Cover

Prolog



„Was soll ich denn hier?!“, fauchte ich nun ungefähr zum gefühlten vierzigsten Mal.
Der gesamte Speisesaal schaute mich an, als wäre ich verrückt geworden.
Ich zog eine Grimasse und warf Blicke in die Runde. „ Ich bin bis jetzt auch ganz gut ohne euch zurechtgekommen!“
Meine neue Sitznachbarin Lena warf mir einen mitfühlenden Blick zu.
„Es ist doch nur für kurze Zeit.“
„Für kurze Zeit!“, fauchte ich. „Zwei Jahre sind mir ne verdammt lange Zeit!“
Bella, die Hausmutter des Jugendheims warf mir einen mahnenden Blick zu, den ich ignorierte

.


„Was haben deine Eltern denn gemacht?“, fragte einer der blonden Knirpse mich.
„Geht dich das was an?“, fragte ich zurück.
Eine meiner blonden Strähnen viel aus meinem Zopf, verärgert strich ich sie zurück.
„Iss erst mal was.“, beruhigte mich Lena, die zufällig am selben Tag mit mir ins Jugendheim gekommen war.
„Pah, ich habe keinen Hunger.“
„Komm schon. Essen wirkt beruhigend auf die Nerven und Gefühle eines aufgebrachten Mädchens.“
„Mit meinen Gefühlen ist alles in Ordnung!“, konterte ich.
Lena holte tief Luft und ich ahnte schon, was jetzt kommen würde.
Der kampflustige Blick in ihren Augen sagte mir Alles.
„Dann lebe deinen Scheiß doch alleine!“, schrie sie zurück. „Mensch, ich bin auch Neu hier und benehme mich nicht total daneben!“
Okay, im Stillen gab ich ihr Recht, aber ich war zu aufgebracht um das jetzt zuzugeben.
„Ich bin doch keine Marionette!“, schrie ich zurück.
„Ich auch nicht!“ Ihre blitzenden Augen trafen mich.
„Du benimmst dich aber so!“ Ich funkelte sie wütend an.
In meinem Inneren kochte es..
„Ich bin keine Marionette“, verbesserte sie mich und verschränkte aufgebracht die Arme vor der Brust. „Ich nehme mein Schicksal nur an!“
„Super, und I.C.H nicht!“, ergänzte ich.
Dann herrschte Stille. Am Tisch hatten alle Unbeteiligten den Kopf gesenkt und einzig unsere Hausmutter Bella schien das Geschehen aufmerksam zu verfolgen.
Es wunderte mich, dass sie noch nicht eingegriffen hatte.
„Mädels, ihr wisst aber schon, dass ihr auf einem Zimmer seit, oder?“, warf jetzt wieder der kleine blonde Knirps ein.
„Klappe!“, riefen Lena und Ich aus einem Mund.
Ich erstarrte und guckte sie an.
Einen Moment blickte sie mich wütend an; dann verwandelte sich ihre grimmige Miene in nervöses Grinsen.
Wie aus heiterem Himmel fing sie an zu lachen. Erst hinter der Hand und dann immer lauter.
Lachte sie mich etwa gerade aus?!
Lena konnte scheinbar gar nicht mehr aufhören mit dem Kichern.
Einer der Knirpse neben mir fing auch an zu Kichern.
Verständnislos guckte ich in die Runde.
Während ich mit Schafsblick auf Lena starrte, fing der gesamte Speisesaal an zu lachen.
„Was soll das?!“, begann ich den Satz, bis ich plötzlich auch von dem Kichern erfasst wurde.
Ich riss mich zusammen, aber aus dem nervösen Kichern wurde immer lauteres Lachen.
Das fehlte mir noch! Das ich gerade als Neue einen Lachkrampf kriege, weil ich jemanden zwei Sekunden davor zur Schnecke gemacht habe!
Doch mein Verstand schien ausgesetzt zu haben.
Ich konnte gar nicht mehr aufhören mit Lachen.
Kichernd japste ich nach Luft.
„Du kannst aufhören mit Lachen.“, bemerkte Lena neben mir, die endlich wieder normal reden konnte.
„Ich will ja, aber“, prustete ich. „Ich kann nicht.“ Und mein Satz verklang in meinem Lachen.
Lena schaute mich ein wenig entgeistert an.
„Du kannst nicht?“
Ich holte tief Luft. Schon besser. „Es ist... Alles in Ordnung!“, keuchte ich und hielt mir meinen schmerzenden Bauch.
„Bekommst du immer unerwartete Lach Flashs?“ Lena blickte mich mit großen Augen an. Von ihrer Wut war nichts mehr zu sehen.
„Eigentlich nicht.“, antwortete ich grinsend.
„Nur wenn du jemanden anschreist?“
„Wenn ich nervös bin.“
Sie streckte mir die Hand hin. „Schön dich kennengelernt zu haben, Nanni. Ich fürchte wir sind Zimmergenossinen.“
Schade aber auch., dachte ich und schüttelte ihre Hand. „Danke.“


Nanni

Die Regeln im TPA Jugendheim waren denkbar einfach.
Aufstehen um sechs, Frühstück auf halb sieben, um Acht in den Unterricht bis ungefähr drei.
Von Vier bis halb sechs Freizeit, danach Abendbrot.
Spätestens um halb Zehn abends zurück sein, wenn wir etwas unternahmen.
Zehn Uhr Nachtruhe.
Keine Drogen, kein Alkohol.
Die Regeln waren okay. Für manche mehr, für andere weniger. Aber wir hatten uns alle nicht ausgesucht hier zusein.-Naja, die meisten nicht.
Ich sprach eigentlich mit niemandem über meine Vergangenheit. Unsere Geschichten waren ohnehin fast alle gleich. Alkoholkonsum der Eltern, Misshandlung, Krankheitsfälle in der Familie und nicht selten auch überhaupt keine Eltern mehr.
Bei mir war es ersteres gewesen. Es passierte als mein Dad sich von meiner Mutter trennte und mit seiner Neuen nach Italien auswanderte. Meine Mutter hatte den Schlag nicht verkraftet. Die nächsten Monate waren nicht einfach. Zwischen Schule, Lernen und Sport versuchte ihr so gut es ging meine Mutter in meinen Tagesplan einzubeziehen. Morgens Frühstück für Beide, zur Schule und wenn ich wiederkam Mittagessen kochen, Wäsche waschen und das Haus putzen, das meine Mutter in ihrem Rausch nicht mehr alleine schaffte.
Während es bei ihr anfangs nur abends eine Flasche Tequila gewesen war, so steigerte sich doch der Konsum in den nächsten Wochen auf unkontrolliertes Trinken, das unserem Geld ordentlich zu Kopf ging. Letztenendes war es meine Nachbarin gewesen, die von dem Ganzen Ohr bekommen hatte und das Jugendamt alamierte.
Und jetzt saß ich hier. Ohne irgendwelche Pläne für die Zukunft.

„Nanni?!“ Der elfjährige Martin rannte auf mich zu. „Hast du Luke gesehen? Ich hab ihn seit heute Mittag nicht mehr gesehen. Bella tobt wie ein Teufel!“ Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, hab ich nicht gesehen. Sorry.“ Bella tobte eigentlich ständig. Als Hausmutter für dreizehn Kinder im Alter von neun bis sechszehn Jahren hatte sie alle Hände voll zu tun, uns alle im TPA zu halten.
„Vielleicht wollte Luke ja nur in die Stadt?“, schlug ich Martin vor, aber der kleine Junge mit den blonden Strubbelhaaren war schon wieder vorbeigerauscht und stürzte sich auf meine Zimmergenossin Lena, die soeben durch die Tür gekommen war.
Ich schüttelte den Kopf. Wie hatte ich es hier schon ganze lange zwei Jahre ausgehalten?
Ich lief in die Küche, um Teller und Gabeln zu holen und deckte in aller Eile alleine den Tisch. Im Grunde genommen hielt sich hier keiner an den Tischdienst, aber das alleine decken machte mir nichts aus und war weniger hektisch als wenn mir drei der Knirpse helfen würden.
„Schon wieder alleine am Tisch decken?“ Erschrocken zuckte ich zusammen und drehte mich nach der vollbusigen Frau um, die hinter mir stand. Bella, die Haushälterin stand hinter mir und schwang drohend ihren Kochlöffel. „Na die Bengel können was zu hören bekommen!“ und guckte mich streng an.
„Mir macht das nichts. Ehrlich!“, sagte ich und zuckte die Schultern. Die beleibte Frau lächelte und strich mir meine schwarze Kapuze vom Kopf.
„ Ich weiß, Kleine, aber es gehört sich trotzdem nicht!“ Widerwillig nickte ich, strich mir meine schwarze Kapuze aber trotzdem wieder über den Kopf. Den Kopf schüttend zog Bella ab und rief die Kleinen zum Essen an den Tisch. Ich war mit Abstand die Älteste hier im Heim, abgesehen von Lena, auch wenn ich mit ihr nicht viel gemeinsam hatte.
Ihr quirliger Typ, ihre schwarzen lockigen Haare und ihr engelsgleicher Charme ließen das Herz eines jeden Erwachsenen höher schlagen, wirkten aber kaum auf mich.
Ich war eher so der aufmerksame stille Typ. Der Typ, der lieber nicht aus der Menge hervorsticht und unbeachtet bleibt. Nicht das mich das stören würde- Ich hatte mir meine Art selber gesucht und gefunden. Und mit meinem schwarzen Kapuzenpullover fühlte ich mich so gut wie vollständig. Lena war der Meinung, ewig meine schwarzen Klamotten, würden aussehen, als wolle ich zu einem Begräbnis gehen, aber ich wollte mich nicht ändern.
„ Was soll’s?“, fragte ich sie meistens und zog die Augenbrauen hoch. „Sie sind sauber unauffällig und meine. Was will ich mehr?“
„ Du bist ein richtiger Langweiler! Willst du das Leben nicht genießen?“ lachte sie und zog an meiner Hand.
Ich lächelte ebenfalls und breitete die Arme aus. „ Ich genieße das Leben! Siehst du das nicht?“ Sie zwinkerte.
„Und ob ich das sehe, du schwarze Katze!“

Oder so ähnlich verliefen unsere Gespräche meistens.
Mittlerweile saßen wir alle am Tisch. Obwohl es unausgesprochen war, hatte jeder von uns einen Stammplatz. Ich saß neben Lena und Martin. Seltsamerweise waren wir alle am selben Tag ins TPA gekommen. Neue hatten es immer am Schwierigsten und wurden meist beim ersten Essen an einen Randplatz verwiesen. Zugegebenermaßen war ich ausgesprochen froh gewesen, Lena und Martin bei mir zu haben und hatte mich beim ersten Abendessen mit den Beiden zusammengesetzt.
„ Na, Luke wieder gefunden?“, fragte ich jetzt Martin, der erwartungsvoll mit der Gabel gegen den Teller klopfte.
„ Jap, der ist nur in der Stadt gewesen“ Lena verdrehte die Augen.
„Ständig machen sich hier alle Sorgen um Luke und dann war er doch nur Eisessen.“ Ich lachte.
„Oder er war T-Shirts kaufen, oder schwimmen oder Fotos machen...“
Ich grinste in mich hinein. War ja erst das dritte Mal diese Woche, dass unser Luke verschwunden war. Martin grinste ebenfalls und zog mir die Kapuze vom Kopf. Diesmal ließ ich sie unten, sonst würde ich wieder einmal Ärger mit Bella bekommen.
„Du bist ohne Kapuze viel hübscher, als wenn du das schwarze Ding immer auf dem Kopf hast!“, bemerkte Martin.
„Mhh.“, grummelte ich und betrachtete meine Fingernägel.
Ich mochte den kleinen Bengel, aber seiner Meinung war ich nicht.
Ehrlicherweise: Ich war auch nicht hässlich. Helle Haut, Dunkelgrüne Augen, dichte Wimpern hellrosa Lippen und strubbelige blonde Haare, die Ich meistens zu einem zotteligen Knoten band.
Aber ich fand mich auch nicht sonderlich attraktiv, ein Durschnittsmädchen halt.
Eine Person, der man meistens keinen zweiten Blick schenkt. Die Kapuze verbarg das, was ich anderen nicht zeigen wollte. Dinge, die ich nicht bereit war, anderen zu offenbaren.
Dinge die ich für zu persönlich hielt.

Lenas Geheimnis



Nach dem Essen ging ich raus.
In meinem dunkelblauen Anorak war es auch an kühlen Herbsttagen noch angenehm warm und ich genoss die frische Luft, die mir durchs Gesicht strich. „Fellow!“, hörte ich eine Stimme hinter mir rufen. Ich sah Lena in der Tür des TPA’s stehen.
„ Warte! Kann ich mitkommen?“ Ich runzelte die Stirn. Eigentlich wollte Lena abends nie mit mir raus.
„ Klar, meinetwegen!“, rief ich zurück und sah wie sie sich ihren Mantel schnappte und mir entgegeneilte.
„Gehen wir ne Cola im Bancover trinken?“, fragte sie mich japsend.
„Geht nicht, ich hab mein Geld vergessen.“ Entschuldigend sah ich sie an.
„Macht nichts. Ich lad dich ein!“ Ihre braunen Augen leuchteten.
„ Cool, danke. Dann natürlich gerne!“
Zusammen machten wir uns auf den Weg in die Innenstadt. Mein Dad hatte mir als ich kleiner war immer erzählt, wenn ich je zum Nordpol wollte, müsse ich einfach nur dem Polarstern folgen. In Städten war es ähnlich. Wenn man in die Innenstadt wollte, musste man einfach nur den Bahngleisen folgen. Der Bahnhof lag immer in der Innenstadt, das war eine Tatsache.
An den Nordpol zu kommen, wenn man dem Polarstern folgte war auch eine Tatsache.
„Lena?“
„Mh?“, sie blickte mich an.
„ Hast du jemals überlegt abzuhauen? Einfach weg, nach Alaska zum Beispiel?“ Sie balancierte auf dem Bürgersteig.
„ Weiß nicht, ich glaub nicht. Du? „
„ Ja, schon.“, gab ich zu und schaute zum Mond hinauf. „Irgendwann will ich hier weg. Ganz weit weg. Nach Alaska vielleicht.“
Meine Freundin blinzelte und lächelte. „ Dann gehst du nach Alaska und lebst mit deinem komischen Brieffreund Jacob mitten in der Wildnis von Alaska in einer Blockhütte. Und dann werde ich nie mehr von dir hören, weil du da weder Telefon noch Internet hast.“
Ich lachte. „ Na ganz so schlimm wird’s ja schon nicht werden!
Lena lachte auch und summte: „Allein, allein. Allein, allein.“
„Komm schon.“, ich zog sie am Ärmel. Vor uns lag das Bancover Cafe.


„ Was wollt ihr trinken?“ Der Kellner, der vor uns stand war ungefähr mitte zwanzig und ziemlich unfreundlich. „ Zwei Cola.“, bestellte Lena und der Kellner zog wieder ab.
Ich schaute sie genauer an. Eigentlich war ich sicher, dass sie heute abend nicht ohne Grund mit mir ins Bancover gegangen war. Sie wirkte ein wenig..unsicher.
„Also, was ist los?“, fragte ich sie. Sie seufzte und bestätigte mir nur noch einmal dass ihr etwas auf dem Herzen lag.
„Ich verlass das TPA. Meine Tante und mein Onkel haben sich bereiterklärt mich aufzunehmen.“
Mit vielem hatte ich gerechnet, aber mit so etwas ehrlich nicht. Geschockt sah ich sie an.
Das konnte doch nicht sein, jetzt wo wir zwei Jahre zusammen im Jugendheim gelebt hatten. Sie konnte doch nicht einfach gehen. Ich musste schlucken und blinzelte meine Tränen weg.
„ Wann?“, fragte ich sie.
„In zwei Wochen.“, antwortete sie.
„Zwei Wochen.“, murmelte ich. Keine lange Zeit um sich auf einen Abschied für immer vorzubereiten.


„ Hast du auch schon gehört, dass Lena weggeht, Nanni?“, bestürmte mich Martin am nächsten Morgen beim Frühstück.
„ Mhh, ja, das habe ich auch schon gehört.“ Lena war heute morgen noch in ihrem Zimmer geblieben, weil sie Baumschmerzen hatte. Vielleicht, weil sie selber Angst vor dem Abschied hatte. Vielleicht hatte sie aber auch einfach nur ihre Regel.
„Ich find’s schade, dass sie geht.“ Martin zog einen Flunch.
„Was machst du denn, wenn sie geht, Nanni? Dann bist du ja ganz allein auf einem Zimmer.“
Ich zuckte mit den Schultern. Der elfjährige Junge schaute mich mit großen Augen an.
„Wenn du willst, kannst du mit mir und Luke auf ein Zimmer, dann bauen wir eine Luftmatratze auf und dann schläfst du bei uns!“
Ich lächelte schwach. „Ich glaub nicht, dass Bella das erlaubt.“
Ich nahm meinen Teller vom Tisch und stellte mich beim Büffet an. Der Geruch von frischen Brötchen stieg mir in die Nase. Ich nahm mir gleich zwei Brötchen und zwei Päckchen Erdbeermarmelade; vielleicht würde Lena ja doch noch Hunger bekommen.
Am Ende des Frühstücks rief mich Bella zu sich, um mit mir, wie ich schon erwartet hatte, über Lenas Abreise zu reden. Es stellte, sich heraus, dass ich entweder zu den kleinen Zwillingen Clarice und Nadja aufs Zimmer könne oder mein Zimmer behalten könne.
Ich zog das alleinige Zimmer vor und fragte ebenfalls nach Lenas neuer Adresse.
„ Keine Sorge, Kleine. Die werde ich dir so bald wie möglich geben.“ Ich nickte dankbar. Dann würden Lena und ich uns also schreiben können.

Leandro



Für einen Moment erstarrte mein Herz, dann stieß Lena mich an und ich senkte erschrocken den Blick.
„ Was bitte schön ist das denn?“, fragte sie mich und schaute mich entgeistert an.
„Ähm, ein Junge?“ Mein Hirn schien Probleme zu haben, meinen deutschen Wortschatz wiederzufinden.
„Hallo!“ Meine Freundin schaute mich an, als wäre ich ein Schaf.
„Das ist ein Kerl, der Kerl ist süß, er sieht gut aus und was mache ich?“, fragte sie mich.
Ich schaute Leandro immer noch völlig verblüfft an. „ Ähm, keine Ahnung?, versuchte ich ihre Frage zu beantworten.
„Ich muss weg. Ich muss zu meiner Tante auf Land, während es hier gerade richtig interessant wird.“
„Achso!“. Ich nickte. „Tja, das ist...schade.“ Und während ich meinen Blick endlich lösen konnte, stürmte meine aufgeregte Freundin zu Bella; wahrscheinlich um ihr über den Neuen in den Bauch zu fragen. Ich sah wie Bella schon entnervt meine Freundin betrachtete und bat sie auf einen Stuhl.
Scheinbar konnte ihr Gespräch noch ein Weilchen dauern. Ich machte mich auf den Weg in mein Zimmer.

Hey, Jacob. Ich weiß, mein letzter Brief ist schon eine Weile her, aber es ist einiges passiert und jetzt, wo ich gerade Zeit habe, schreibe ich dir davon.
Im TPA läuft gerade alles drunter und drüber. Als erstes habe ich erfahren, dass Lena -meine Zimmernachbarin weggeht.
Das heißt, eigentlich haben ihr Onkel und ihre Tante ihr angeboten, zu ihnen aufs Land zu ziehen. Lena findet das ziemlich öde, aber ich glaube, auch sie ist froh hier endlich einmal raus zu kommen. Wahrscheinlich kann sie dann endlich eine richtige öffentliche Schule besuchen und bekommt ein eigenes Zimmer. Sie fährt leider schon in zwei Wochen. Das macht mir den Abschied leider nicht unbedingt einfacher. Aber wir haben versprochen uns zu schreiben. Dann hab ich sogar schon zwei Brieffreundschaften; wo soll das bloß enden? Vielleicht werde ich ja Autorin?
Außerdem hat unser nettes Haus heute ein neues Mitglied willkommen geheißen.
Er heißt Leandro und dürfte eigentlich so alt wie ich sein. Naja, er kann schließlich nicht älter sein, weil das TPA nur für Leute bis sechzehn ist, also?!
Er sieht eigentlich ganz gut aus, aber ich kann dir kaum etwas erzählen, weil er sich weder vorgestellt hat, noch ich mit ihm selbst gesprochen habe.
Ich hoffe ich mache dich nicht neidisch;) ?
Wie läufst denn sonst so in Alaska? Sind die Schlittentuniere mittlerweile vorbei und hast du gewonnen?

Alles Liebe, Nanni.

Ps: Irgendwann komme ich dich wirklich besuchen und dann fahren wir zusammen Schlitten!


