gelaust zu werden, ist ein ebenso intimes wie angenehmes Gefühl. Als der Lauser dann ihre Ohrläppchen putzte und ihren Gehörgang mit seinem kleinen Zeigefinger vorsichtig nach Ohrenschmalz untersuchte, hatte sie sich endgültig verliebt. Aber es sollte halt nicht sein. Immerhin hatte sie einen ordentlichen Klumpen Haschisch zu einem Spottpreis erworben. Auch diesen Umstand betrachtete er mit gemischten Gefühlen, besonders jetzt, da Anna auf dem Achterdeck einen dicken Joint baute, doch er tröstete sich damit, ihr wenigstens den Affen ausgeredet zu haben. Sie leckte das Papier und entzündete den Doobie: „Guck nicht so pikiert! Ihr habt doch in den Sechzigern gekifft wie die Wilden. Wir sind im Urlaub!“

Magnus schmunzelte und gönnte sich einen Hieb von dem Roten aus Cadiz. Da hatte sie auch wieder Recht: „Das war mehr so`n Rebellionsding“

„Pubertäres Getue?“

„Genau“

„Du Armer. Deine geilen Hippiefreundinnen haben dich gezwungen“

Er ließ die gerechte Verarschung über sich ergehen, nahm die Tüte grinsend in Empfang und inhalierte tief: „Auf die Sechziger! Hust! Hust!“

„Ist schon `ne Weile her, oder?“

„Den letzten Joint habe ich mit deiner Mutter geraucht. Da warst du Neun“

Meine Mutter? Erzähl mir mehr!“

„Den offiziellen Heiligenschein bekam sie posthum verliehen. Versteh mich nicht falsch! Deine Mutter war eine großartige Frau. Aber kennen gelernt haben wir uns im Drogenrausch“

„Ich dachte, es war in der Stockholmer Oper?“

„So lautete die offizielle Version für die Familie ...“ Anna schenkte ihm Wein nach. „In Wirklichkeit war es das 74er Stones-Konzert in Stockholm, also quasi das langhaarige Äquivalent zur Stockholmer Oper“

„Und du hast sie nicht in der Loge geküsst?“

„Nein! Wir haben auf dem Klo gevögelt“

Magnus wusste nicht so recht, warum er ihr das jetzt erzählte. Vielleicht war das Dope so gut. Anna jedoch nahm diesen Teil ihrer Familienhistorie gelassen hin und begab sich weiter auf Ahnenforschung: „O.k., ein Stones-Konzert, ein Fick auf dem Klo, das erklärt nicht, warum ihr im selben Jahr noch geheiratet habt“

„Ich habe mich unsterblich in sie verliebt. Sie war so stark und verantwortungsbewusst. Sie verließ die geilste Party, damit du dein Pausenbrot bekamst. Du kamst immer an erster Stelle. Sie sorgte sich immer nur um andere und nie um sich selbst“

Darum hast du sie geheiratet?“

Magnus nahm noch einen Zug und gab ihr den Joint zurück. Sogleich schüttelte er heftig den Kopf und lächelte versonnen: „Sie war unglaublich gut im Bett ...“

 

Haschisch ist unter anderem eine Wahrheitsdroge und für das Resultat seiner Benutzung nicht verantwortlich.

 

Südlich von Kreta herrschte Windstille.

„Sag mal, benutzt du ein neues After Shave?“

„Nö. Wieso?“

„Du riechst so gut“

Magnus stutzte.

„Komisch. Ich wollte dich auch schon fragen, ob du ein besonderes Parfum trägst“

Anna schnüffelte erst am eigenen T-Shirt und dann an seinem: „Halt mich für bekloppt, aber wir riechen anders“

Er nahm eine ordentliche Nase Achselschweiß und stimmte ihr zu: „An mir selbst ist mir das noch gar nicht aufgefallen. Nur bei dir“

„Weil man sich selbst den ganzen Tag riecht. Man ist so sehr daran gewöhnt, dass man es ausblendet“

„Stimmt. Die eigenen Fürze sind immer die harmlosesten“

Anna kicherte: „Gutes Beispiel. Aber mal ernsthaft: Ich kenne meinen Geruch sauber, verschwitzt, dreckig, nach gutem Sex oder wenn ich meine Tage habe. Alles vertraut. Aber so habe ich noch nie gerochen“

„Hältst du es für möglich, dass dieses Weltraumding uns auch körperlich verändert hat?“

„Ich hatte gehofft, dieser Gedanke sei abwegig, aber wenn sogar du darauf kommst ...“

Magnus kratzte sich am Kopf, grunzte animalisch und mimte den niederen Primaten: „Ich Pferdezüchter. Ich nix verstehen. Nix wissen. Grunz!“

Es war ein altes Spiel, das sie seit dem Beginn ihres Medizinstudiums spielten. Mit der ihm eigenen Art von hintergründigem Humor hatte er jedes Mal, wenn sie aus Stockholm zu Besuch kam, den primitiven Wilden gemimt und Anna in die Rolle der angebeteten Heiligen gedrängt. Nach bestandenem Vordiplom ging er so weit, Rosenblätter vor ihre Füße zu streuen. Klingt bescheuert. Hat aber funktioniert. Anna, die wegen ihres überragenden Intellekts zur Arroganz neigte, lernte, sich selber nicht so ernst zu nehmen. Das

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 23.04.2014
ISBN: 978-3-7368-0398-5

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