Leandro

Na super! Da war ich wohl versehentlich im Kindergarten gelandet.
Ungefähr sechs von den Knirpsen zerrten an meiner Jacke und an meinen Armen und überhäuften mich mit so vielen Fragen, dass ich sie kaum verstehen konnte. Ein wenig hilflos stand ich in ihrer Mitte und versuchte eine gute Mine zu machen. Endlich kam eine mollige Frau mittleren Alters zu mir und scheuchte die Knirpse zurück auf ihre Plätze .
Die Frau hatte sich mir bereits als Bella die Hauswirtin vorgestellt und schien mir ganz in Ordnung zu sein. Ihrer Figur nach schien sie ein Faible für Essen zu haben, also schien es hier wenigstens zu schmecken. Ich zählte das Essen als den ersten Pluspunkt, den ich im TPA entdecken konnte; denn das Zimmer, dass Bella mir zugewiesen und gezeigt hatte war schlicht und einfach der nötigste Komfort, den man zum Leben brauchte:
Ein kleines weiß gestrichenes Zimmer mit zwei Betten, einem Schreibtisch, einem kleinen Mülleimer, ein altmodisches Radio, eine Dusche und ein kleines Waschbecken.
Nichts Großartiges, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Ich brauchte keinen großen Komfort. Ich würde ihn nicht brauchen. Ich würde nicht lange bleiben.

Mein erstes Treffen




Nanni

Ich hatte Jacobs Brief gerade in den Briefumschlag gesteckt, als jemand ins Zimmer platzte.
„Lebt sie noch?“, fragte ich meine Freundin und drehte mich voller Absicht nicht um.
„ Ähm, wer lebt noch?“, hörte ich eine ruhige Stimme hinter mir sagen.
Erschrocken sprang ich auf und drehte mich um. Vor mir stand Leandro. „Musst du so ins Zimmer platzen?“, fragte ich ein wenig zu laut und unhöflich als beabsichtigt.
Er hob beschwichtigend die Hände. „ Entschuldige, die Dame, dass ich so unhöflich ihr Zimmer betreten habe. Soll ich noch einmal anklopfen?“ Der ironische Ton in seiner Stimme war kaum zu überhören.
Ich funkelte ihn an, verkniff mir aber meinen Kommentar, der mir auf der Zunge lag, weil er neu war.
„Nanni.“, sagte ich kurz angebunden und streckte im widerwillig meine Hand entgegen. Seine grünen Augen glitzerten und er grinste als er ebenfalls meine nahm und schüttelte. „ Leandro. Dürfte ich fragen wo die Toiletten sind?“
Ich zog meine Hand aus seiner, er lachte immer noch. Ich antwortete.“ Den Flur hinunter dritte Tür links.“
„Okay, danke, schön dich kennen gelernt zu haben!“. Er deutete eine Verbeugung an, bis ich ihn einer plötzlichen Eingebung folgend hinaus schob und die Tür zuknallte.
Was für ein Idiot! Was dachte der eigentlich, könnte er sich erlauben? Wahrscheinlich gar nichts! , beantwortete ich mir meine Frage selber.
Immer noch wutschnaubend warf ich mich aufs Bett. Schön, dass ich mich gleich beim ersten Treffen blamiert habe! , schoss es mir durch den Kopf.
Was soll’s? Als würde mich der Kerl was interessieren? Wütend verwarf ich den Gedanken und steckte mir ein Stück Schokolade in den Mund.
Auf so Testosteron voll gepumpte sechzehnjährige Typen konnte ich verzichten!
Etwa zehn Minuten später kam Lena ins Zimmer gerauscht und warf sich neben mir aufs Bett.
Außer Atem strich sie ihren roten Pullunder glatt und schnappte nach Luft.
„ Rat mal was ich über ihn herausgefunden habe?“, fragte sie.
„Mh..“, tat ich als würde ich raten und schaute betont lange an die Decke, als würde ich die Antwort genau dort finden. „ Er ist..sechzehn, ein Arschloch, hat keinerlei Benehmen, ist ein Idiot und weiß nicht wo die Toilette ist?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute ich sie an.
„Wie kommst du denn darauf?“, fragte Lena mich und runzelte die Stirn. „ Du hast ihn doch nicht schon etwa...!“ Ich seufzte.
„ Doch. Er ist vorhin ins Zimmer geplatzt..“, und erzählte meiner Freundin die ganze Geschichte.
„Oh man!“, brachte sie heraus als ich geendet hatte. „Das ist ja mal ordentlich schief gelaufen!“, und schaute mich streng an. Ungläubich schaute ich zurück.
„ Was schaust du mich denn jetzt so an? Er ist doch derjenige, der ins Zimmer geplatzt ist und sich so scheiße benommen hat!!!“
Meine Freundin lachte und schlug mir vor, endlich zu erzählen, was sie von Bella erfahren hatte. Was ich erfuhr war folgendes:
• Er stammt aus Alaska. ( Lena meint daher kämen die pechschwarzen Haare )
• Seine Mutter war mit Bella befreundet gewesen, deshalb wurde er bei uns und nicht irgendwo in der Arktis in ein Jugendhaus gesteckt.
• Er ist sechzehn. ( Wie schon vermutet )
• Er hat einen Hund dabei, den er nicht in Alaska lassen wollte und welcher hier ganz in der Nähe im Hundeheim abgegeben wurde.


Letzteres tat mir aufrichtig leid, denn bis ich elf war, hatte auch ich einen Hund gehabt. Leider starb mein kleiner Terrier im Herbst während eines Mallorca-Urlaubes an einem nicht rechtzeitig erkannten Darmkrebs.
„ Ich hab gehört sein Hund soll ein waschechter Siberian Husky sein!“, riss Lena mich aus meinen Gedanken.
„ Ehrlich? Cool!“
Sie nickte. „ Die fahren Schlittenrennen mit Hunden über hunderte von Kilometern. Ist so eine Art Lieblingssport dort.“, meinte sie.
„Ja.“, nickte ich. „ Hat mir Jacob auch schon von geschrieben.“

An diesem Abend lag ich noch lange Zeit wach.
Wie würde mein Leben ohne Lena hier aussehen? In den zwei Jahren war mir das dreizehnjährige Mädchen fast zu einer kleinen Schwester geworden. Ich schloss fest die Augen. Und es war genau dieser Augenblick, indem ich beschloss zu leben. Ich würde ein richtiges Abenteuer leben. Eine Geschichte leben, die ich selber schreiben würde. Und meine Geschichte würde diesen Winter beginnen. Genau jetzt, genau in diesem Augenblick!


Leider endete das neue aufregende Gefühl in dem Moment, als Lena mir am nächsten Morgen die Decke wegzog. „Jetzt komm schon, Nanni. Du verschläfst noch das Frühstück!“
Was? Ich hatte verschlafen? Schon wieder?
Grummelnd tastete ich auf meinem Nachttisch nach meiner Armbanduhr.
„ Oh nein!“, stöhnte ich, als ich auf die Anzeige sah. In zehn Minuten würde es Frühstück geben. Da blieb noch nicht einmal mehr Zeit unter die Dusche zu springen! Ich schlug die Bettdecke zurück und quälte mich aus dem Bett.
„ Warum hast du mich denn nicht eher geweckt?“ Klagend schaute ich meine Freundin an, die ordentlich wie immer bereits geduscht, geföhnt, frisiert und geschminkt war. Lena machte einen Schmollmund.
„Tschuldigung, ich dachte, du wolltest ausschlafen. Nach dem ganzen Trubel gestern und so.“
„Macht nichts. Ist schon okay.“, versuchte ich sie zu beruhigen und fuhr mit meiner Holzbürste durch meine widerwilligen zotteligen Haare.
„ Warte. Lass mich das machen.“
Lena schob mich ein Stück beiseite, setzte sich neben mir aufs Bett und fuhr vorsichtig mit der Bürste durch meine blonden Haare.
Erleichtert dankte ich ihr und zog mir zu meiner dunkelblauen Jeans ein schwarzes T-Shirt und einen hellblauen Schal an.
Kurz Zähne geputzt, ein bisschen Wimperntusche aufgelegt und keine fünf Minuten später stürmte ich hinter meiner Freundin in den Gemeinschaftsraum.

Falsche Eindrücke


Leandro

Sie erinnerte ihn ein wenig an Chuppine, seine grau weiße Husky-Dame, als sie mit wehenden Haaren in den Frühstücksraum stürzte.
Nachdenklich beobachtete er sie. Sie war...wild. Er konnte es kaum anders beschreiben. Sie war nicht das, was man unbedingt als Typ Mädchen bezeichnen konnte.
Keine auffälligen Klamotten, engen Tops. Keine unechte Frisur, kein zimperliches Verhalten.
Okay, er schmunzelte. Vielleicht war sie ihm ein wenig zickig gekommen, aber es hatte ihm aufrichtig Spaß bereitet sie ein wenig an der Nase herumzuführen.
Als sie nun in den Raum stürzte warf er ihr ein gut gemeintes Hallo zu, aber sie schien ihn in ihrer Eile nicht zu hören. Er guckte auf seinen Teller, der bereits wieder leer war und dann auf die Uhr.
„ Das ist mein Platz.“ Um zu erkennen wessen Stimme das war, brauchte sich Leandro nicht umzudrehen.
„ Guten Morgen, Nanni. Gut geschlafen?“ Er hörte sie einen Moment zögern, bis sie antwortete.
„Ja, habe ich. Selbst?“ Ihr immer noch leicht beleidigter Unterton amüsierte ihn. Er drehte sich um.
„Ja, eigentlich habe ich auch ganz gut geschlafen, die Betten sind nur ein wenig zu hart, aber ich denke ich gewöhn mich dran.“
Sie zog die Augenbrauen hoch. Er lächelte schief.
„Ähm..!“, sie wies auf seinen Platz.
Ups, das hatte er vergessen! Schnell rückte er einen Platz weiter.
„ Da sitz aber ich!“. Martins kleiner Finger zeigte auf den Stuhl, den Leandro gerade besetzt hatte.
Seufzend erhob er sich zum zweiten Mal um einen Platz weiter zu rücken.
„ Versuchs erst gar nicht.“, meldete sich nun Lena zu Wort. „Da sitz ich!“
Grummelnd erhob er sich zum dritten Mal. „Soll ich vielleicht im Garten frühstücken?“
Lena lachte. „Gerne, wenn du willst.“
Aber er blieb trotzdem sitzen. Lena konnte er gut leiden. Sie war nicht sein Typ Mädchen, aber schien dennoch lustig drauf zu sein. Martin fand er eigentlich auch ganz niedlich. Der Elfjährige schien an Nanni zu hängen wie ein kleiner Bruder. Und Nanni? Wie fand er sie? Er überlegte, kam aber zu keiner schlüssigen Antwort.
Sie schien sich für ihn zu interessieren, zeigte aber kaum etwas von sich selbst. Sie war in gewisser Hinsicht ein wenig unnormal. Wenn Mädchen ihn sahen, stürzten sie sich praktisch auf ihn. Aber er ließ sich schon lange nicht mehr auf solche Spielchen ein. Eine Zeit lang hätte er das vielleicht getan, aber in seinem Alter?
Seine Mum hatte Recht gehabt, als sie ihn hierher geschickt hatte. Er musste endlich erwachsen werden, sonst könnten die Folgen seiner Familie in Alaska über früh oder spät den Kopf kosten.

Nanni

Ich sitze im Park auf der Bank und genieße die Landluft.
Ich habe die Schuhe ausgezogen, weil ich gerne den Sand und die frische Erde an meinen Füßen fühle. Sie lassen mich glauben, dass die Welt immer noch völlig normal ist. Ich atme tief ein und rieche frische Luft, die ein wenig salzig schmeckt. Ich mag den Park wenn es frisch geregnet hat, die Luft ganz sauber ist und alles nach Bäumen und Blättern und grünem Sommergras riecht.
Plötzlich sehe ich am Rande meines Sichtfeldes Bewegungen.
Seltsam, eigentlich kommt selten jemand um diese Urzeit noch in den Park! Ich drehe mich um und sehe zwanzig Meter entfernt Leandro durch den Park laufen. Die untergehende Sonne spiegelt sich in seinen Haaren und beleuchtet sein von der Sonne gebräuntes Gesicht. Auch er bemerkt mich und winkt.
Er wirft noch einen Blick auf den Parkeingang- dann kommt er im Laufschritt auf mich zu. „ Abends an der frischen Luft zu sein, Gras zu riechen und in den Himmel schauen ist das beste Mittel seine Gedanken zu ordnen und Klarheit über seine Gedanken zu bekommen.“, begrüßt er mich und lächelt schief.
„Mit meinen Gefühlen ist alles in Ordung.“, entgegnete ich ihm.
„Kann ich mich zu dir setzen?“
Widerwillig nickte ich.
„Hör zu, Nanni. Unsere erste Begegnung war ein Missverständnis.“, fing er an.
Ich hob die Augenbrauen.
„ Ich wollte mich doch gar nicht über dich lustig machen. Ehrlich, sein nicht mehr sauer. Es tut mir leid.“ Aus Unschuldsaugen guckte er mich an.
„Verziehen.“, grummelte ich.
Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Wollen wir vielleicht noch einmal von vorne anfangen?“

Leandro & Nanni Neuanfang


Leandro

Für Betrachter mag es komisch ausgesehen haben als Nanni und Ich an diesem Abend noch einmal neu Freundschaft schlossen.
„ Guten Tag. Ich bin Leandro Dentale!“ Brav hielt ich Nanni meine Hand hin.
„Schön dich kennenzulernen, Leandro.“, erwiderte sie und reichte mir ebenfalls die Hand.
Ich konnte ein leises Kichern nicht unterdrücken.
„ Ich heiße Nanni Rogers. Ich hoffe es geht dir gut? Wollen wir uns vielleicht niederlassen und an diesem schönen Abend ein wenig plaudern?“, kicherte sie und brach in Gelächter aus.
Ich setzte mich neben sie, aber so weit entfernt, dass ich sie nicht ungewollt berührte.
Ich belugte ihre nackten Füße die vor ihr kleine Sandkreise in den Sand zeichneten.
„ Bist du zeichnerisch begabt?“, fragte ich und deutete auf ihre Kreise.
„Nein, ich finde nur das Gefühl von Sand an meinen Füßen schön.“, erwiderte sie .
Ich lugte unsicher auf meine eigenen Füße.
„Solltest du auch einmal probieren.“ Sie zeigte auf meine Füße.
„Na wenn du das sagst.“ Ergeben zog ich meine Sneaker aus.
„Was sind das überhaupt für Schuhe?“ Sie hielt einen meiner Sneaker mit ausreichend Gesichtsabstand vor sich und rümpfte angewidert die Nase. Zugegebenermaßen- meine einmal rot gewesenen Mokassin-Sneaker waren wirklich mehr braun als rot.
„Untersteh dich!“, rief ich und schnappte nach meinem Schuh. „Diese Sneaker sind mein ganzer Stolz. Sie sind original aus Wildleder aus Alaska!“
„ Aha so ist das also!“, neckte sie und ließ den Schuh baumeln. „ Na, kein Wunder, das die so aussehen!“

An diesem Abend erzählten wir uns noch viel und langsam aber merklich merkte ich wie Nanni auftaute.
„Warum bist du eigentlich hier im TPA?“, fragte sie mich und lehnte ihren Kopf gegen meine Schulter.
„ Nun ja..“, begann ich. „ Ich hab zuhause in Alaska ziemlich viel Ärger gemacht, verstehst du?“ Er zögerte. „Man könnte sagen ich habe zusammen mit einer Gang aus meiner Stadt die Straßen unsicher gemacht. Es fing alles so harmlos an. Ein paar Nachrichten übermitteln, ein paar Zettel überbringen, einfach nur um unser Familiengeld ein wenig zu unterstützen. Später wurden es mehr und gefährlichere Aufträge. Ich wurde gezwungen mit Drogen und ähnlichem Zeugs zu dealen.
„Du musstest mit Drogen dealen?“ Nanni schaute mich schräg an.
„ Naja. Als ich beigetreten bin, wurde mir ein gewisser Geldbetrag gezahlt.
Das Geld unterstützte meine Familie finanziell und war sozusagen eine Art Hungerlohn-ein Lohn dafür das ich bei ihnen angefangen hatte. In Alaska ist es nicht so sicher wie hier, weißt du?
Naja, auf jeden Fall gingen die Spiele so weit, dass meine Mum eingegriffen hat.
Sie hat zu mir gesagt, ich solle endlich erwachsen werden und einen ordentlichen Beruf erlernen. Und hat mich anschließend hierhin geschickt.“
Ich schüttelte den Kopf. „ Ich habe nicht mehr lange Zeit. Wenn ich nicht mehr für die Gang arbeite, erwarten sie den Hungerlohn zurück, den ich ihnen nicht zahlen kann. Sie werden Mum keine Wahl lassen. Sie wird ihnen das Geld nicht zahlen können und sie werden sagen, entweder das Haus oder mein jüngerer Bruder muss ran. Pablo ist erst neun.“
„Oh..das habe ich nicht gewusst.“ Mitleidig schaute sie mich an. „Tut mir leid.“
„Macht nichts. Dir brauch nichts Leid tun, das du nicht getan hast.
Daran bin alleine ich schuld.“ Ich schluckte.

„ Eigentlich wollte ich keinem davon erzählen...“, er schien unverkennbar zu zögern.
„Ich bleibe hier nicht lange. Bella meinte sie würde mir die Prüfung vorziehen, damit ich schnellstmöglich meinen Schulabschluss habe und dann...“
Nanni nickte als würde sie mich verstehen.
„ Und dann suchst du dir einen richtigen Job, um das nötige Geld zu verdienen. In Alaska natürlich.“
„Ja!“, überrascht schaute Ich auf. „Genau das hatte ich vor!“
Nanni lächelte. Aber es war ein trauriges Lächeln. „Wann wirst du aufbrechen?“
Ich überlegte. „Wahrscheinlich in zwei Wochen.“
Sie schloss die Augen. „ Genau wie Lena .“
Ich nickte und hielt ihre Hand fest umschlossen als sie anfing zu weinen.


Ihre Wimpentuschespuren auf meinem T-Shirt erinnerten mich am nächsten morgen erneut an das Geschehen der letzten Nacht.
Ich verwarf das Shirt und zog mir ein Hellblaues an.
Durch die Vorhänge in meinem Zimmer fielen schon zu dieser frühen Morgenstunde Sonnenstrahlen. Ja, es war ungewöhnlich dass es im Herbst schon so früh hell wurde.
Ich gähnte. Eigentlich war ich ein Frühaufsteher aber in der letzten Nacht hatte ich kaum ein Auge zugetan. Das mir ein Mädchen noch einmal so den Verstand rauben würde! Ich schüttelte den Kopf. Nanni war für mich Neuland. Und ich sehnte mich danach dieses Land endlich entdecken zu können, mit allen Gerüchen und Eigenheiten.
Oh man! Da hatte jemand wohl wirklich zu wenig Schlaf bekommen. Jetzt fing ich schon an philosophische Weisheiten von mir zu geben.
Ein letzter Blick im Spiegel- und ich verlies mein Zimmer.

Erdbeermamarmelade & Twilight


Nanni

Schmerzlich wurde mir beim Aufwachen bewusst, dass ich in spätestens zwei Wochen alleine im TPA wäre. Vielleicht würden wieder Neue kommen? Ich ärgerte mich selber über mein Denken.- Als könne irgendein Neuer oder irgendeine Neue Leandro ersetzen. Oder besser noch: Lena
Ich musste tief durchatmen. Eines Tages kommst auch du hier raus.
Spätestens wenn du achtzehn bist. Und dann gründest du eine nette kleine Familie mit dem Jungen deiner Träume und ihr bekommt Kinder und zieht nach Alaska.
Und ich würde mir einen Hund kaufen. Einen Siberian Husky. Bis jetzt hatte ich Chuppine-Leandro’s Husky-Dame noch nicht live gesehen, aber ich wusste auch so wie wunderschön die Hunde waren.

„Morgen, Schlafmütze:“
Ich lächelte Lena zu und gab ihr einen Klaps auf den Hinterkopf. „Selber.“
„Hier.“ Sie reichte mir ein Brötchen und ein Päckchen Erdbeermarmelade.
“Danke!“ Ich schaute nach rechts, aber Leandro schien noch nicht aufgestanden zu sein.
„Und? Wie war eure Versöhnung gestern noch?“, fragte mich Lena.
„Du weißt davon?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Jake hat’s erzählt. Er meinte er hätte euch im Park gesehen.“
Ich nickte zustimmend.
„ Er scheint doch irgendwie ganz nett zu sein. Ist alles wieder okay.“
„Autsch!“, schrie ich. Mit dem Messer hatte ich mir aus Versehen in die Hand geschnitten und die Marmelade unter den Tisch fallen gelassen. Vorsichtig drückte ich auf den kleinen Schnitt um die Blutung zu stillen und bückte mich nach dem Marmeladenpäckchen.
Ich spürte eine Hand auf meine Schulter tippen. „Morgen, Leo!“, hörte ich Martin rufen. Leandro war auch endlich wach geworden? Ich spürte die Hand erneut. „Morgen, Nanni!“, sagte Leandro und tippte mir auf die Schulter.
Wo war nur meine Erdbeermarmelade gelandet? Ich murmelte ein Morgen zurück.
„Was suchst du denn da unten?“, hörte ich ihn neugierig fahren.
„Etwas das ich nicht mehr wiederfinden kann.“
Ich konnte förmlich spüren wie er sich darüber lustig machte, das ich morgens beim Frühstück unterm Tisch herum kroch und „Etwas“ nicht finden konnte.
„Suchst du deine Unschuld?“, witzelte er.
Jetzt verlor ich wirklich die Geduld. Musste sich der Kerl immer so machomäßig aufführen?
„Geh dir Frühstück holen!“, schnauzte ich ihn an und hörte wie er sich leise entfernte.
Zwei Minuten später tauchte er wieder auf und warf mir ein Päckchen Erdbeermarmelade auf den Platz.
„Die hast du doch gesucht, oder?“


Die nächsten zwei Tage verliefen reibungslos.
Die Sonne strahlte mit letzten Sonnenstrahlen dem eisigen Winter entgegen und brachte unser Thermometer auf gute 17 Grad.
Ich genoss die Tage mit Lena, an denen wir nach Schulzeit mit dem Fahrrad in die Stadt radelten und ein letztes Mal in diesem Jahr das öffentliche Freibad besuchten.
Wir hatten uns Beide vorgenommen, die Tage bis zu ihrer Abreise gemeinsam so schön wie möglich zu verbringen und saßen aus diesem Grund an diesem Abend im Kino und schauten gemeinsam Twilight 4.
Wir hatten uns Popcorn XL gekauft und ich hörte Lena genüsslich neben mir die übrig gebliebenen Maiskörner lutschen. „So richtig entspannend ist das aber nicht oder?“, flüsterte mir meine Freundin ins Ohr.
Ja, das fand ich wohl auch. Im Sekundentakt schrieen sich die rechte und die linke Seite des Kinos abwechselnd „Team Edward“ und „Team Jacob“ zu, wann immer einer der Beiden Hauptdarsteller auf der Kinoleinwand erschien.
Aber tapfer hielten Lena und ich uns bis zum Ende; denn selbst die erfahrensten Stimmen schienen nach eineinhalb Stunden schreien langsam heiser zu werden.
Am Ausgang gaben wir unsere 3d-Brillen ab und machten uns auf den Heimweg.

Chuppine


Als ich an diesem Abend ins TPA zurückkehrte fand Lena einen kleinen karierten Zettel vor unser Tür, den wahrscheinlich jemand durch den Türspalt geschoben hatte.
Sie hob ihn auf und las. „Ich glaub das ist deiner.“, meinte sie und drückte mir das kleine Zettelchen in die Hand.
Ich faltete es auseinander und las ebenfalls:

Hey, Nanni.
Treffpunkt morgen früh um halb sechs vorm TPA, wenn
Du kommen kannst.
L.
Ps: Zieh dir warme Sachen an!

Nanu? Ein geheimer Treff mit Leandro vor Frühstückszeit?
„Steh L. für Leandro?“
Ich zuckte zusammen und fuhr herum. „Mh, ja ich glaub schon.“
Sie lächelte allwissend. „Gehst du hin?“
„Ja.“, erwiderte ich.
Ich war gespannt, was Leonardo mir zu dieser frühen Uhrzeit zu zeigen hatte.
„Aber wenn ich bis sieben Uhr nicht wieder zurück bin, sagst du jemandem bescheid, ok?“, scherzte ich.
Lena nickte ernsthaft. „Mach ich.“


Als der schwarzhaarige Junge am nächsten Morgen mit einer Freundin auftauchte, war Tierwärter Jupp überrascht. „Morgen!“, grüßte der Junge ihn und das Mädchen schenkte ihm ein höfliches Nicken.
„Ich nehme an ihr wollt zu Chuppine?“, fragte er.
Wieder ein Nicken von Beiden.
Er winkte die Beiden zu sich und schloss die Tür der Hundestation auf.
Nanni konnte sofort die Hunde hören. Ein leises Winseln von rechts, ein Scharren von links, aber abgesehen davon schienen die meisten Hunde hier noch zu schlafen.
Der Wärter führte die zwei Teenager einen langen spärlich beleuchteten Gang entlang und bog dann links ab.
Leandro schauderte. Die grauen Betonwände wirkten kühl und auch so fand er kaum ansehnliches an diesem Heim. Er hatte Chuppine nicht abgeben wollen; aber sein Umzug in die Vereinigten Staaten von Amerika hatten ihm keine Wahl gelassen.
„So hier wären wir.“ Ihr Wärter kratzte sich am Bart und zog einen rostigen Schlüssel aus der Hosentasche mit dem er am Schloss hantierte.
Mit einen leisem „Klick“ gab die Tür nach.
„Halbe Stunde, dann hab ich Frühstückspause und ihr seit hier wieder raus!“, grummelte der Mann.
„Ist gebongt.“, erwiderte Leandro und zog das Mädchen an der Hand hinter sich in den Zwinger.
Nanni hörte ein Winseln; dann kam aus dem Käfig Chuppine gesprungen und viel Leandro um den Hals. Mit Beiden Pfoten auf Leandro’s Schultern leckte sie ihm einmal quer durchs Gesicht. Der Junge ging in die Knie. „Schön dich wiederzusehen, Chuppie:“, und kraulte der Husky-Dame hinter den Ohren. Ein glückliches Lächeln umspielte seine Lippen.
Nanni stand ein wenig abseits und betrachtete die Szene.
„Komm her.“, rief Leandro. „Ich stell dich Chuppine vor!“, und zeigte auf den hechelnden Hund. Vorsichtig trat Nanni ein Stück näher. „Geh in die Hocke!“, wies sie Leandro an.
Behutsam nahm er ihre rechte Hand und führte sie langsam zur Hundeschnauze. Sie zuckte nicht zurück, als der Hund an ihrer Hand schnüffelte.
„Gut so!“, nickte Leandro. „Wenn du willst kannst du sie jetzt hinter den Ohren kraulen. Das hat sie gern.“

Nanni

Es tat gut nach langen fünf Jahren das erste Mal wieder warmes Hundefell zu fühlen.
Vorsichtig griff sie nach Chuppie und kraulte sie. Der Hund legte seinen Kopf auf ihre Oberschenkel und schloss die Augen.
„Sie ist zutraulich.“, sagte ich und guckte Leandro an.
„Sie weiß, dass ich sie nie jemandem überlassen würde, der ihr weh tut.“
„Warum hast du mich ihr so komisch vorgestellt?“
Er runzelte die Stirn. „Chuppie ist blind. Schon seit ihrem dritten Lebensjahr. Sie erkennt und merkt sich Menschen indem sie sich Gerüche einprägt. Deshalb lasse ich sie bei neuen Menschen immer als erstes an der Hand schnüffeln.“
Jetzt verstand ich. In der Dunkelheit des Zwingers waren mir Chuppines trübe Augen gar nicht aufgefallen. „Wie alt ist sie?“, fragte ich ihn.
„Neun, glaube ich. Langsam wird sie eine richtige Oma.“
„Den Eindruck habe ich aber nicht!“, sagte ich und grinste als die Hundedame verspielt in Leandro’s Schuh biss.
Er lachte. „Naja, vielleicht noch nicht jetzt, aber bald bestimmt.“
Nachdem der Gefängniswärter uns um kurz vor sechs raus geworfen hatte, verblieb uns noch eine halbe Stunde. Ich schlug vor in den Park zu gehen und er bejahte.
Vorsichtig griff er nach meiner Hand und hielt sie in seiner fest.
Ein wenig erschrocken, zuckte ich zurück.
„Hey, entspann dich mal!“, lachte er amüsiert.
Ich warf ihm einen bitterbösen Blick zu. „Ist ja nicht auszuhalten, wie eingebildet du bist!“
Er schaute verträumt in den Himmel, als hätte er meinen Kommentar von gerade eben einfach überhört.
Aber ich lies seine Hand nicht los. Es fühlte sich richtig an hier mit ihm Hand in Hand durch den Park zu laufen. Die Stille des Parks war beruhigend und lies meine Nerven das erste Mal der letzten Tage zur Ruhe kommen.
„Wenn ich hier raus bin, ziehe ich auch nach Alaska.“, murmelte ich.
Er zögerte einen Moment bevor er etwas sagte. „Du könntest mit mir kommen.“, und lächelte sie aus seinen grünen Augen an.
„Ja klar, ich schmeiß die Schule und hau ab, mit einem Idioten den ich gerade eine Woche lang kenne.“ Ich lachte.
„Nanni?“
„Ja?“ Ich horchte auf.
„Ich glaube ich habe mich in dich verliebt.“
Ich spürte die Hitze in meine Wangen steigen.
„Wirst du rot?“, witzelte er.
Aber ich antwortete nicht. Ich hielt seine Hand nur fest umschlossen, als wir zusammen zurück ins TPA kehrten.

Mittel gegen Liebeskummer


Hallo Jakob!

Begann ich meinen Brief.

Ich hoffe bei dir ist alles in Ordnung, weil du nun schon so lange nicht mehr geantwortet hast.
Nun ist es kaum mehr eine Woche in bis Lena uns verlassen muss.
Wir unternehmen viel und versuchen unsere letzte Zeit gemeinsam zu verbringen.
In meinem letzten Brief habe ich dir von Leandro geschrieben, dem Neuen aus Alaska.
Ich glaub, ich habe mich verliebt.
Aber ich bin unsicher. Mein Gott, wir kennen uns erst eine Woche. Was kann man da schon über den Anderen wissen. Naja jedoch hat er mir heute im park eine Liebeserklärung gemacht.
War es richtig nicht zu antworten?
Vielleicht ist es die falsche Idee, sein Herz an jemanden zu verschwenden, der binnen kürzester Zeit nach Alaska geht und mich hinter sich lässt.
Aber sagt man nicht immer man soll auf sein Herz hören.
Ehrlich, ich weiß nicht mehr weiter!

Ich hoffe, dir geht es gut. Warum antwortest du nicht?

Nanni


Es war ein stürmiger Herbsttag und Lena und ich hatten den ganzen Tag nichts anderes gemacht als geredet und Käsekästchen gespielt.
„Du solltest ihn vergessen!“, pries sie mir nachdem ich nun meine dritte Partie Käsekästchen verloren hatte.
„Ich weiß!“, jammerte ich und vergrub meinen Kopf in meinen Händen. „Aber es geht nicht!“
Sie strich mir über die Haare. „Ich weiß Süße. Aber Liebe ist nie einfach.“
„Sie tut weh.“, jammerte ich erneut und ließ mich von Lena trösten.
„Wenn du willst, lenken wir dich ab.“, schlug sie vor und hielt mir einen Flyer unter die Nase.
„Barkeeperin gesucht?“, schniefte ich .
„Jap! Wir suchen dir einen Nebenjob. Dafür bist du jetzt alt genug und ablenken tut es auch. Und es macht dir Geld.“, sagte sie.
„Mit dem Geld könnte ich nach Alaska!“, schlug ich vor.
Sie sah mich an als wär ich von allen guten Geistern verlassen. Scheinbar hatte mir mein Gejammer über Leandro ein wenig den Kopf verdorben.
„Na, komm!“ Meine Freundin zog mich hoch und drückte mir meinen Anorak in die Hand.

Eine halbe Stunde und drei Latte Machiatos später fühlte ich mich schon wieder halbwegs gewappnet diesen Tag zu überstehen und ließ mich endlich von Lena zu dem Café ziehen, indem angeblich eine Barkeeperin gesucht wurde.
Das Café war hell erleuchtet und sah auf den ersten Blick sehr freundlich aus, als wir eintraten. Der Duft von frischem Kaffee und Croissants erfüllte den Raum.
Die Frau an der Theke konnte nicht viel älter als ich sein. Vielleicht zwei Jahre älter. Sie trug ihr Haar zu einem Zopf gebunden und hatte blaue freundliche Augen. Sie trug eine weiße Schürze und hatte einen Stift und einen Block in der Hand.
Als wir ihr erzählten, warum wir hier waren, nickte sie und verschwand im Hinterraum.
Kurze Zeit später lugte sie durch die Tür und winkte uns zu.
„Komm!“, rief sie und deutete in den Raum.
Lena schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln.
„Bis später!“, flüsterte ich und folgte dem Mädchen.
Der Raum in den ich geführt wurde war stickig und schlecht beleuchtet. Altmodische orangefarbene Lampenschirme hingen von der Decke. Ein altmodischer Schreibtisch aus dunklem Holz stand in der Mitte des Raumes. Die Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen und aus bereits schlissigem grünen Samt. Ein Spiegel stand halb verdeckt von einigen Kartons in der rechten Zimmerecke, die linke Wand zierten Porträts aller Art und Farbe. Der Mann der vor mir am Schreibtisch saß schätzte ich auf fünfzig, höchstens sechzig.
Er hatte eine Zigarre im Mund und atmete noch einmal tief ein, bevor er die Zigarre beiseite legte und zerdrückte. „Du bist die Neue?“, fragte er mit rauchiger Stimme.
Ein wenig eingeschüchtert nickte ich.
„Gut gut.“ Er betrachtete mich einmal von oben bis unten. „Du kannst anfangen. Direkt heute Abend. Stundenlohn von 6.50$. Keine offenen Haare.“ Er blickte zu dem blonden Mädchen das neben mir stand. „Bring ihr die Schürze.“
Das Mädchen verschwand.
Als ich den Raum verließ, wartete Lena bereits draußen.
Ich grinste und hielt beide Daumen hoch. Sie grinste zurück. Leandro war fast vergessen.


Leandro

Nachricht aus Alaska


Leandro

Als sie wieder in die Jugendherberge rauschte, sah sie schon besser aus als zwei Stunden zuvor. Andererseits- er hatte sich selber im Spiegel gesehen. Die vergangenen Tage hatten ihm einiges an Kräften abverlangt und die Schatten unter seinen Augen vermochte wahrscheinlich noch nicht einmal der beste Concealer zu verdecken.
Wie erwartet kam Hanni mit Lena ins Haus. Die beiden steckten viel zusammen.
Er vermutete, das das daran lag, dass Lena sie bald verlassen würde aber vielleicht war der Altersunterschied zwischen Hanni und den anderen Mädchen auch einfach zu groß, als das gemeinsame Interessen hätten bestehen können.
Er war froh, Nanni und Lena bei sich zu haben.
Er wunderte sich: Warum trug Nanni eine Schürze unter ihrem Arm?
Er würde sie bei der nächstbesten Gelegenheit danach fragen.

In diesem Moment klingelte sein Handy. Er schaute auf den Display. Zuhause?
Er drückte auf die grüne Taste.
„Mum, hallo?“
„Leandro? Sie haben Mum mitgenommen!“, hörte ich die Stimme meines neunjährigen Bruders.
Das Blut gefror mir in den Adern und ich spürte wie ein Schwall Adrenalin durch meinen Körper schoss. Ängstlich umkrallte ich meine Bettkante.
„Sie haben WAAS getan?!“ Ich schrie ihn fast an. Innerlich kochte ich.
„Leandro, schrei doch bitte nicht so! Ich kann nichts dafür!!!“, wimmerte Pablo und ich hörte ihn aufschluchzen. Langsam atmete ich aus. Rein und raus, rein und raus.
Ich spürte wie mein Herz sich langsam wieder beruhigte. Zitternd ließ ich die Bettkante los
und ließ mich nach hinten sinken. „ Pablo, wo bist du?“
Mein kleiner Bruder zögerte mit der Antwort. „ Bei Tante Gwenny.“ Ich atmete aus.
„Gut so. Was haben die Männer gesagt, als sie Mum mitgenommen haben?“
„Sie..haben gesagt, dass sie uns vier Wochen lassen. Wenn das Geld bis dahin nicht hier ist... Finito! Aus, Ende, Schluss.“, sagte Pablo tapfer.
Ich grummelte. Vier Wochen waren keine lange Zeit, um zweitausend Euro aufzutreiben und nach Alaska zu fliegen.
Ich hatte Angst. Ich hatte das erste Mal im Leben wirklich Angst.
„Leandro, ich vermiss dich so!“, flüsterte mein Bruder am Ende der Leitung. Seine Worte taten mir in der Seele weh, aber ich konnte nichts ändern.
Wie gerne ich ihn jetzt einfach in den Arm genommen und gedrückt und getröstet und gemurmelt: Es wird alles wieder gut.
Wie gerne ich ihm diese beruhigenden trügerischen Worte jetzt zugeflüstert hätte.
Aber ich wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen. „ Pablo, hör zu. Du musst jetzt stark sein. Bleib bei Tante Gwenny. Trau niemandem und vor allen Dingen...“ ... „Pablo?“
„Mh?“, ertönte seine leise Stimme aus dem Handy.
„Pass auf dich auf!“, flüsterte ich . Dann legte ich auf.

Ich saß nun schon eine dreiviertel Stunde im Gemeinschaftsraum, in der vergeblichen Hoffnung, Bella würde endlich auftauchen.
Ich stützte meinen Kopf in die Hände und knetete nervös mit den Fingern.
Wo blieb die Hilfe, wenn man sie wirklich dringend brauchte?
Ich stand auf und schaute aus dem regennassem Fenster. Immer noch kein Zeichen von Bellas rotem Mercedes Menz auf dem Parkplatz.
Ich verfluchte Bella und die Tatsache, dass sie gerade jetzt nicht da war.
Ich verfluchte auch das Wetter. Wahrscheinlich hatte der Dauerregen auf den Straßen mal wieder für katastrophale Fahrverhältnisse gesorgt und unsere Haushälterin stand im Stau.

Ohne Hoffnung


Nanni

Mein erster Abend im Café war definitiv eine Erfahrung besonderer Art.
Genau das erzählte ich auch Lena, während wir auf meinem Bett saßen, zugedeckt mit meiner liebsten rosa Kuscheldecke und hörten Weihnachtslieder.
„ ...und dann hatte ich keine Ahnung wie man einen Caipirinha mixt.“
Lena lachte. „Ist das nicht das Zeug mit Ginger Ale, Lemon, Rohrzucker und Alc.?“
Ich nickte zustimmend und lachte ebenfalls.
„Eigentlich wusste ich fast gar nichts. Aber Betti, die andere Barkeeperin war echt nett
Und hat mir alles gezeigt, das ich wissen musste.“ Ich grinste. „Sie hat erzählt bei ihrem ersten Mal im Café hätte sie dem ersten Gast sein Getränk über die Bluse gekippt.“
Lenas Mundwinkel zuckten. „ Hört sich an, als hättest du eine Menge Spaß gehabt heute Abend.“
„Eine interessante Erfahrung!“, wiederholte ich.
„Was wurde dir gezahlt?“, fragte sie.
Ich überlegte kurz. „ Ich bin mir nicht sicher, ich meine es waren vierzig.“
Meine Freundin sah eindeutig verdutzt aus. „Vierzig, ehrlich? Zeig mal her!“
Ich kramte in meiner Hosentasche und zog ein paar zerknitterte Scheine raus.
Lena griff danach und zählte nach. „ Ein Zwanziger und zwei Zehner. Stimmt genau.“
Sie schaute beeindruckt. „Wenn ich älter bin, geh ich auch in ner Bar arbeiten.“
„Gute Idee, und wenn du willst, dann weis ich dich ein.“ Ich fügte hinzu: „ Nicht das du noch Wodka zu Tomatensaft und Kokosflocken kippst.“, und lächelte dabei ironisch.
„Haha!“, antwortet meine dreizehnjährige Freundin. „ Wer war denn hier diejenige die nicht wusste wie man Caipirinha mixt?“ und boxte mir scherzhaft in die Seite.

Ich beschloss mein gespartes Geld an einem sicheren Ort aufzubewahren.
Unter dem Bett? Unterm Regal? Im Schreibtisch? Ich lächelte idiotisch. Vielleicht in meinen Lieblingssocken oder der Unterwäschenschublade?
Innerlich strafte ich mich selber für meine Witze.
Ich würde mir ein eigenes Konto anlegen müssen.

Die Bankbeamtin mit der ich das Gespräch begonnen hatte schien mir
eine ehrliche Person zu sein. Sie hatte diesen Granny- Faktor, den ich an alten Frauen so liebte. „Es kostet nichts und du bekommst 3,5% Zinsen.“, pries sie mir.
Ich war einverstanden und unterschrieb den Vertrag.
„Wenn du die Karte erhalten hast pass gut auf sie auf. Leg sie nicht mit metallischen Gegenständen zusammen; das könnte den magnetischen Code deaktivieren.
Achso, und wenn du die Karte verlieren solltest...melde dich sofort in der Sparkassenzentrale, damit wir deine Kontonummer sperren können und kein Anderer Geld abheben kann.“
Sie widmete sich meinen signierten Unterlagen. „Irgentwelche Fragen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank.“, und verließ die Zentrale.


Leandro

„Bella?“, fragte ich, als die mollige Frau mit tropfenden Haaren ins Haus stolperte.
„Kann ich dich etwas fragen?“
Sie sah mich an als wäre ich von allen guten Geistern verlassen.
„Nimm mir erst mal ein paar Tüten ab.“, hechelte sie und drückte mir ein dutzend Einkaufstüten in die Hand.
In gefährlicher Schieflage wuchtete ich die Fracht in der Küche auf die Arbeitsplatte ab.
Meine lang erhoffte Hilfe zog sich in aller Genüsslichkeit den Mantel aus. „ Kaffee?“, fragte sie.
„Nein, lieber nicht.“
Sie nahm eine Tasse aus dem Schrank und füllte sie mit Kaffepulver.
„Hier.“ Ich reichte ihr den Wasserkocher, der mittlerweile ordentlich dampfte.
Als wir endlich am Tisch saßen begann ich mit meiner Idee.
Bella schien nicht sonderlich überzeugt und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
„Ich weiß nicht Kindchen. Keine Frage, ich könnte dich anmelden, aber...“... „ Ich glaube nicht dass du die Prüfung mit deinem jetzigen Leistungsstand überstehen wirst.
Meine Antwort war ein trauriges Nicken. Ich hatte Ähnliches bereits geahnt.
Ich würde meinen Koffer packen und mich noch diese Woche auf den Weg nach Alaska machen. Selbst wenn ich das Geld nicht zusammenbekommen würde.., so würde ich doch versuchen Pablo beizustehen.
Ich konnte jetzt nicht einfach verschwinden, wenn es schwierig wurde. Ich war doch nicht feige. Und auch wenn es mir widerstrebte nach Alaska zurückzukehren, so hatte ich doch keine Wahl: Ich konnte meinen kleinen Bruder nicht alleine lassen. Besonders jetzt würde er mich brauchen. Und ich würde ebenfalls ihn brauchen.
Ich schluckte. Ich würde Nanni vermissen. Vielleicht sollte ich mit ihr reden... Vielleicht war es einfacher einem Mädchen das Herz zu brechen, wenn es im Voraus angedeutet war.
Andererseits? Hatte sie ihm jemals ihre Liebe gestanden? Nein. Also schien sich die Sache nur um sein Herz zu drehen.


Leandro------------------------------


Er kämpfte das erste Mal seit langer Zeit mit den Tränen.
Er wollte hier nicht weg! Er wollte nicht wieder zurück in das kalte verlassene Leben in Alaska.
Er hatte Angst, vor den Dingen, die ihrer Mum geschehen konnten, wenn er versagen sollte.
Er hatte Angst um Nanni.
Eigentlich hatte er vor allem Angst.
Ein Beben schüttelte seine Schultern und er schluchzte leise.
Er hatte keine Wahl. Er musste zurück.
Am besten brachte er es schnell hinter sich. Verstohlen wischte er sich die letzen Tränen von der Wange. Er würde stark sein. Für Nanni und für seine Mum und für Pablo.
Er nahm sein Handy und schrieb.

Nanni,
Ich muss mit dir reden.
Es ist wichtig. Komm heute Abend in den Park.
L.

Trennung


Es war schon dunkel als er endlich die Silhouette von Nanni am Parkeingang entdeckte.
Er war erleichtert, dass sie gekommen war. Er hatte lange vor dem Spiegel gestanden und seine Beichte geübt, aber jetzt sodass er seine Wort in Tat umsetzen sollte, blieb sein Kopf leer. „Hey.“, grüßte ihn Nanni und setzte sich neben ihm auf die Bank. „Du siehst müde auf.“
Er lächelte schief. „Ich habe die letzen Nächte nicht so gut geschlafen.“
Sie nickte verständnisvoll. „Was gibt’s?“ Haareraufend saß er auf der Bank und wusste nicht wo er anfangen sollte.
„Leandro.“, sagte sie lächelnd. „Entspann dich.“
Auch er lächelte, als er sich erinnerte, dass dies die Worte gewesen waren, die er zu ihr gesagt hatte, bevor er ihr seine Liebe gestanden hatte.
Und plötzlich sprudelten die Wörter nur so aus ihm hinaus, als er Nanni von Pablos Anruf erzählte.
Als er geendet hatte musste Nanni schlucken.
„Warte.“ Er zog einen Joint aus seiner Hosentasche und zündete ihn an.
„Du rauchst?“
Er schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. Das hier ist eine Ausnahmesituation.“ Er nahm einen langen Zug und blies den Rauch in kleinen weißen Wölkchen in die Nacht. „ Willst du mal?“, fragte er sie.
Normalerweise rauchte sie nicht. Es war ungesund und gefährlich. Aber in diesem Fall hatte Leandro Recht. Ihre Situation war wirklich eine Ausnahmesituation. Sie zuckte die Schultern. „Meinetwegen.“ Er gab ihr den Joint und warme Luft strich durch ihre Lungen. Sie musste husten. Trotz der verwegenen Geschichte musste Leandro grinsen.
„Blödmann!“, murmelte sie, bevor sie ihm den Joint wieder zurück gab.
In diesem Moment schien die Geschichte für Leandro fast unwichtig. Was zählte war nur Nanni. Er und Nanni zusammen. Sie schmiegte sich an ihn und ließ zu, dass er ihr zärtlich mit den Fingern durch die Haare fuhr.
„Ich werde dir helfen das Geld für die Reise und deine Familie aufzubringen.“, murmelte sie.
„Brauchst du nicht.“
„Doch. Ich lasse dich nicht alleine in die Wildnis ziehen mit nichts als 10 Euro und alten Alaska-Schuhen.“
Diesmal erwiderte er nicht. Er konnte es sich nicht leisten ihre Hilfe abzuschlagen, wo sie sie doch so eindeutig anbot.
Er atmete ihren Duft ein. Ihre Haare rochen nach Ozean. Schön und wild.
Ich will dich nicht verlieren wollte er sie anschreien, aber aus seinem Mund kam kein Wort.


Nanni

Ich lag im Park in Leandros Arm und schaute mit ihm in die Sterne.
„Nimm mich mit.“, flüsterte ich. „Nimm mich mit nach Alaska.“
Er schüttelte den Kopf.
„Bitte.“ Das Wort entdrang nur mühsam meinem Mund und wurde von meiner weinerlichen Stimme fast verschluckt.
Seine Augen verdunkelten sich. „Ich bringe dich nicht in Gefahr.“
Ich hätte ihn am liebsten geschüttelt. „Bitte!“, versuchte ich es noch einmal, aber sein Blick blieb starr nach oben gerichtet. Warum war er so unfähr?
„ Du tust mir weh!“, flüsterte ich traurig.
„Was sagst du da?“ Er legte den Kopf schief, um mich anzusehen.
„Du tust mir weh.“, wiederholte ich, bevor meine Stimme brach. „Ich will nicht ohne dich sein, nimm mich mit.“
Sein Blick wurde traurig.
„Nanni...“ Er unterbrach sich. „Ich würde dich in Gefahr bringen. Ich würde dich mitten aus dem Leben reißen; du hättest keinen Schulabschluss...“Er stoppte erneut und griff nach meiner Hand. „Ich will doch nur das Beste für dich.“
Ich schluchzte: „ Du bist das Beste.“ „Bitte!“
Er ließ meine Hand los.
„Nein!“, flüsterte ich. In meiner Brust schmerzte es, als würde mein Herz zerspringen. Vielleicht tat es ja genau das auch gerade. Die Tränen flossen nun ohne Stopp über meine Wangen und hinterließen helle Spuren. „Wenn du mich wirklich liebst, dann nimm mich mit!“.
Er antwortete. „Bitte, Nanni! Mach mir den Abschied nicht so schwer!“ Seine Stimme klang fast flehend als er mich bittend ansah.
„Liebst du mich denn nicht?“ Ich wurde von Schluchzern geschüttelt.
„Nanni...“, fing er an und schaute mich verzweifelt an.
„Liebst du mich denn nicht?“, wiederholte ich schluchzend. „ Sag es mir einfach. Ja oder Nein?“ Ich schrie ihn fast an.
„Ja...“, „ aber..“
Da hielt ich es nicht mehr aus. Ich rappelte mich auf und rannte. Rannte so lange bis meine Lungen schmerzten und ich den Druck nicht mehr aushielt. Erst jetzt, wo ich mir die Tränen aus den Augen wischte sah ich, wohin ich gelaufen war. Ich stand am Ufer des Boston Sea.

Leandro fliegt raus


Völlig verschwitzt und verheult sank ich auf den Boden.
Die Uferstelle verlief in seichtes hüfthohes Wasser und war von Bäumen und Büschen vor neugierigen Blicken geschützt.
Ich warf noch einmal einen Blick hinter mich- bevor ich mir das T-Shirt über den Kopf zog und nur mit Slip bekleidet in das kühle Wasser eintauchte.
Das tat gut. Langsam wurde mein Kopf wieder klar.
Mit beiden Händen rubbelte ich mir durchs Gesicht um all die Tränen und den Schmutz abzuwaschen. Ich fror ein wenig und legte meine Arme enger um den Körper.
Lena hatte Recht behalten. Leandro würde mir das Herz brechen, wenn ich nicht aufhören würde ständig an ihn zu denken.
Aber da erzähle mir mal irgendein Wissenschaftler wie ein sechzehnjähriges Mädchen, von den Füßen bis zum Kopf verliebt und hormongeplagt, seinem Herz befehlen sollte nicht mehr an Ihn zu denken. Nein, da war ich mir sicher. Das würde nicht funktionieren.
Langsam stieg ich nun wieder aus dem Wasser. Kühles Nass rann aus meinen Haaren über meine Schulter und kitzelte mich am Rücken.
Ich griff nach meinem schwarzen Shirt und versuchte mich bestmöglich trockenzurubbeln, bevor ich es über den Kopf zog und meine Jeans zuknöpfte.
Bella würde toben wenn ich in diesem Zustand völlig nass im TPA ankommen würde.

Als ich endlich am Jugendhaus ankam, war ich froh, dass die Eingangshalle noch erhellt und die die Tür noch offen war. Zitternd schob ich mich durch die Tür in die Wärme und tapste die Treppe hoch während ich hinter mir eine Reihe Wasserspritzer hinterließ.
„Mein Gott, was hat den hier gewütet.“, hörte ich Bella klagen, die wahrscheinlich gerade gekommen war um das TPA zur Nachtruhe abzuschließen.
Dann erblickte sie mich auf der Treppe. „Nanni, warst du das?“
Ich nickte ergeben und trat aus dem Schatten der Treppe.
„Kindchen, was ist denn mit dir passiert! Du bist ja ganz nass!“, hörte ich ihre erschrockene Stimme. Ich wurde von der Treppe gezogen und ins Licht gestellt. „Warte mal kurz.“, und sie eilte davon. Ich stand frierend in der Eingangshalle, als sie dann endlich wieder mit einem Stapel Handtücher in der Hand zurückkehrte. Sie nahm das Oberste blaue und legte es mir über die Schultern. „Trockne dich erst mal ab. Du holst dir noch den Tod!“, bemutterte sie mich und schob mich in den Essensraum.
Als wir uns gesetzt hatten sagte sie: „So, jetzt erzähl, Kleine. Wie ist das passiert? Hat dich jemand extra ins Wasser geschupst?“
Ich lächelte schon wieder leicht. „Nein, da brauchen sie sich keine Sorgen machen. Ich war freiwillig schwimmen.“
Die mollige Frau schnappte erschrocken nach Luft. „Freiwillig?“, wiederholte sie und klang dabei fast wie meine Mutter.
Betreten schaute ich auf den Boden. „Mädchenprobleme und son Zeugs.“
„Ah!“. Bellas Gesicht erhellte sich aber sie guckte mich mitleidig an. „Leandro?“
Und als ich diesmal nickte, flossen die Tränen wieder.
„Na ,na Schätzchen. Nicht weinen!“ Sie nahm mich in den Arm. „Das beste Mittel gegen Liebeskummer ist heiße Schokolade. Ich mach dir eine.“, und kam kurz darauf mit einer riesigen Tasse dampfendem Kakao wieder zurück. Ich kostete einen Schluck. Liebeskummer ade!


Leandro

Den nächsten Tag ignorierte sie ihn. Er nahm das als gutes Zeichen, denn ein erneutes Streitgespräch hätte er nicht vertragen.
Der Unterricht am Vormittag war wie immer stinklangweilig. Er sah Nanni einige Tische weiter eifrig in ihr Heft kritzeln, während Mr. Ports die Tafel mit linearen Gleichungssystemen und Graphen füllte. „So!“, ertönte dessen Stimme. „Ich hoffe sie haben alles übertragen, damit wir nun so gleich mit der Arbeit beginnen können.“ Und erwähnte keine Sekunde später: „Mr. Dentales, ich hoffe sie haben alles kopiert, damit sie direkt mit der Arbeit beginnen können.“ Der pummelige Lehrer trat einen Schritt näher um Leandros Heft zu überblicken.
„Scheint als hätten wir einen Hochbegabten in unserer Klasse.“, sagte er und deutete auf Leandro.
Leandro hörte Stühle über den Boden kratzen als seine Klasse sich neugierig nach ihm umdrehte. Abermals erhob Mr. Ports seine Stimme und schaute dabei wissend lächelnd auf ihn herab. „Mir scheint, als könne Mr. Dentales sich die Gleichungen alle im Kopf merken.“ Allgemeines Gekicher erfüllte den Raum. „Nun denn, Leandro, wollen sie uns vielleicht einen Einblick in ihre Fähigkeiten geben und die erste Aufgabe an der Tafel vorrechnen?“
Damit hatte er ihn erwischt. Leandro schüttelte unmerklich den Kopf. „Nun, denn Leandro, dann würde ich sie bitten dieses Tafelbild jetzt sofort zu kopieren; es sei denn sie wollen nachsitzen.“ „Soll ich mich mit dem Kopieren beeilen?“, ein schelmischer Blick zog über das Gesicht des Jungen. Mr. Dents lief rot an und donnerte: Natürlich sollen sie sich beeilen. Wir warten schließlich nur auf sie!“
Leandro nickte. „Gerne!“, zog sein Handy aus der Hosentasche und fotografierte das Tafelbild. Auch Nanni musste lächeln, als die ganze Klasse in Gelächter ausbrach. Da hatte sich Leandro aber mal wieder schön dumm angestellt. „Raus! Sofort!“, brüllte der Lehrer und Leandro schnappte sich seinen Rucksack und ging ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen.

Betti


Nanni

Ich hatte Lena noch am selben Abend von meinem Streit mit Leandro erzählt.
Meinen Vorschlag mit nach Alaska zu kommen jedoch, hatte ich verschwiegen.
Ich war mir im Klaren darüber was Lena denken würde.
Nun saß ich im Café während ich Mittagspause machte. Ich hatte einige meiner Stunden mit denen von Betti getauscht, damit ich das Geld für Leandros Familie
Möglichst schnell zusammen verdienen würde.
Ich würde ihm das Geld trotzdem schenken, auch wenn ich nicht mit ihm kommen würde.
Es war mir wichtig. Es bedeutete mir etwas.
Zur Mittagszeit kamen kaum Gäste, der große Aufschub kam erst zur Abendzeit. Ich lehnte meinen Kopf an die Stuhllehne, als in diesem Moment Betti durch die Tür geschossen kam.
„Oh mein Gott!“, kommentierte sie und lies sich neben mir auf den Stuhl fallen. „So viele Gäste! Wie sollen wir da bloß die ganze Arbeit schaffen?“
Ich lachte. „Ich fürchte, wir werden einige von ihnen verhungern lassen müssen.“


Betti nickte zustimmend und legte sich mit todernster Miene die Hand auf die Brust.
„Warum bist du hier?“, fragte ich sie.
„Ich wollte nur kurz die neue Lieferung abstellen. Sie steht vor der Tür.“
Schon praktisch mit einem Führerschein dachte ich mir. Aber darauf würde ich wohl noch zwei Jahre warten müssen.
Ich half Betti die Kisten ins Cafe zu schleppen und die ganzen Schnapsflasche, Gläser, Pulver und Sirupe in die richtigen Regale einzuordnen.
„Danke.“. Ich nickte Betti zu.
„Keine Ursache.“ Sie hob die Schultern. „Sehn uns dann heute Abend zur Karaoke Party.“
Die Karaoke Party versprach voll zu werden. Bereits über 15 Paare hatten sich im Voraus Karten bestellt und Tische reservieren lassen.
Mit einem extra Drink, guter Stimmung und cooler Musik verwandelte sich das Café in den Abendstunden in eine coole Bar.
Ich zog meine Jacke vom Stuhl.
Ich würde mich auch mal auf den Weg zurück machen. Das Café würde bis heute Abend geschlossen bleiben.

Unsanftes Erwachen mit Blumen


Es war Nachmittag.
Ein sonniger Nachmittag und Lena und ich spielten auf der Wiese Fußball.
Ich hege keine Besondere Leidenschaft für Fußball aber ich hatte den Tag nicht drinnen
Verbringen wollen, wo ich womöglich noch auf Leandro gestoßen wäre.
Auf zwanzig Metern Entfernung schossen wir den Ball hin und her.
Plötzlich stoppte Lena den Ball mit ihrem Fuß. „ Wollen wir uns Tore aufbauen?“
„Klar, gerne.“ Ich dachte einen Moment nach. „Ich müsste noch ein wenig weiße Sprühfarbe von Halloween haben. Ich geh sie nur schnell holen.“
Sie nickte und machte es sich auf dem Rasen bequem.
Kurz drauf kam ich mit zwei halbvollen Flaschen zurück. „Hier.“ Ich warf Lena die Eine davon zu. Gemeinsam sprühten wir uns Tore.
„Ey, deins ist doch viel kleiner!“ Ich blickte auf und schaute ihrs an.
„Stimmt doch gar nicht! Was erzählst du denn da? Deins ist mindestens einen halben Meter kleiner als meins!“ Ok, vielleicht hatte ich ein bisschen übertrieben.
Meine Freundin runzelte die Stirn und trat 5 Meter zurück. „Von hier sehn sie gleich groß aus.“ Sie rollte mit den Augen. „Ist doch auch egal, lass uns spielen!“, und schoss den Ball gerade, als ich die Sprühdose hinter mich warf.
„Nanni!“ Der Ball der von Lena geschossen kam knallte mir mitten ins Gesicht.
Um mich wurde es schwarz.


Das Bett in dem ich wieder zu mir kam war mein eigenes.
Hatte ihr nur geträumt? Doch dann kam der Kopfschmerz und eine heiße Welle raste durch meinen Kopf. Ich stöhnte.
„Ist sie wach?“, hörte ich eine besorgte Stimme.
„Ich glaub schon.“ Das war eindeutig Lukes Stimme.
Flatternd machte ich die Augen auf, um sie dann geblendet wieder zu schließen. Eine Hand umfasste meinen Oberarm. „Nanni, bist du ok?“, fragte Lena.
Ich nickte schwach.
„Natürlich ist sie nicht ok!“, kommentierte Martin. „Du hast ihr soeben einen Ball mitten ins Gesicht geschossen!“
„Es war ja keine Absicht!“, äußerte sich meine Freundin beleidigt.
Plötzlich hörte ich eine Tür knallen und mit einem Windstoß erreichte mich der Parfumgeruch von Lavendel. „Kinder, beiseite!“, hörte ich Bella schimpfen als sie sich einen Weg durch die Menschenmenge zu meinem Bett suchte.
Sie hob meine Augenlider und schüttelte ihre Hand vor meinem Kopf. Ich lächelte leicht. „Geht schon.“, flüsterte ich. Sie ließ meine Augenlider los und packte mir stattdessen einen blauen nassen Waschlappen auf die Stirn.
„Alle aus dem Zimmer!“, befahl sie und scheuchte die anderen Kinder hinaus.
„Du auch!“, fauchte sie Lena an. „Das Kind braucht Ruhe und Schlaf!“
Mit eingezogenen Schultern verließ Lena das Zimmer. Sie tat mir ein wenig Leid.

Ich hatte wirklich Schlaf nötig, wie ich bald merkte. Meine Augen fielen zu, kaum dass Bella mich alleine gelassen hatte.
Als ich wieder erwachte, stand die Sonne schon tief am Himmel und färbte den Himmel über unserem Jungendheim gelb und orange.
Ich fühlte mich besser; der Schlaf hatte gut getan. Mit beiden Händen abgestützt, setzte ich mich vorsichtig auf. Der Kopfschmerz war noch da, aber nicht mehr so stark.
Ich schaute auf meinen Nachttisch auf dem ein großer Strauss Wildblumen stand. Ich hob den Zettel der daneben lag auf.

Es tut mir alles schrecklich leid, Nanni.
Ich wünschte du könntest mir noch einmal verzeihen.
Natürlich nehme ich dich mit nach Alaska, wenn das
Dein großer Traum ist. Ich liebe dich doch!

Dein dummer Freund.
Leandro

Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, als es die Botschaft verstand.
Ich würde mit ihm kommen! Ich würde ihm Helfen das Geld seiner Familie nach Alaska zu bringen!
Gerade jetzt schlug die Tür auf und fast erwatete ich, Ihn zu sehen; aber es war nur Lena die in den Raum geplatzt war. „Du bist wach.“, rief sie strahlend und kam auf mich zu um mich zu umarmen. Sie drückte mich ganz fest. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht abschießen!“
„Brauch dir nicht leidzutun.“, murmelte ich. „Ich habe einfach nur mal wieder nicht aufgepasst.“
Sie hielt mich noch einen Moment länger bevor sie losließ. „Ich werde morgen früh um 11 abgeholt.“

Abschied von Lena




Leandro

Als Lena und Nanni heute morgen weder zum Frühstück noch zum Unterricht kamen, wunderte ihn das kaum.
Ihm war klar, dass Lenas Abschied kurz bevor stand.
Auch er saß hibbelig in seiner Schulbank. Eigentlich hätte er Lena auch gerne Tschüss gesagt, aber er konnte es sich nicht leisten, im Matheunterricht bei Mr. Dents noch einmal unangenehm aufzufallen. Der Vorfall letzte Woche hätte ihn fast seinen Hals gekostet; denn die Abschlussprüfung konnten nur die Guten schaffen. Und er war weit davon entfernt zu den Schülern zu zählen, die Lehrer sich in ihren kleinen roten Heftchen als Lieblingschüler notierten. Er meldete sich. „Dürfte ich die nächste Aufgabe an der Tafel vorrechnen?“ Ein kleines aber merkliches erfreutes Leuchten ging über das Gesicht seines Mathelehrers. „Gerne, Leandro.“ Ein wenig unsicher stand er auf und ergriff das Stück Kreide, dass Mr. Dents ihm hinhielt. Doch dann dachte er an Nanni und wie stolz sie auf ihn sein würde, wenn er sein Examen hätte, wenn sie in einer Woche zusammen nach Alaska aufbrechen würden.
Und er schrieb. Mit ein wenig Hilfe von Lehrerseite stand die Aufgabe innerhalb fünf Minuten an der Tafel. Sein Mathelehrer nickte zufrieden. „Gut gemacht, Leandro!“
Und das Lob freute Leandro wirklich. Vielleicht würde er doch seinen Kriegsfuß beseitigen, auf denen er mit den meisten Lehrern stand.
„Noch irgendjemand der sich freiwillig meldet?“.....

Als das Klingeln den Unterricht nach zwei Stunden wieder beendete, war Leandro froh endlich aufstehen zu könne. Er reckte sich.
Vielleicht würde er ja doch noch auf Lena und Nanni treffen. Er guckte auf die Uhr, die ihm viertel vor elf meldete.
Schnell stopfte er sein Mathebuch und sein Etui in den Rucksack.
Tatsächlich traf er noch auf Nanni und Lena, die vor der Eingangshalle des TPA’s standen und die Straße hinaufguckten.
Als die Mädchen ihm bemerkten, wank er zur Begrüßung. „Ich hoffe ihr habt wasserfeste Wimperntusche aufgelegt?“
Lena lächelte traurig. „Klar, du auch?“
Er griff nach Nannis Hand und lachte schief. „Nein, danke, ich bevorzuge den natürlichen Look.“
Gemeinsam schauten sie die Straße hoch und runter. Er hatte heute morgen das erste Mal seine Winterjacke aus dem Schrank gezogen, als das Thermometer ihm frostige acht Grad gemeldet hatte.
Auch Nannis Hand fühlte sich kühl in seiner an. „ Du hast den Zettel bekommen?“
Sie schenkte ihm ein Lächeln und nickte. „Wenn du mich schon nicht hier auf einer Wiese vor Fußbällen schützen kannst, wie soll es dann weitergehen?“
Leandro schaute sie unschuldig an. Auch Lena schien den Wortwechsel interessiert mitzuverfolgen, sagte aber nichts.
Endlich hörten sie Autogeräusche und sahen ein schwarzes kleines Auto die Straße hinunter fahren. Das Auto sah gepflegt aus. Nanni wünschte sich alles Glück der Welt für Lena und dass sie glücklich werden würde.
Als das Auto anhielt, stieg eine junge Frau aus. Sie trug ihre braunen Haare zu einem Zopf gebändigt und hatte eine weiße Bluse ohne Kragen an.
Lena schien Leandro ein wenig unsicher, aber als die Frau sie herzlich umarmte, legten sich seine Zweifel wieder.
„Schön dich zu sehen, Lena.“, sprach die Frau mit warmer Stimme. Sie hielt sie ein wenig von sich weg. „Du bist in den letzten zwei Jahren ordentlich gewachsen. Als ich dich das letzte Mal sah, warst du noch ein richtiges Kind.“
Lena lächelte tapfer. „ Wo ist Paul?“
Ihre Tante warf die Hände in die Luft. „Gott weiß, wo der Mann schon wieder steckt. Er ist irgendwo in Finnland auf einem Besprechungsseminar. Aber keine Sorge.“, sie kniff Lena in die Wange. „Er hat versprochen heute Abend vom Flughafen wieder zurück zu sein.
Lena nickte. „Kann ich mich noch kurz verabschieden?“
Ihre Tante beäugte Nanni und Leandro. „Ist gut, aber beeil dich.“

Ohne Lena


Nanni

So standen wir nun also da.
Drei Freunde, die sich trennen sollten. Mehr oder weniger für die Ewigkeit.
Ich umarmte Lena als Erste. „Ich werde dich nie vergessen, du warst immer eine super Freundin für mich.“ Ich schniefte.
„Du für mich auch.“ Sie drückte mich fester. „Bitte vergiss mich nicht!“, und über ihre Wange rann eine einzelne Träne.
„Niemals.“, flüsterte ich. „Niemals werde ich dich vergessen.“
Sie nickte und schob ihr Haar zur Seite. „Versprich mir, dass du keinen Blödsinn machst und auf dich aufpasst.“
„Vor Fußbällen?“, fragte ich und mein Lächeln geriet in meinem Weinen zu einer seltsamen Grimasse.
Lena nickte gequält. Es war fast schmerzlicher sie weinen zu sehen als mich selbst. Ich hatte Lena nie weinen gesehen. In den ganzen zwei Jahren nicht.
„Auch vor Fußbällen.“, sie schlang ihre Arme erneut um mich.
Aus dem Auto erklang ungeduldiges Hupen.
Es zerriss mir fast das Herz, meine kleine geliebte Lena gehen zu lassen.
Schließlich war der Moment der Trennung und der Trennung nicht länger aufzuschieben.
„Bitte schreib mir!“, weinte sie. „Versprich es mir!“.
Ich schluchzte : „Ich verspreche es!“
Es tat weh, als ich ihre Hände freigab und hilflos zurückblieb.
Lena umarmte auch Leandro. „Pass auf sie auf. Bitte!“.
Mit verheultem Gesicht blieb ich zurück, als meine beste Freundin ins Auto stieg, das Auto langsam vorrollte und am Ende der Straße zu einem Punkt zusammenschrumpfte, der sich in Tränen auflöste.
„Komm!“, murmelte Leandro und zog mich an seiner Hand zurück in die Jugendheerberge.
Er mich mit auf sein Zimmer und setzte mich aufs Bett, wo ich meine Trauer an seiner Schulter freien Lauf ließ. „Warum musste sie gehen?“, weinte ich.
Er streichelte mir über den Kopf. „Es ist besser so. Glaub mir, sie wird ein schöneres Leben haben.“
Ich schniefte. „Aber sie wird mich nicht mehr haben!“, und meine Schultern bebten.
„Sie wird dich immer bei mir haben. Sie wird dich ich ganzes Leben lang im Herzen tragen.“
Ich nickte; gewollt das, was er sagte zu glauben.
Irgendwann endlich versiegten meine Tränen und in meiner Erschöpfung, schlief ich an ihn gelehnt ein.


Leandro

Als Nanni erwachte, schien ihre Trauer sich ein wenig gelegt zu haben. Sie sah aus wie ein Monster, mit ihren Wimperntuscheringen unter ihren Augen.
„Die Wimperntusche war wasserfest?“; fragte ich und deutete auf die schwarzen Muster unter ihren Augen. Sie betrachtete sich im Spiegel und warf sich einen meiner Pullover über den Kopf. „Ich sehe keine Wimperntusche!“, kommentierte sie.
„Ich schon.“, scherzte ich und zog ihr den Pullover wieder vom Kopf.
Sie betrachtete sich abermals im Spiegel. „Vielleicht habe ich zu viel geheult.“
„Willst du duschen?“, erkundigte ich mich und deutete auf die Dusche.
Sie seufzte und sagte: „Werd ich wohl müssen.“
Ich ging zu meinem Badezimmerschrank und zog ein kleines weißes und ein großes blaues Handtuch hinaus. „Hier.“ Ich reichte ihr die Handtücher. „Shampoo und Duschgel steht in der Dusche.
Sie nickte Dankbar und verschwand im Badezimmer.
Kurz darauf hörte ich Wasser plätschern und ein milder Shampooduft zog in meinen Raum.
Während Nanni duschte, griff ich nach meiner Weltkarte und meinem Atlas. Ich hatte mir beides gestern Nachmittag in der Stadtbücherei ausgeliehen.


Pläne für Alaska


Ich breitete vorsichtig die Weltkarte auf meinem Bett aus.
Mit einer roten Stecknadel markierte ich den Punkt, an dem ich mich jetzt gerade befand: TPA Jugendhaus, Boston.
Dann suchte ich Willow. Meine Hände fuhren über den Bereich von Alaska.
An den Punkt, an dem meine Heimatstadt ungefähr liegen sollte, steckte ich die zweite Nadel fest: Willow, Alaska.
Ich war mit dem Zug hergekommen; also würde ich auch mit dem Zug zurückkommen.
Ich dachte nach: Wahrscheinlich würde es taktisch wirklich am besten sein, ich würde mir von Boston aus eine Zugverbindung nach Washington suchen. Falls so eine überhaupt existierte; denn vom Zugfahren hatte ich ehrlich gesagt weniger Erfahrung als mir lieb gewesen wäre.
Von Washington würden wir uns eine Zugfahrt durch Kanada suchen müssen.
Am besten nach Dawson, Grenze zu Alaska.
Ich runzelte besorgt die Stirn. Ab diesem Punkt würde es kompliziert werden, denn in Alaska gab es wirklich wenige Züge, die nach Willow fuhren.
Zur Not würden wir einige Tagesmärsche über den Fußweg benötigen. – Kostbare Zeit, die wir eigentlich nicht zur Verfügung hatten.

Ich hörte wie die Badezimmertür aufging und drehte mich um. Schon fertig angezogen tapste Nanni durch mein Zimmer. Ihre noch nassen Haare fielen ihr über sie Schultern und sahen in diesem Zustand fast braun aus. „Hast du ne Bürste?“, fragte sie mich.
Ich schaute sie mit rätselhaftem Blick an. „Ne, sorry.“
Ungläubig riss sie beide Augen auf. „Du hast keine Bürste?“, schrie sie.
Ich schüttelte den Kopf. „Ehrlich nicht.“
Sie sah mich noch ein paar Sekunden an und setzte sich dann auf mein Bett.
„Scherz.“, lachte ich. „Die Bürste liegt da vorne in der Kommode.“ Ich hielt einen Moment inne. „Aber du siehst auch mit strubbeligen Haaren sehr süß aus.“
„Du bist so gemein!“, fauchte sie und sprang von meinem Bett auf.

„Du weißt, du liebst mich.“, antwortete ich ihr.
„Ich dich?“ Sie lachte. „Nie im Leben.“
„Und ob.“ Vorsichtig zog ich zieh zu mir heran. Sie fühlte sich so...zerbrechlich an.
Ich schaute ihr tief in die Augen, meine Lippen umspielte ein leichtes Lächeln.
Dann beugte ich mich vorsichtig vor und küsste sie. Nur ganz sachte und zog mich wieder zurück. Ihre Augen glänzten. „Vielleicht überlege ich mir es ja doch noch anders.“, hauchte sie.
Ich spielte mit einer ihrer nassen Haarstränen. „Ich dachte du liebst mich nicht?“, entgegnete ich leise.
Sie lächelte und schob mich von ihr. „Vielleicht ein ganz kleines bisschen.“
Mein Herz machte einen kleinen Freudensprung. Also empfand sie doch etwas für mich!
„Und du hast immer noch vor mich nach Alaska zu begleiten?“, hakte ich nach.
„Immer und überall hin.“
Ich deutete auf die Karten auf meinem Bett. „Dann würde ich sagen, beginnt unsere Reise genau an dieser Stelle.“

Wir waren den ganzen restlichen Nachmittag mit Pläne schmieden, Karten lesen, Atlanten durchblättern, Tabellen erstellen und Ausrüstung aufschreiben zugange.
„Und du bist dir sicher, wir bekommen alle Züge, die wir bis nach Alaska brauchen?“, fragte Nanni mich.
Nein, eigentlich war ich mir nicht sicher, aber ich nickte trotzdem. „Take me home, country raods..“, sang ich leise.
Mit einem Lachen schob sie mich beiseite. „Lass mich mal sehen.“
Sie griff nach einem meiner schwarzen Stifte und zog unsere ungefähre Route nach.
„Was glaubst du, wie lange wir brauchen werden?“
„Ich würde schätzen, knappe eineinhalb Wochen.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Solange hab ich jedenfalls von Willow bis Boston gebraucht. Wenn wir den Fußweg von Dawson ab einplanen...länger als vier Wochen.“

Schlaflose Nacht


Nanni

An diesem Abend lag ich auf meinem Bett.
Das Zimmer fühlte sich ohne Lena seltsam leer an.
Ihre bunte Bettwäsche war verschwunden, ihre Tierposter über dem Bett nicht mehr da und so starrte ich nur auf das weiße Bettlaken. Sie fehlte mir schrecklich.
Es war schon lange dunkel geworden und ich hätte eigentlich schlafen sollen, aber meine innere Unruhe zwang mich wachzubleiben.
Ich konnte meinen Kopf einfach nicht leer bekommen. Er war voll von Gefühlen, Plänen für die Zukunft und jeder Menge Hormone, die ich um Himmels Willen nicht unter Kontrolle kriegen konnte.
Ich gähnte und rieb mir über die Augen, aber der ersehnte Schlaf wollte sich nicht einstellen.
Mir war kalt. Ich kuschelte mich weiter in die Bettdecke, hoffend mir würde warm werden.

Mir wurde nicht warm und ich schlief nicht ein.
Sollte ich bei Leandro vorbeischauen? Aber vielleicht schlief er ja schon. Das Armaturenbrett auf meinem Nachtisch zeigte elf Uhr zweiundvierzig.
Ich schob die Bettdecke zur Seite. Mit nackten Füßen und nur meiner Pyjamahose und einem dunkelblauen Top bekleidet, lief ich auf Zehenspitzen den Flur entlang.
Mir war bewusst, das das nächtliche Aufsuchen des Jungentrakts ernste Folgen haben würde, wenn Bella mich erwischen würde. Andererseits war das hier ein besonderer Umstand und bekannterweise erfordern besondere Umstände besondere Situationen.
Als ich den Flur entlanglief brannte lediglich ein kleines rotes Warnlicht, das mir den Weg schwach beleuchtete. Ich würde das Licht nicht anmachen; es war zu riskant.
Endlich erreichte ich die gläserne Tür die den Eingang zum Jungentrakt bildete.
Ich drückte und atmete erleichtert auf, als sich die Tür ohne Quietschen öffnete und wieder schloss.
Interessiert lief ich an den Zimmertüren entlang und war bemüht die Namensschilder in der Dunkelheit zu entziffern.
Ich war selten im Trakt der Jungen gewesen und ebenso wenig in Leandros Zimmer.
Ah, da war es ja! An der Tür hing in hölzernen Buchstaben Leandro D. .
Vorsichtig öffnete ich die Tür zu seinem Zimmer. Lediglich ein kleiner Lichtstrahl viel durch das Fenster an der hinteren Wand und beleuchtet spärlich das einzelne Bett, in dem er schlafen musste. Ich schob die Bettdecke ein wenig zur Seite, um mich zu vergewissern, dass er es wirklich war; dann rüttelte ich vorsichtig an seinem Arm.
Mit einem Ruck erwachte er und stieß mich beinahe um, als er erschrocken hoch fuhr.
„Ich bin’s nur.“, wisperte ich.
„Nanni?“, fragte er verschlafen.
Ich nickte. „Ich konnte nicht einschlafen. Kann ich bei dir schlafen?“. Unschuldig guckte ich den gerade Erwachten an.
Müde murmelte er: „Komm her.“, und rückte ein Stück zur Seite, damit ich auch Platz haben konnte.
In jeder Situation wäre mir desgleichen peinlich gewesen. Nachts heimlich durch die Flure zu schleichen um dann bei einem Jungen ins Bett zu steigen, aber Leandro sah so verschlafen und süß aus mit seinen schwarzen verstrubbelten Haaren, dass es mir leichter viel, neben ihm ins Bett zu rücken.
„Zu viel los gewesen heute was“, flüsterte er und fuhr mit seinem Finger sachte meine Lippen nach.
„Mh.“, murmelte ich. „Ich vermisse Lena ein bisschen, ohne sie ist das Zimmer so lehr.“
Eine Weile schwiegen wir. Dann sagte er: „Schlaf ruhig. Ich pass auf dich auf.“
Und ich kuschelte mich in seinen Arm und atmete seinen Duft ein.
Langsam verspürte auch ich, wie ich müde wurde und meine Lider immer schwerer wurden.
Er würde auf mich aufpassen, ich konnte beruhigt einschlafen. Und mit einem leisen Seufzer schlief ich ein.


Wahrscheinlich wäre es schwierig gewesen, am nächsten morgen wieder aus Leandros Zimmer hinaus zu kommen, ohne das jemand es bemerkt hätte, aber glücklicherweise wachte ich rechtzeitig auf, um unbemerkt den Jungentrakt zu verlassen.
Leise, um ihn nicht zu wecken schob ich mich seitlich aus dem Bett und deckte ihn dann wieder zu. „Bis zum Frühstück.“, flüsterte ich und schloss behutsam die Tür hinter mir.
Es war fünf Uhr 32, eine halbe Stunde vor regulärer Aufstehzeit, aber noch waren die Flure menschenleer.
Einig Bella hörte ich, die wahrscheinlich schon unten in der Küche stand um das Frühstück vorzubereiten.
In meinem Zimmer angekommen, schlüpfte ich unter die Dusche und genoss das warme Wasser auf meiner Haut.
In ein Handtuch gehüllt, föhnte ich mir die Haare, legte etwas Wimperntusche auf und zog mich anschließend an. Das Radio spielte die allbekannte Guten-morgen-Musik und stieg pünktlich um sechs auf die Nachrichten um. Wieder einmal nur berichte über Unfälle und Dramen; ich schaltete das Radio aus.
Die großen Sender schienen von solchen Nachrichten zu leben. Jeden tag eine andere Story, jedes Mal ein kleines bisschen haarsträubender als die Letzte. Unsere Gesellschaft liebte Dramen- Unsere Gesellschaft lebte von Dramen.
So weit für den Tag gewappnet, beschloss ich frühzeitig Bella einen Besuch in der Küche abzustatten.
„Nanu? Unserer Langschläferin zu dieser frühen Stunde schon wach?“, begrüßte sie mich als ich in die Küche kam.
„Hab nicht so gut geschlafen.“, antwortete ich und zuckte mit den Schultern.
Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus: „Na, wenn du schon einmal da bist, Kindchen, kannst du mir auch gleich beim Eindecken helfen.“
Bereitwillig holte ich die Teller aus dem Schrank und begann Besteck einzudecken.
Fast hätte ich auch für Lena eingedeckt; ihre Anwesenheit beim Frühstück war mir einfach zur Gewohnheit geworden.
Als Bella endlich frischen Tee auf den Tisch stellte und den Brötchenkorb füllte, kamen schon die ersten Verschlafenen zum Frühstück.
Langsam füllte sich der Raum und angeregtes Stimmengewirr erklang; aber Leandro blieb verschwunden. „Hast du Leandro gesehen?“, fragte ich deshalb Martin, als dieser sich neben mich setzte.
„Ne, warte mal.“ Martin formte die Hände zum Trichter. „Luuuukkkeee! Hast du Leandro gesehen? Nanni sucht ihn!“
„Was ist los?“, rief er und kam zu unserem Tisch gelaufen.
„Ob du Leandro gesehen hast?“, erwiderte Martin.
„Ja.“, nickte Luke. „Ich hab ihn vorhin am Parkeingang mit seinem Hund gesehen.“
„Du hast ihn gesehen?“, fragte ich und hob verwirrt die Augenbrauen.
Martin lachte. „Luke hat ein Fernrohr in seinem Zimmer stehen. Er ist ein richtiger Spanner!“, kommentierte er.
Luke warf ihm einen bösen Blick zu. „Stimmt doch gar nicht!“, protestierte er. „Ich bin nur an Leuten interessiert.“
„Siehst du, Luke. Du bist wohl ein Spanner!“, zog Martin ihn auf und hielt sich lachend den Bauch.
„Jetzt hör mal auf, Martin.“, beschaute ich ihn mit strengem Blick.
„Luke ist kein Spanner. Ein Spanner ist jemand, der an pornographischem Inhalt interessiert ist und nicht jemand, der ein Fernrohr in seinem Zimmer stehen hat.“

„Der an was für einem Inhalt interessiert ist?“, fragte Martin mich verwirrt.
„Vergiss das Wort einfach.“
„Warum?“
Ich lachte. „Das lernst du noch früh genug.“

Ärger am See


Es war Montagnachmittag und ich hatte einiges an Arbeit im Café zu erledigen.
Die knappen 430 Euro, Trinkgeld mit einbezogen, waren zwar ein guter Start, für die drei Wochen, die ich schon im Geschäft war, aber noch reichlich weit entfernt von den 2000 Euro, die Leandro und Ich bis zu unserem Aufbruch nach Alaska brauchen würden.
Gar nicht mal gesprochen von den Kosten für die Zugtickets, die wir brauchen würden.
Ich hatte keine Ahnung, wie viel Geld Leandro besaß, um unsere Reise zu finanzieren, aber da er meine Unterstützung nicht abgeschlagen hatte, konnte es für ihn nicht besonders gut stehen.
Würde ich annehmen, er hätte ebenfalls 400 Euro zusammengespart (was ich aber für unwahrscheinlich hielt ), würde das zusammen mit meinen 400 Euros und den 800 Euro, die ich in den zwei Jahren vom Jugendsozialamt gespart hatte, nur 1600 Euro ergeben.
Ich seufzte. Von wem hatte ich nur meinen Sinn für Naivität? Mit sechzehn mit dem Traumprinzen nach Alaska, oder was?
Ja, beantwortete ich mir meine Frage selbst.
Denn genau danach sah es im Moment aus: Ich würde mit meinen sechzehn Jahren heimlich aus einem Jugendhaus abhauen, um einer Gang im wilden Alaska 2000Euro zu bringen und um meinem ebenfalls sechzehnjährigem Lover, den ich gerade vier Wochen kenne, einen Gefallen zu tun. Einfach ausgedrückt und realitätsnah: Meine Zukunft.


Leandro

Als ich endlich fertig war, bemerkte ich als erstes die Uhrzeit: Es war bereits fünf Uhr!
Als zweites bemerkte ich meine Hände, die vollkommen schwarz waren und verdammt nach Auto rochen. Naja, kein Wunder!
Stolz betrachtete ich den roten Bmw, den ich soeben mit ein wenig Hilfe wieder auf Vordermann gebracht hatte.
„Hier!“ Die Stimme gehörte Alex, der mir gerade ein Bier in die Hand gedrückt hatte.
„Für dein erstes Mal hast du dich echt gut angestellt. Woher wusstest du den ganzen Mist überhaupt schon?“
„Mein Dad hatte früher eine Autowerkstatt. Nichts großes, aber es reichte um uns über Wasser zu halten.“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Mein 23-jähriger Arbeitgeber nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche und prostete mir zu. „ Auf deinen ersten Tag!“
Ich hob ebenfalls meine Flasche: „Auf meinen ersten Tag!“, und trank ebenfalls.
Ich verzog ein wenig den Mund, als ich das bittere Gebräu kostete.
„Noch nie Bier getrunken?“, lachte Alex mit rauer Stimme.
Ich schüttelte den Kopf und lachte ebenfalls ein wenig. „ In Alaska ist es einfach süßer. Das bittere Zeug hier...ist einfach nicht so mein Geschmack.“
„Willst du ne Cola?“, fragte er mich und deutete auf den kleinen elektrischen Kühlschrank im hinteren Teil der Garage.
„Geht schon.“, murmelte ich und stellte die Flasche ab.
„Was macht dein Vater denn sonst noch so, wenn er nicht in der Werkstatt ist?“, fragte er mich neugierig.
Damit hatte er bei mir einen wunden Punkt getroffen; mein Dad war vor drei Jahren an einem Schlaganfall gestorben.
Als Alex mein betroffenes Gesicht sah sagte er: „Tut mir leid, ich wollt nicht unhöflich sein...“
„Nein, das ist okay.“, sagte ich und unterbrach. „ Es ist nur so...er ist vor drei Jahren ums Leben gekommen.“ Schmerzlich holte mich die Erinnerung wieder ein.
„Das tut mir leid.“
„Dir brauch nichts leid tun, das du nicht getan hast.“, entgegnete ich ihm.
„Na dann.“, meinte er und zog zwei zerknitterte Zehner aus seiner Tasche und gab sie mir.
„Wir sehn uns dann morgen.“


Mir blieb noch Zeit bis zum Abendbrot, deshalb beschloss ich kurzer Hand, Chuppine auf einen kurzen Spaziergang zu nehmen.
Die grau weiße Hündin trottete gemütlich neben mir her und schnüffelte die Gegend ab.
„Wollen wir mal einen anderen Weg versuchen?“, fragte ich sie.
Ich führte sie eine kurze Strecke durch den Wald und zog genüsslich die frische Luft ein.
Ich nahm Chuppie die Leine ab. Hier im Wald drohte keine Gefahr und ich verließ mich darauf, dass sie zurückkehren würde.
Schwanzwedelnd stürzte sie davon und sprang bockend über die umherliegenden Baumstämme. Die Bäume waren mittlerweile fast kahl und der Boden unter einer hohen Schicht bunten Blättern versteckt.
Ich schlurfte durch die Blätter und es raschelte laut.
Chuppie kam zurückgelaufen und trug hechelnd einen Riesen-Stock im Mund.
Sie stupste mein Bein an. „Hier, nimm den Stock.“, sollte das heißen.
Ich lachte und schob ihr Hundeschnauze weg. „Sorry, Chuppie, ich will deinen Stock nicht.“, sagte ich zu meiner Husky-Dame.
Doch Chuppie schien mich nicht zu verstehen und stieß mir erneut den Riesen-Stock ins Bein.
„Autsch!“, jammerte ich, als ich fühlte, wie sich die Splitter in mein Bein gruben.
Ergeben griff ich nach ihrem Fundstück und trug den vollgesabberten Stock durch den Wald.
Ich horchte auf. Hörte ich etwa Plätschern? Ich ging weitere zehn Schritte und das Plätschern wurde lauter. Tatsächlich, hier musste irgendwo ein See sein!

Als mein Hund triefend vor Wasser und schlammverschmiert um die Ecke stürzte, brauchte ich keine Bestätigung mehr. „Chuppie!“, rief ich entsetzt.
Aber mein Hund schien die helle Freude an der neuen Entdeckung zu haben und stürzte wieder davon. „Wer soll dich denn wieder sauber kriegen?“, rief ich ihr hinterher.
Kopfschüttelnd bog ich um die Ecke und sah nun auch endlich den See. Schönes blaues Wasser, ein schmaler Uferstreifen und überall um den Uferstreifen grünes Gewächs.
Ich las das Schild, das im Gras steckte: Boston Sea.
Ich pfiff und rief Chuppie wieder zu mir. „Komm schon, Kleine. Wir müssen.“
Von links sah ich ebenfalls eine junge Mutter und ihr Kind auf die Anlegestelle zu halten.
Lachend lief der Knirps mit seinen stummeligen Beinchen über den Uferstreifen und beschaute wundernd das Wasser. „Tja, so klein waren wir alle mal.“, dachte ich mir und riss keine Sekunde später meinen Kopf herum, als Chuppine zurück zum Wasser auf den Kleinen zu stürzte. „Chuppie, NEIN!“, rief ich, aber es war schon zu spät.
In ihrer Überfreude warf sich mein Hund auf den Knirps im Wasser.
Von Links hörte ich die Mutter schreien.
Der Knirps, der nun im Wasser vor meinem helchenden Hund lag, heulte.
„Können sie nicht auf ihren Hund aufpassen, sie Trottel.“, schrie sie hysterisch und stürzte auf ihr Kind zu.
Jetzt wurde ich auch sauer. Wütend rief ich zurück: „Können sie nicht auf ihr Kind aufpassen, sie Tollpatsch!“
Mit diesen Worten machte ich auf den Fersen kehrt und stolzierte Richtung Wald zurück, während ich die Mutter am See fluchen hörte.
Mit einigem Abstand folgte mir Chuppine.
„Toll gemacht.“, fauchte ich sie an und sie wich ängstlich ein paar Schritte zur Seite.
Aber ich konnte ihr nicht lange Böse sein; am Tierheim angekommen fragte ich nach einem Handtuch und rubbelte sie zärtlich trocken. „Macht nichts.“, tröstete ich meinen Hund und gab ihm ein Leckerchen. „Bald kommst du wieder nach Alaska.“
Als sie trocken war, übergab ich sie schweren Herzens an den Tierwächter.
„ Ich hole den Hund in drei Tagen abends ab. Ihr Geld bekommen sie dann ebenfalls.“
Der dicke Mann lachte durch seinen Bart und nuschelte: „Dann erwarte ich euch.“

Elefanten


Nanni

Der Unterricht hatte schon längst begonnen und Leandro war immer noch nicht aufgekreuzt.
Ich kreuzte nervös meine Beine unterm Tisch. Das konnte einiges an Ärger bedeuten, wenn er jetzt noch aufkreuzen würde.
Mr. Dents war heute ohnehin schon in schlechter Stimmung und Leandros Abwesenheit zu Beginn der Stunde hatte nicht gerade zu einer Verbesserung beigetragen.
Ich hatte angeboten, ihn suchen zu gehen, aber auf solche Ideen fiel unser Mathelehrer schon lange nicht mehr rein. „Wenn du den Unterricht schwänzen willst, brauchst du gar nicht erst kommen.“, schnauzte er mich an und ich wurde rot. Ich war es nicht gewohnt von Lehrern angeschrieen zu werden, weil ich regelmäßig gute Noten erbrachte, aber bei Mr. Dents schienen Ausnahmen, die Regel nicht zu bestätigen.
„Mach’s wie Leandro.“, flüsterte Luke mir zu; allerdings gerade noch laut genug, als dass unser Mathelehrer es nicht hätte hören können.
Ich bereitete mich gerade innerlich auf das Ausrasten meines Lehrers bereit, als plötzlich die Tür aufflog und Leandro in den Raum stürzte.

Mit hochrotem Gesicht und verkreuzten Armen stand Mr. Dents vor seinem Pult:
„Ich höre, Mr. Dentales. Was ist ihnen heute Morgen wieder Unaufhaltsames passiert, das ihr Zuspätkommen in meinem Unterricht rechtfertigt?“
Leandro biss sich auf die Lippe: „Ehrlich gesagt, hab ich einfach nur verschlafen.“
Unser Lehrer kniff die Augen zusammen: „ Ehrlich gesagt, bin ich verdammt wütend!“
Er griff nach unserem Klassenbuch und vermerkte Leandro.
„Herzlichen Glückwunsch, Mr. Dentales; das ist genau das 16 Mal, dass sie zuspätkommen.
Und das in nur fünf Wochen. Ich bin beeindruckt!“
„Sie zählen mit?“
„Nein, eigentlich nicht. Sie sind meine ganz persönliche Ausnahme.“
Mein Freund grinste.
„Das ist nicht zum Lachen!“, fauchte unser Lehrer.
Leandro grinste weiter. „Nein, natürlich nicht.“, und setzte sich endlich auf seinen Platz.
„Wenn wir dann endlich wieder mit dem Unterricht beginnen könnten!“, schnaubte Mr. Dents, klaubte sich ein Stück Kreide und begann wieder einmal ohne Gnade die Tafel mit mathematischen Gleichungen zu beschreiben.

Mitten in der Stunde flog ein kleines Blatt Papier auf meinen Tisch.

Ich muss heute Nachmittag unsere Verpflegung, Werkzeug, etc. besorgen, wenn wir
morgen loswollen. Kommst du mit?
L.

Ich hob den Daumen zur Bestätigung. Er guckte zufrieden.
Und mit den Plänen des Nachmittags verging die Mathestunde schneller als gedacht.


Leandro und Ich hatten uns für halb drei vorm TPA verabredet.
„Hast du Geld?“, fragte ich ihn, als er genüsslich mit Rucksack zur Tür hinausgeschlendert kam.
„Genug, hoffe ich.“
„Gut.“ Diese Nachricht war beruhigend. „Wohin gehen wir als erstes? Zum Baumarkt?“
„Ja.“, sagte er und griff nach meiner Hand.
Beide in unsere eigenen Gedanken versunken, liefen wir die Straße entlang.
Plötzlich fragte er: „Hörst du das?“
Ich horchte auf. Es war totenstill. Keine Vögel, kein Windhauch. „Was denn?“, fragte ich verwundert.
„Die Elefanten, hörst du sie nicht?“, entgegnete er.
Ich horchte erneut auf. Nein, ich konnte definitiv keine Elefanten hören. Wollte er sich über mich lustig machen? „Leandro, hier sind nirgendwo Elefanten.“, stellte ich wissenschaftlich fest.
„Ich fragte ja auch nicht ob hier Elefanten sind, sondern...“, er stoppte um dann mit geheimnisvoller Miene fortzufahren „...ob du welche hörst.“
Ich kam mir seltsam dumm vor, als ich nun zum dritten Mal aufhorchte. „Leandro, ich höre auch keine Elefanten!“
„Ehrlich nicht?“
„Ganz ehrlich nicht!“
„Puh!“, ein erleichtertes Lachen bereitete sich auf seinem Gesicht aus. „Ich dachte schon, ich hätte mir nur eingebildet, keine Elefanten zu hören.“
„Das sollte ein Scherz sein, oder?“
„Ja.“, grinste er. „Magst du Elefanten?“
„Ja.“, entgegnete ich. „Du auch?“
Er überlegte. „Ja, ich glaube, ich auch.“ „Kannst du mir eine Frage beantworten?“
Ich zuckte mit den Schultern: „Klar, warum nicht?“
„Sei ganz ehrlich. Hörst du Elefanten?“
Ich lachte und tat als würde ich aufhorchen. „Jaaa...jetzt wo du es sagst, da höre ich sie auch.“
Und diesmal war er derjenige, der verdutzt guckte.

Werkzeug, Zahnpasta und Tabletten


Im Baumarkt hatte ich keine Ahnung, was wir für unsere Reise brauchen würden und was nicht.
„Brauchen wir ein Feuerzeug?“, fragte ich ihn.
„Ja, auf jeden Fall.“ Er überlegte kurz. „Nimm auch ein Paar Päckchen Streichhölzer mit. Man weiß ja nie...“
Ich entknüllte die hellblaue Einkaufstüte, die ich mitgebracht hatte und verstaute ein Feuerzeug und vier Päckchen Streichhölzer.
„Hier!“, er reichte mir einen Meißel, einen kleinen Hammer und eine Spitzhacke.
„Ein Seil?“, versuchte ich mich nützlich zu machen.
„Pack ein.“, sagte er.
Und auf diese Weise liefen wir ca. eine Stunde durch den ganzen Baumarkt und hatten letztendlich eingepackt:
Ein Feuerzeug, Streichhölzer, einen Hammer, eine Spitzhacke, einen Meißel, ein langes Seil, Paketband, vier Päckchen Nägel in verschiedenen Größen, ein Tepichmesser, zwei Taschenmesser, zwei Taschenlampen, eine Stirnleuchte, einen Notfall-Verbandskasten.
Unser anschließender Weg führte uns in einen Drogeriemarkt.
„Shampoo?“, fragte ich und warf zwei Flaschen in unsere Einkauftüte.
Er nahm sie wieder raus. „Iwo, brauchen wir nicht.“
„Was?! Ich soll mir nicht die Haare waschen?!, rief ich empört aus.
Er zuckte mit den Schultern. „Ist ja dein Gepäck, das du 3 Wochen durch die halbe Welt schleppen darfst.“
Okay, da hatte er auch wieder Recht. Ich seufze theatralisch und griff nach der kleinsten Shampooflasche im Sortiment.
Und nach der kleinsten Haarbürste.
Und der kleinsten Zahnpasta..
Und der kleinsten .... okay, ich gab mir ergeben: Zahnbürsten gab er nur in Einheitsgröße.
Leandro packte uns ebenfalls eine Pinzette und Vitamintabletten ein.
„Vitamintabletten?“ Ich schaute nicht sonderlich begeistert. „Lass mich raten, Obst ist zu schwer?“, erwiderte ich.
„Genau, oder du bekommst Skorbut:“
„Ihh!“, schrie ich und griff mir gleich noch eine Packung Tabletten. Ich hatte nicht vor mit verfaulten Zähnen in Alaska anzukommen um mich Leandros Familie als seine Freundin vorzustellen.
Außerdem bestand ich auf Desinfektionsmittel, ein paar Päckchen Verband, Voltaren Schmerz-Gel und Protein-Riegeln.
An der Kasse bezahlten wir und lagen mit diesen 33 Euro zusammen mit dem Zeug aus dem Baumarkt bei 96 Euro.
Hui! Und wir waren noch nicht fertig.
„Wir teilen uns auf.“, schlug Leandro vor, als wir wieder draußen standen.
„Du gehst in die Apotheke und ich in den Supermarkt.“
Ich nickte. „In einer halben Stunde genau wieder hier.“
Er gab mir zwanzig Euro und verschwand auf der Shoppingmeile in entgegengesetzter Richtung.
Das rote Apothekenschild leuchtete mir sofort ins Auge.
Was sollte ich von den zwanzig Euro kaufen? Der alte Apotheker, der hinter seinem Tisch stand schaute ungeduldig auf die Uhr. „Wir schließen in zehn Minuten.“
„Ähm.“, stammelte ich. „ Eine Packung Aspirin bitte.“
Er drehte sich um und nahm eine Packung aus dem Regal. „Noch etwas?“
Ich zögerte. Noch etwas? „Vielleicht noch.. Iod-Lösung, Fiebertabletten, Hustensaft, ein Fieberthermometer und Schlaftabletten.“
Er zog überrascht die Augenbrauen hoch. „ Da muss aber einer sehr krank sein.“
Ich lächelte unsicher und räusperte mich. „Eigentlich nicht.“
„Eine lange Reise?“
Ich nickte erleichtert und gab ihm das Geld. „Den Rest können sie behalten.“, sagte ich, schnappte die Tasche und flüchtete aus dem Laden.

Unter den Sternen


Leandro

Wenn ich ehrlich war, hatte ich verdammte Angst vor meiner Reise nach Alaska.
Ich meine- ich war erst sechzehn. Das ist eine Zeit, in der manche Kinder noch den Tornister von den Eltern gepackt bekommen. Okay, vielleicht übertrieb ich ein wenig, aber der Sinn war derselbe. Und was mich ebenfalls besorgte: Ich musste nicht nur auf mich aufpassen; ich musste Nanni beschützen.
Mit meinem Einverständnis, sie könne mit nach Alaska kommen, hatte ich mir eine Verantwortung aufgeladen, von der ich nicht sicher war, ob ich sie würde tragen können.
Das erste Mal im Leben fühlte ich die pflichtbewusste Seite von mir, die merkte das etwas auf dem Spiel stand. Nicht nur Nanni: Auch meiner Mutter und meinem kleinem Bruder Pablo war ich verpflichtet.
Und sie Alle unter einen Hut zu bringen, fand ich verdammt schwer.
Ich stieß mein Zimmerfenster auf und lehnte mich hinaus.
Kühle Nachtluft umstrich mich. Ich schloss die Augen. Morgen Abend um diese Uhrzeit würde ich vielleicht schon im Zug sitzen, auf dem Weg nach Hause.
Ob Nanni wohl noch im Park war?
Bestimmt, immerhin war es auch ihr letzter Abend hier im TPA.
Erst jetzt merkte ich, dass ich die Zeit hier im Jugendheim unmerklich genossen hatte.
Keine Arbeit. Ein großes Haus mit eigenem Zimmer, ein wenig mehr Freiheit als Zuhause, leckeres Essen und eine Lebensweise, die mir bisher unbekannt geblieben war: Die Lebensweise der Amerikaner.
Es war nicht, wie ich es mir immer vorgestellt hatte: Hollywood, die ganzen großen Stars, Donuts & Bagels, Fish & Chips und die ganz große Bühne. Aber es war trotzdem etwas Besonderes gewesen und im Nachhinein war ich dankbar dafür, von meiner Mutter hergeschickt worden zu sein.
Ich lehnte mein Fenster an und zog die Vorhänge zu. Ich würde auch noch ein letztes Mal in den Park gehen.
Mit meiner Jacke in der Hand verließ ich das Zimmer.
Im Flur stieß ich auf Bella. „Hoppla, gehen wir noch eine Runde spazieren?“, fragte sie mich erstaunt.
„Ich genieße nur noch eine Runde die abendliche Luft.“
Sie schien nicht wirklich überzeugt. „Sei rechtzeitig zurück, sonst ist geschlossen und du darfst die Nacht draußen verbringen.“
„Keine Sorge. Ich werde rechtzeitig zurück sein.“, und wank zum Abschied.

Als ich im Park eintraf, entdeckte ich wirklich eine bekannte Gestalt auf der Bank.
Ich pfiff leise. Sie drehte sich um. Sie hielt sich die Hand vor die Augen; wahrscheinlich konnte sie mich in der Dunkelheit nicht erkennen.
Dann wank sie mir zu; ich wank zurück.
„Hey.“, begrüßte ich Nanni.
Sie trug ein rosa Sweatshirt, das in einem süßen Kontrast zu ihren blonden, zotteligen Haaren stand.
„Hey.“, grüßte sie zurück und machte Platz, damit ich mich neben sie auf die Bank setzten konnte.
„Frierst du nicht ein wenig?“, fragte ich sie.
„Ein bisschen, ist aber nicht so schlimm.“
„Doch.“ Ich zog meine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. „Besser so?“
Sie nickte.
„Genau diese Abende werde ich vermissen.“, murmelte sie.
„Ich auch.“
Sie zeigte hinauf in den Himmel. „Siehst du den kleinen Wagen?“
„Nein, ich habe keine Ahnung von Sternkunde.“, lachte ich. „Wo ist er denn?“
Sie griff nach meinem Arm und deutete damit auf den Nordstern. „Siehst du den Polarstern?“, fragte sie. Ich nickte.
„Gut, schau. Der Polarstern bildet den Griff des kleinen Wagens. Er steht in Dreiecksform mit den beiden Sternen daneben. Das ist der Griff des Wagens.“ Sie verschob meine Finger um einen Zentimeter nach links. „Und diese vier Sterne, die das Viereck bilden, das ist der Wagen.“ Sie ließ meine Hand wieder sinken.
Ich schaute fasziniert nach oben. „Woher weißt du das alles?“, fragte ich sie leise.
Sie lachte kurz auf, als wenn ihr eine schöne Erinnerung gekommen wäre. „Luke hat ein Fernrohr in seinem Zimmer stehen. Manchmal...bin ich abends zu ihm und dann hat er mir die Sterne gezeigt.“
„Schön.“, murmelte ich.
„Ja, das war es.“, nickte sie. „Willst du, dass ich dir auch den großen Wagen zeige?“
„Alle Sternbilder, die es gibt.“
„Ich kenne nicht alle.“, wisperte sie und ihr Blick schweifte durch den Himmel.
„Dann erfinden wir welche.“
„Unsinn.“, erwiderte sie.
„Gar nicht Unsinn.“ Ich zog sie an mich und roch ihren Duft nach Ozean. Himmel, wie ich dieses Mädchen begehrte.
„Dann zeig mir eins.“, flüsterte sie.
Ich kniff die Augen zusammen. „Da vorne, die drei Sterne und der orangefarbene Stern in der Mitte: das ist der Glückskleestern.“, zeigte ich.
Sie kicherte. „Das ist ein Teil des Poseidons.“
„Mh, na gut.“, grummelte ich. „Dann... die zwei dort vorne und .. der große weiße.“
„Du bist ein Dummkopf.“, erwiderte sie. „Der Mond ist kein Stern.“
„Och, wieso denn nicht?“, protestierte ich.
„Er leuchtet nicht.“, klärte sie mich auf.
„Tut er wohl!“
„Nein, tut er nicht. Er wird von der Sonne angestrahlt, aber er leuchtet nicht von sich selbst aus.“
Stimmt ja, jetzt erinnerte ich mich wieder. „Dann nenne ich den kleinen Stern direkt über uns, den Nanni&Leandro-Stern.“, schlug ich vor.
„Ein schöner Name für einen Stern.“
„Ein Stern-chen.“
Sie kicherte abermals. „Okay. Es ist das Nanni&Leandro-Sternchen.“
Ich nickte und streichelte sanft ihre Wange. Ich sah ihr in die Augen.
Sie schien so ... perfekt für mich. Sie war das einzige, das ich an diesem Abend wollte.
Ich stützte mich auf den Ellenbogen und nahm ihr Gesicht nun vorsichtig mit Beiden Händen.
Diesmal kam sie mir entgegen. Erst sacht, dann fordernder erwiderte sie meine Küsse.
Meine Hände umfassten ihre Taille und zogen sie an mich.
Ich konnte nicht aufhören, sie zu küssen. Sie war so wunderschön. Wie ich dieses Mädchen liebte. Ich liebte sie, wie keine andere zuvor. Sie war besonders; sie war anders, als alles andere zuvor.
Dann schob sie mich von mir und auf einmal bekam ich ein schlechtes Gewissen, dass ich zu weit gegangen war. „Tut mir leid.“, sagte ich heiser. Ich ohrfeigte mich innerlich selber; ich hatte nicht zu weit gehen wollen.
Ich erwartete, jetzt würde sie wütend werden und mich verstoßen, aber sie schaute mich nur mit geweiteten Augen an. Dann schloss sie sich in meine Arme und legte ihren Kopf auf meine Brust. „ Boy, you are my only.“, flüsterte sie leise.

Sturz aus der Höhe?


Als ich zum ersten Mal wieder auf meine Handyuhr schaute, staunte ich nicht schlecht, als wir schon viertel nach zehn hatten.
„Du, Nanni. Wir haben schon viertel nach zehn.“
„Nicht ehrlich.“
„Doch.“
Ihre Augen weiteten sich. „Was? Schon so spät?“
„Lass uns rennen, vielleicht schaffen wir es noch rechtzeitig.“, schlug ich vor.
Wir rannten quer durch den Park, stolpernd und durch die Dunkelheit. Nanni fluchte, als sich irgentetwas in ihrer Hose verfing und ein Reißen erklang.
Nach Atem ringend erreichten wir endlich die Straße. Die gelb leuchtenden Straßenlaternen waren bizarre Schatten auf uns.
„Stopp, einen Moment!“, keuchte Nanni und rang nach Luft. Ich hustete.
Abermals rannten wir weiter, an alten Häusern vorbei und neben Bahngleisen entlang; bis wir endlich in kleiner Entfernung das TPA ausmachen konnten.
Die letzten Meter waren die schlimmsten. Als wir durchgeschwitzt, hechelnd, endlich vorm Jugendhaus standen, war die Eingangshalle in Dunkelheit getaucht.
„Wir sind zu spät.“, sagte Nanni unnötiger Weise.
Ja, das hatte ich wohl auch bemerkt. Erschöpft ließ ich mich die Hauswand hinunter sinken.
Neben mir tat Nanni genau dasselbe. „Wir könnten ganz laut klopfen, vielleicht hört uns Bella noch.“, machte sie den Vorschlag.
„Damit sie tobt wie ein Sturm?“
„Wir sind doch eh den letzten Tag hier.“, erwiderte sie.
„Okay, versuchen wir’s.“, lenkte ich ein uns wir begannen mit beiden Fäusten gegen das Glas zu schlagen.
„Aua!“, jammerte Nanni, aber sie klopfte weiter.
Entweder konnte uns niemand hören, oder uns wollte niemand hören- letztenendes gaben wir unsere Versuche erfolglos auf.
„Wir werden erfrieren.“, jammerte Nanni weiter. „Erbärmlich, nur durch eine Scheibe Glas getrennt!“ Sie zog einen Flunch. „Aber du als Erster, nur mit deinem T-Shirt bekleidet.“
Sie zog sich meine Jacke fester um die Schultern, und auch mir wurde langsam kalt, nachdem die erste Wärme vom Rennen verbraucht war.
Eine geschätzte Stunde saßen wir auf diese Art und Weise vorm Jugendhaus.
Plötzlich sprang ich auf. Ich hatte doch mein Fenster offen stehen gelassen, bevor ich gegangen war!
„Komm!“, rief ich Nanni aufgeregt zu. „Ich glaub, ich weiß, wo wir noch reinkommen! und zog sie um das Gebäude herum.
Ich hoffte nur, die Putzfrau hatte zwischenzeitlich nicht vorbeigeschaut und das Fenster zugemacht.
Aber als wir die Fensterseite des TPA’s erreichten, stand mein Fenster immer noch sperrangelweit offen.
„Du willst da jetzt nicht ehrlich hochklettern?“, fragte Nanni mich und fixierte den Punkt, der geschätzte sechs Meter über uns lag.
Ich zuckte mit den Achseln. „Hast du eine andere Idee hineinzukommen?“
Kein Nicken.
„Also versuchen wir’s?“, hakte ich nach.
„Meinetwegen.“, sagte sie. „Aber du als Erstes.“
Ich beschaute die Wand. Das Gestein war frisch verputzt und warf keinerlei Stützpunkte auf, aber an der Regenleiter waren gelegentliche Trittstangen angebracht. Ich rüttelte an einer. Sie schien fest zu sein. Mit beiden Händen an der Regenrinne und den Füßen auf den Trittsprossen suchte ich mir vorsichtig meinen Weg nach oben.
Bloß nicht nach unten gucken, sagte ich mir und kletterte weiter.
Kurz vor meinem Balkon stoppte ich. Ich versuchte ihn mit einer meiner Hände zu berühren, aber er war zu weit weg. Ich nahm die Hand wieder zurück, klammerte mich an das Rohr und versuchte das Gleiche mit meinem Fuß. Tatsächlich konnte ich ihn ganz knapp in eine Lücke im Balkongelände stellen. Nun würde ich mit den Händen hinterher müssen. Ich schaute doch nah unten und es schwindelte mir, als ich die Höhe sah.
Ich sah nur eine Möglichkeit, jetzt auf den Balkon zu kommen.
Ich holte tief Luft, fasste all meinen Mut zusammen und sprang.
Einen erschreckenden Moment hing ich in der Luft, bevor meine Hände das Geländer zu fassen bekamen. Schnell zog ich mich über das Geländer auf den Balkon und seufzte innerlich tief, als ich endlich auf sicherem Boden saß.
„Jetzt du.“, rief ich hinunter, wo Nanni immer noch ein wenig skeptisch vor der Regenrinne stand.
„Du schaffst das!“, rief ich um ihr Mut zu machen.
Vorsichtig setzte sie ihren Fuß auf die erste Sprosse.
„Gut, so Nanni. Und jetzt ganz langsam eine Sprosse nach der nächsten.“
Sie nickte ängstlich und klammerte sich fest um das Rohr.
Mein Herz schlug heftig, als sie abrutschte. Ein hysterischer Schrei entwischte ihr.
„Ganz ruhig.“, verordnete ich ihr und versuchte dabei meine eigene Stimme im Zaun zu halten. „Versuch’s noch einmal.“
Ein verängstigtes Nicken; dann setzte sie erneut ihren Fuß auf die Sprosse.
Als sie nicht abrutschte, atmete ich erleichtert auf. Uns trennten nun nur noch etwa sechzig Zentimeter. Unsicher schaute Nanni auf den Balkon, der nun einen halben Meter vor ihr in der Luft hing. „Mach es wie ich.“, schlug ich vor und sie schob vorsichtig ihren Fuß nach vorne und stellte ihn schräg in das Balkongelände.
Es erschien mir bei ihr riskanter, weil sie ein ganzes Stück kleiner ist als ich und trotzdem diese Entfernung überbrücken musste.
„Jetzt die Hand.“, flüsterte ich ihr beruhigend zu.
Ihr ängstlicher Blick schwenkte zwischen sicherem Balkon, Regenrohr und meinen ausgestreckten Händen. Ein ängstliches Wimmern kam von ihr.
„Ich fang dich.“, sprach ich ihr zu.
Sie nickte, dann sprang sie.

Nervenkitzel



Nanni

Für eine Millisekunde hing ich in der Luft, dann stürzte ich.
Meine Hände berührten im Flug das Balkongelände und griffen danach, aber sie rutschten am glatten Geländer ab. Hysterisch schrie ich, als ich fiel.
Dann, plötzlich schloss sich eine warme Hand um meine und ein Ruck schoss durch meinen Körper. „Ich hab dich. Lass nicht los.“, rief Leandro und biss die Zähne zusammen.
Ich wollte nicken, aber in meiner Panik konnte ich mich kaum mehr bewegen.
Seine Stimmer holte mich zurück: „Nanni, gib mir deine andere Hand!“
Ich reichte ihm die Hand und er griff danach.
„Versuch nicht zu zappeln.“, befohl er mir und zog mich langsam über das Geländer.
Als ich auf den Balkon plumpste, wich alle Kraft von mir. Auch Leandro sackte erschöpft zusammen. Meine Hände zitterten wie Espenlaub.
Ich fing an zu wimmern und er zog mich an sich. Leise flüsterte er mir zu: „Es ist alles gut. Es ist vorbei.“ Ich nickte und an ihn gedrängt, kehrte die Wärme zurück.
„Gehen wir rein?“, fragte er.
Ich nickte.
Nachdem der erste Schreck gewichen war, war ich wieder fähig zu sprechen. „Nie mehr.“, flüsterte ich. „Nie mehr in meinem Leben.“ Dann verabschiedete ich Leandro, der noch unsere Taschen für den Aufbruch morgen Abend packen musste.
„Du solltest heute früh schlafen gehen.“, sagte er, als er durch die Tür ging.
„Früh? Wir haben elf Uhr durch! Sei leise auf dem Flur, damit dich niemand hört!“
Dann ging er und ich war wieder alleine. Ich beschloss vor dem Schlafengehen noch einen kurzen Brief an Lena zu schreiben.

Liebe Lena,

Ich hoffe, du hast dich mittlerweile ein wenig eingelebt in deinem neuen Zuhause.
Du fehlst mir sehr und ohne dich ist es hier nur halb so lustig.
Ich verbringe den Großteil meines Tages mit Leandro, in der Schule oder im Café.
Ich habe beschlossen mit Leandro nach Alaska zu gehen. Ich hatte es dir nicht vorher sagen wollen, du hättest dir nur Sorgen gemacht.
Aber sei unbesorgt, mir geht es gut.
Wir werden morgen Abend aufbrechen und haben schon alles vorbereitet.
Wenn wir uns irgendwann noch einmal sehen sollten, dann werde ich dir die ganze Geschichte erzählen.
Du brauchst mir also für geraume Zeit keine Briefe mehr schreiben; ich werde dir aus Alaska meine neue Adresse schicken.

Ich hab dich lieb.

Nanni

Dann faltete ich den Brief ordentlich zusammen und steckte ihn in einen Briefumschlag.
Ich würde ihn morgen Abend am Bahnhof in den Briefkasten werfen.
Ich dachte an Jacob und an die Dinge, die er mir aus Alaska geschrieben hatte.
Warum hatte er mir so lange nicht geschrieben? Vielleicht war er das Schreiben müde geworden oder- daran wollte ich gar nicht erst denken- er lebte nicht mehr.
Die Überlebenschancen dort und die Überlebenschancen hier trennten Welten.
Ich würde meine Zeit brauchen um mich an die neuen Gefahren zu gewöhnen.
Wilde Tiere, giftige Schlangen, Erdbeben, Eisspalten und wahrscheinlich eine Menge anderer Dinge von denen ich noch nie etwas gehört hatte.
Mein zusammengespartes Geld lag ebenfalls in einem Briefumschlag, gut getarnt mit Briefmarke und erfundener Adresse, damit auch bloß keiner auf die Idee kam, ihn mir zu stehlen.
Ich hatte ihn mir in meine Jacke gesteckt, die ich morgen Abend anziehen würde, zusammen mit meinem Taschenmesser, einem Stift und einem Blatt Papier, einer Flasche Pfefferspray und meiner Wimperntusche.

Um Leandros Ratschlag Folge zu leisten, ging ich ins Badezimmer, putze mir die Zähne und zog mir meinen Schlafanzug an.
Ich schlief schnell ein; das nächtliche Manöver hatte mich müde gemacht.

Aufbruch


Nanni

Das hibbelige Gefühl begann, als ich beim Frühstück saß und mir gerade mein Brötchen mit Erdbeermarmelade schmierte.
Ich hatte mir sechs Brötchen genommen; eins für mich, zwei für Leandro (der seltsamerweise nicht zum Frühstück erschienen war.) und drei Brötchen für die Zugfahrt heute Abend.
Als ich meinen Blick nach rechts drehte, bemerkte ich wie mich Martin ganz entgeistert anschaute. „Du isst sechs Brötchen?!“, fragte er skeptisch.
Ich lachte, um meine Verlegenheit zu überspielen. „ Die sind für Leandro. Der ist nicht zum Frühstück gekommen.“ Martin kniff die Augen zusammen und fixierte die 5 Brötchen, die noch auf dem Tisch lagen. „Leandro isst nicht ehrlich fünf Brötchen?“, fragte er abermals.
„Doch tut er.“
„Er isst sonst immer nur zwei!“, kommentierte Martin.
Langsam wurde mir das Kerlchen zu schlau. „Er ist doppelt so groß wie du, Martin. Er braucht die Kraft.“, schnaubte ich.
„Er braucht die Kraft?“, lachte Martin. „Für Unterricht schwänzen, oder was?“
Ich warf ihm einen bösen Blick zu und biss ihn ignorierend in mein Brötchen.
„Schon gut, Tschuldigung.“, murmelte er. „Solang er nicht dick wird...“
Ich warf ihm einen entsetzten Blick zu. „Er wird nicht dick.“, behauptete ich.
„Woher willst du das wissen?“. Martin schien sich zu amüsieren.
„Hattest du dich nicht gerade entschuldigt?“, konterte ich.
Martin schwieg. 1:0 für mich.
Kurze zeit später kam auch Leandro in den Raum.
„Morgen.“, grüßte er in die Runde und setzte sich auf den Platz neben mich.
„Hier.“, ich schob ihm die fünf Brötchen rüber.
Mit misstrauischem Blick beäugte er die Brötchen- „Du hast mir fünf Brötchen mitgebracht?“, fragte er.
„Nun ja, du brauchst Kraft.“, erwiderte ich und verdrehte die Augen in Martins Richtung, der nun aufmerksam unserem Gespräch folgte.
Leandro schien meine Andeutung nicht zu verstehen. Oh man, war dieser Kerl wirklich so schwer von Begriff?
„Nanni, ich esse immer nur zwei. Immer.“
Martin fing an zu grinsen.
„Du hattest mir doch heute morgen gesagt, du hättest so einen riesigen Hunger.“, zischte ich und trat ihm ordentlich gegen sein Bein.
Endlich schien er verstanden zu haben, was ich ihm sagen wollte. Mit schmerzverzogenem Gesicht rang er sich ein Lachen ab.
„Ach der Hunger...“, lenkte er ein.
Enttäuscht sah ich Martin Leandro anblicken. Da hatte sein Held ihn wohl ausnahmsweise im Stich gelassen.
Innerlich aber grinste ich und war froh, dass Martin aufstand und ich die letzten drei Brötchen unauffällig in meinem Schulranzen verschwinden lassen konnte.

Der anschließende Unterricht verging quälend langsam. Zwei Stunden Englisch, Zwei Stunden Bio, Zwei Stunden Mathe.
Während ich in Bio eine Alaska-Karte zeichnete, sah ich Leandro alle paar Minuten auf die Uhr zu gucken und unruhig mit den Füßen wibbeln.
Ich versuchte mich selbst ein wenig zu beruhigen; immerhin waren es noch über acht Stunden, bis zu unserem Aufbruch.
„Ms. Rogers. Sie möchten gerne meine Aufgabe lösen?“, riss mich die vertraute Stimmer unserer Bio-Lehrerin Jenkins aus den Gedanken.
„Ähm .. nein., möchte ich nicht.“, stammelte ich.
„Äquatorialebene!“, zischte es hinter meinem Ohr.
Meine Biolehrerin startete einen erneuten Versuch. „Ms. Jenkins. Ich möchte, dass sie mir meine Frage beantworten.“ Ihre braunen Augen glitzerten verdächtig hinter ihrer schwarzen Brille. Ich schluckte.
„Könnten sie die Frage bitte noch einmal wiederholen?“, fragte ich verunsichert.
„Ich nehme an, mein Unterricht ist ihnen nicht interessant genug?“, erwiderte sie.
Mist, das lief in die falsche Richtung. Ich kramte in meinen höflichsten Formulierungen: „Nein, Ms. Jenkins, ihr Unterricht ist äußert faszinierend aber...“
„Was aber?!“
„Ich habe ihren Satz akustisch nicht verstanden.“
„Ah“, breitete sich ein überraschtes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Es dauerte ein oder zwei Sekunden, bis ich bemerkte, dass die Bombe entschärft war.
„Ich wollte wissen...“, sagte meine Bio-Lehrerin. „wo die Chromosomen sich in der Metaphase der Mitose sammeln.“
„Auf der Äquatorialebene?“, riet ich.
Ihr plötzliches Nicken, ließ mich aufatmen. „Danke.“, zischte ich nach hinten, wer auch immer mir die richtige Antwort verraten hatte.
„Ich hoffe ich liege richtig in der Annahme, sie wählen den Biologie-Leistungskurs?“, platzte meine Lehrerin plötzlich heraus.
Ich nickte verunsichert und sie schien mit meinem stündlichen Unterrichtsbeitrag zufrieden zu sein; den Rest der Stunde konnte ich ununterbrochen Alaska-Karten in allen Formen und Farben zeichnen.

„Das war ja Rettung in letzter Sekunde.“, meinte Leandro als wir nach Unterrichtsschluss durch die Flure schlenderten.
Oh ja, wie Recht er hatte. Äquatorialebene, so ein bescheuertes Wort war mir die letzten Bio-Stunden auch nicht in den Mund gekommen. Oder ich hatte einfach nicht aufgepasst.
Allgemein hatte sich mein Unterrichtsbeitrag die letzten anderthalb Monate enorm verschlechtert und das lag sicher nicht an den kühlen Temperaturen.
Obwohl es im Grunde genommen irrelevant war, da ich meinen Schulabschluss nicht in naher Zukunft absorbieren würde.
„Hast du gesehen, wer mir die Lösung vorgeflüstert hat, ich hab’s nicht erkannt.“, erkundigte ich mich.
„Nein.“, schüttelte er den Kopf.
„Ich weiß nicht, was ich heute Abend anziehen soll.“
Er starrte mich perplex an. „ Einen Pullover?“
Ich verdrehte die Augen. „Klar einen Pullover, aber was für einen?“
„Hauptsache warm.“
„Den schwarzen mit den Glubschaugen an?“
Er kicherte. „Okay. Jeden außer Diesen.“
Das hatte mir zwar nicht viel geholfen, aber ich gab mich zufrieden und verabschiedete mich, um noch einmal gründlich meinen Kleiderschrank zu durchsuchen.


Ich hatte mich letzten Endes für meinen dunkelblauen mit Green-Day-Aufruck entschieden. Warm, bequem und unauffällig. Denn besonders heute sollten wir vermeiden, gesehen zu werden.
Dazu eine dunkle Jeans und meinen blauen Anorak.
Meinen Rucksack hatte ich Leandro überlassen- er würde besser wissen, was es einzupacken galt und was nicht.
Ich selbst hatte mir nur meine Handtasche auf mein Bett gestellt. Noch war sie vollkommen leer.
Ich griff nach meinem Kissen und stopfte es hinein.
Noch etwas für heute Nacht? Ich packte ebenfalls einen Zehner, eine Packung Taschentücher, zwei Proteinrigel und unsere drei geschmierten Brötchen ein.
Das Füllvolumen meiner Tasche war damit voll ausgenommen. Mit beiden Beinen quetschte ich sie zusammen, während ich oben am Reisverschluss zehrte, um die Tasche zu schließen.
„Ratsch.“; machte es.
Ich warf die Fracht in meinen Kleiderschrank. Wenn Jemand in mein Zimmer kommen würde, musste er nicht gleich sehen, dass ich auswandern würde.
Und damit galt es warten. Ich legte mich auf mein Bett und machte meinen I-Pod an.
Die Musik erfüllte mich mit ihren Klängen und die Drumms des Schlagzeugs dröhnten in meinen Ohren. Für eine kurze Zeitspanne vergaß ich Alaska.

Da ich nicht verreisen wollte, ohne Bella bescheid zu sagen, gefiel mir die Idee, ihr auch einen Brief zu schreiben.
Ich schrieb ihr von meinem plötzlichen Beschluss nach Alaska zu gehen, mit der Begründung Leandro bei familiären Problemen helfen zu wollen.
Ich dankte ihr ausführlich für ihre Gastfreundschaft, und das Leckere Essen.
Ich verheimlichte allerdings unsere Zugreise und unsere Route, würde sie auf die Idee kommen (und das würde sie ganz bestimmt!!! ) die Polizei zu alarmieren und uns zu suchen.
Als letztes unterschrieb ich und setzte ein: „Mach dir keine Sorgen um uns!“, darunter.
Den fertigen Brief legte ich auf den Schreibtisch; sie würde ihn finden, wenn sie uns am nächsten Tag suchen würde.

Als ich den Essenssaal erreichte, griff eine Hand nach mir und zog mich in die Ecke.
Aber es war nur Leandro, der mit mir reden wollte.
„Du wirfst deine Handtasche aus dem Fenster, okay?“, fing er an.
Nein, das war definitiv nicht okay! Als er meinen verwirrten Blick sah, seufzte er auf.
„Willst du, dass alle sehen, dass wir auswandern?“, flüsterte er scharf.
Nein, warum sollte ich das wollen? Verärgert entwand ich mein Handgelenk seinen Fingern, aber er griff erneut danach.
„Hast du verstanden?“, zischte er und schaute mir tief in die Augen.
Ich schubste ihn zurück und fauchte: „Ja, ich hab verstanden! Ich bin keine sechs mehr!“ Manchmal widerte mich seine arrogante besserwischerische Art regelrecht an.
Ich stapfte zum Tisch und verteilte schweigend Teller und Löffel. Arroganter Mistsack! Mit dem wollte ich auswandern?
Die Suppe schmeckte wässrig, als ich sie probierte. Hätte es nicht ausgerechnet heute mal etwas Deftiges geben können?
-Nein, natürlich nicht. Als würde man meine Wünsche jemals erhören!


Leandro

Der Wärter gab mir die Hundeleine und streckte die Hand aus. Ich drückte ihm 100 Mäuse in die Hand. „Mehr hast du nicht?“, nuschelte er. Er schien mir ziemlich angetrunken.
Ich zuckte mit den Achseln. „Ich bin auch nur jung und arbeitslos.“
Der Mann stieß etwas aus, das sich stark nach Fluch anhörte und spuckte braunen Tabaksaft auf den Boden.
Angewidert rückte ich einen Schritt beiseite.
„Dann wünsch ich dir mal was Gutes für die Reise.“, keckerte er.
Mist, ich hatte ihm von der Reise erzählt? Wie unvernünftig; wenn er morgen früh wieder bei Sinnen wäre, würde er sich an meine nächtliche Flucht erinnern.
Und mich verpetzten.
Kurzerhand nahm ich die Kehrschaufel aus der Ecke.
„Was machst n da?“, hörte ich ihn noch grummeln, dann erstickten seine Worte unter der Schaufel, die ich ihm über den Kopf schlug.
Bewusstlos sackte er zusammen. Ich packte ihn an den Armen und zerrte ihn in den hinteren Teil des Tierheims. Vor dem Morgengrauen würde er sich von dem Schlag und dem Rausch nicht erholt haben.
Zufrieden mit meiner Arbeit, stellte ich die Kehrschaufel wieder in ihre Ecke zurück und machte mich mit Chuppine auf den Weh zum TPA.
Nannis Tasche lag bereits im Gras, als ich am Jugendhaus ankam.
Unauffällig und in weitem Bogen führte ich Chuppie hinter das Haus und band sie an einem Baum fest. „Bin gleich zurück, Kleine.“, sagte ich.
Ich brauchte an Nannis Tür nicht klopfen, sie stand sperrangelweit offen. „Nanni?“, rief ich unsicher.
„ Bing ier.!“, tönte aus dem Bad, dann ein kurzes Gurgeln und der Wasserhahn wurde abgedreht. Sie guckte kurz aus dem Bad.
„Du putzt dir die Zähne?“
Sie spuckte aus. „Mh, ist so eine Art Ritual vor Reisen.“
„Aha.“ Ich schaute mich im Zimmer um. Von ihrer Abreise war kaum etwas zu sehen.
Das Zimmer war unordentlich wie immer. Einige Pullover auf dem Bett, ein Handtuch auf dem Stuhl. Drei Schulbücher auf dem Regal, etwaiger Krimskrams auf dem Boden.
„Können wir?“, fragte ich, nachdem sie kritisch einen Blick in den Spiegel geworfen hatte.
„Auf der Stelle.“
Sie zog ihre Jacke über, warf einen letzten Blick in das Zimmer, knipste das Licht aus und schloss die Tür.
Hand in Hand liefen wir durchs Treppenhaus dem Ausgang entgegen. Die Eingangshalle war in warmes Licht getaucht und mit einem schmerzhaften Stich spürte ich den Verlust dieses zweiten Zuhauses. Als wir die Tür passierten, blickte ich nicht zurück.
Bis bald, dachte ich und schlenderte mit Nanni der rufenden Freiheit Alaskas entgegen.

Hotdog am nächtlichen Bahnhof


Nanni

Leandro hatte Chuppine hinter dem Haus an einem Baum festgebunden.
Nun winselte der Hund freudig, als sein Herrchen wieder auftauchte.
Auch ich hielt der blinden Husky-Dame die Hand hin. Ich fühlte wie die warme Hunde schnauze kurz meine Hand streifte.
Der Bahnhof lag eine halbe Stunde Busfahrt entfernt, aber die Bushalte selber fanden wir ganz in der Nähe.
Mittlerweile war die Nacht angebrochen. Es war bewölkt, aber der Vollmond warf leichtes Licht auf die Umgebung. Auch die Straßenlaternen waren längst angegangen; schon umschwirrt von tausenden kleiner Nachtinsekten, die das Licht suchten.
Es kam mir immer noch wie ein Traum vor, wie ich hier an der Bushaltestelle mit dem Jungen meines Herzens saß und auf den Bus wartete.
Die Stille breitete sich um uns herum aus, aber es war kein unangenehmes Gefühl.
Es hatte etwas angenehm Beruhigendes an sich. Als Leandro meine Hand drückte, sah ich auf.
Der Bus rollte die Straße hinunter.
Mit brummendem Motor hielt das Fahrzeug vor der Bushaltestelle und öffnete die Türen.
Leandro kaufte Tickets für uns Beide und checkte ein. Der Bus war fast vollständig leer.
An der Tür saß zusammengekauert ein älterer Mann, hinten im Bus eine stark geschminkte Frau. Ich setzte mich neben Leandro, der den Fensterblick ergattert hatte.
Aber viel konnte auch er nicht draußen sehen. Das kalte Licht der Neonlampen im Bus spiegelte sich in den Fenstern wieder.
„Bist du sicher, dass so spät abends noch Züge fahren.“, fragte ich leise.
Er nickte. „Es fahren immer Züge. Manchmal hat man das Gefühl, der Bahnhof ist wie ein Volk Ameisen. Er schläft nie. Auch jetzt nicht.“
Ich überdachte seine philosophische Erklärung und lehnte mich an ihn.
Ich wurde langsam müde, obwohl ich wusste, dass die Nacht noch lang werden würde. „Passt du auf?“, murmelte ich.
„Ich pass auf dich auf.“
Und ich nickte angenehme Minuten weg, bis die Lautsprecher im Bus die Endstation ankündigten. Leandro rüttelte an meiner Schulter und hievte mich mehr oder weniger aus dem Bus hinaus.
Als die kühle Nachtluft mich umfing, wurden meine Sinne wieder klarer.
Ich schaute mich fasziniert um.
Helle Lichter aus kleinen Häusern und Imbissbuden malten Schatten auf den Bahnsteig, eine Gruppe Jugendlicher lachte und kicherte in einiger Entfernung.
Röhrend kamen und fuhren Züge ein und die Luft schmeckte nach Benzin und Rauch.
„Wow.“, wisperte ich.
Leandro warf mir ein schiefes Lächeln zu. „Es ist einzigartig, nicht?“
Ich nickte überwältigt. „Es ist wunderschön.“
Er führte uns zu einer kleinen Auskunft, um nach Zügen zu fragen, die uns Richtung Kanada bringen würden.
Tatsächlich würde noch heute Nacht ein Zug von Boston nach Washington fahren.
„Wie lange fährt er denn?“, erkundigte sich Leandro.
Die Frau klickte einige Tasten an ihrem Computer, bevor sie antwortete. „Er fährt um drei Uhr ab und braucht ungefähr eine Tagesreise. Ihr werdet in Washington morgen Nachmittag ankommen.“
„Wie viel kosten die Tickets?“
Erneut ein paar Tastenklicke. „In der Loge oder in der Suite?“
Leandro warf mir einen unsicheren Blick zu.
„Das Billigere.“, warf ich behelfsmäßig ein.
„23 Euro pro Person.“, sagte sie. „Kein Rauchen, keine Drogen.“
Als hätten wir vorgehabt zu rauchen! Unter mir fiepte es leise. Ich war Chuppine aus Versehen auf die Pfote getreten.
„Müssen Hunde auch zahlen?“, hakte ich nach.
„Personenpreis.“
„Bitte?“ Leandro schaute entsetzt. „Sie wollen nicht ehrlich dreiundzwanzig Euro für meinen Hund haben?“ Auch ich war entsetzt über den hohen Preis.
„Es tut mir leid.“, warf die Frau an der Auskunft ein. „Hunde zählen als Personen.“
Leandro warf ihr einen wütenden Blick zu. „Mein Hund ist blind. Gibt’s für den zufällig einen Behindertenrabatt?“
„Nur für Personen. Nicht für Hunde.“
Ich räusperte mich. „Sie haben uns gerade eine Fahrkarte für den Hund als Person verkauft.“
Genervt rief die Frau am Schalter etwas nach hinten in den Raum. Leandro trat unruhig von einem Fuß auf den Anderen.
Von hinten kam eine dunkelhäutige Frau in lila Sweatshirt. „Wenn der Hund als Person angemeldet ist, bekommt er Rabatt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „So steht’s jedenfalls im Regelwerk.
„Okay.“, wendete die Frau sich wieder an uns. „Der Hund bekommt den halben Preis Nachlass.“ Dann tippte sie die Änderung in den Computer ein und druckte drei identische Tickets aus. „Gute Reise.“, wünschte sie.
„Danke.“, murmelte Leandro.
„Danke.“, murmelte ich ebenfalls.

Mit den Tickets in der Hand liefen wir den Bahnsteig entlang. Es war bitterkalt und ich war froh, meinen dicken Pullover und die Jacke angezogen zu haben.
Noch weitere dreieinhalb Stunden würden wir auf den Zug warten müssen.
Weil Leandro und ich beide hungrig waren gönnten wir uns einen Hotdog in einem der Imbisse am Bahnhof.
Der Laden roch unangenehm nach Frittiertem, aber es war warm und wir konnten gemütlich sitzen. „Und wie fühlst du dich so nach deinem ersten Hotdog an einem echten Bahnhof?“, fragte er mich.
„Es war mein erster Hotdog überhaupt und ich fühle mich sehr abenteuerlustig.“, entgegnete ich.
Sein Blick ließ darauf schließen, dass er mir nicht so recht glaubte.
„Okay, und ich bin schrecklich müde.“, lenkte ich ein.
„Ich auch.“, erwiderte er.
„Du darfst nicht einschlafen.“
„Du aber auch nicht.“
Und so saßen wir schweigend und in Gedanken versunken am Tisch, bis die Uhr endlich zwölf Uhr schlug. Nur noch drei Stunden, dachte ich mir. Das hällst du noch aus.
Und strafte mich eine Sekunde später, als ich merkte, wie mir die Augen erneut zufielen.
„Erzähl mir etwas über deine Kindheit.“, forderte ich Leandro auf.
Er zögerte, bevor er begann: „Es ist lange her, aber ich erinnere mich, als wär es erst gestern gewesen...“ ... „Es war zu jener Zeit, an der mein Dad noch lebte. Es war kalt, wirklich bitterkalt. Die Huskys haben gezittert wie Espenlaub und die sind Kälte und Schnee sonst gewohnt.
Ich war mit meinem Vater zum Fischen hinaus gefahren, der Schnee hatte uns einige Tage in unseren Häusern eingesperrt und unsere Lebensmittelvorräte wurden knapp.“ Er holte tief Luft und fuhr fort: „Wir mussten weit fahren. Länger als drei Stunden waren wir unterwegs, denn die Kälte hatte selbst die kühnsten Fische in den wärmeren Süden gezwungen.
Dann endlich stießen wir auf Frischeis. Mein Vater prüfte das Eis mit einem Stock und es war dick genug, um darauf zu laufen. Mit Meißeln und Angeln liefen wir einige Meter aufs Eis und begannen Löcher in den steinharten Boden zu schlagen, um das Wasser freizulegen und ein Angelloch zu schaffen. Das Problem merkten wir erst später...“
„Und? Was war das Problem?“, fragte ich gebannt.
Mit ruhiger Stimme fuhr er fort. „Wir klopften und klopften, aber wir erreichten das Wasser nicht. Es war alles festgefroren. Metertief ins das Meer hatte sich die Kälte gefressen.
Aber mein Vater wollte nicht aufgeben. Das Essen war lebensnotwendig.
Mit einer unglaublichen Schnelligkeit zogen plötzlich Wolken herbei und kündigten einen Schneesturm an.
Da endlich- stieß mein Vater auf Fische. Sie waren alle im Eis festgefroren. Gefangene ihres eigenen Elements. Und er begann sie herauszuschlagen. Einen nach dem Anderen.
Der Wind wurde stärker und ich unruhig. Ich war damals neun und hatte schreckliche Angst. Ich zog ihn am Ärmel und weinte, aber er hörte nicht. Er war wie besessen.
Dann fielen die ersten Flocken und heftige Böhen rissen an unseren Mänteln.
Nun endlich schien mein Dad die Gefahr zu erkennen. Doch es war zu spät- wir konnten nicht mehr zurück, der Sturm war zu stark.“ Seine Augen blickten ins Leere, wie aus großer Ferne.
„Ich half meinem Vater die zu Eisklötzen gefrorenen Fische zu stapeln und wir bauten ein Igloo. Zusammen verkrochen wir uns darinnen, als der Sturm richtig anfing. Er heulte und riss an unserem Häuschen, aber es hielt stand.
Mein Vater zwang mich zum Wachbleiben. Das Einschlafen und anschließende Einfrieren konnte uns den Tod bedeuten. Ganze zwei Tage verharrten wir im Igloo, bis der Sturm sich legte. Dann flüchteten wir- verhungert, verfroren und kaum mehr am Leben.
Als meine Mutter uns sah fing sie an zu weinen und umarmte uns und betete. Sie hatte nicht daran geglaubt, dass wir zurückkehren würden.“
Er endete und sein Blick kehrte langsam wieder in die Gegenheit zurück.
„Das war eine sehr schöne Geschichte.“, flüsterte ich bewegt.
„Nein.“, antwortete er. „Die Geschichte ist grausam. Ich habe bis heute Angst vor Schneestürmen.“
„Ich habe Angst vor Spinnen.“
Er lachte. „Habt ihr Mädchen das nicht alle?“
Ich rümpfte die Nase. „Viele.“
„Alle.“
„Fast alle.“

Als wir die Imbissbude verließen war zwei Uhr durch; in einer Stunde würde der Zug abfahren.
Der Bahnsteig hatte sich erheblich geleert. Nur hier und dort klang noch Lachen oder Wortgefechte zu mir rüber.
Ich hatte mich mit Leandro auf unsere Taschen gesetzt. Nicht sehr bequem, aber die originelle Alternative zu den Kaugummi und Zigarettenasche beschmierten Sitzen in den Wartehäuschen.
„Bekomme ich die Karten mal?“ Er gab sie mir.
Wir mussten in Wagon 17 einsteigen, Kabine 6. Ich hoffte nur, wir würden die Kabine für uns haben, aber meinem Glück nach zu urteilen würde das ohnehin nicht der Fall sein.
In diesem Moment hörte ich jemanden Rufen: „Da kommt er. Der Zug kommt an.“
Ich blickte erstaunt auf, als das schwarze Ungetüm mit kreischenden Rädern in den Bahnhof einfuhr. Einen Moment blendeten mich die hellen Lichter, dann war es wieder dunkel.
Von allen Seiten begannen die Menschen auf den Zug zuzuströmen.
Aus den Lautsprechern an den Haltestellen ertönte mit scharfer Stimme: „Bitte drängen sie nicht ... Halten sie Abstand von der Bahnkante.“
Der Bahnsteig hatte sich in ein helles Gewirr verwandelt.
Ich staunte. „So viele Menschen passen in einen Zug?“
„Kaum vorstellbar, nicht?“, erwiderte Leandro und dirigierte mich sicher durch die Menschenmenge.
Ich hielt meine Tasche fest umklammert, während um mich stürmisch Familien und Einwanderer den Weg ins Innere des Zugs suchen.
Der Qualm des Zuges ließ mich husten.
„Komm schon.“, zerrte mich Leandro durch die Menge auf die Tür zu und hielt dabei meine Handfest umschlossen. Ich erhielt einen schmerzhaften Stoß gegen die Schulter, der mir fast meine Tasche aus der Hand prellte. Auch er hatte schwer zu tragen, mit unseren beider Reisetaschen auf dem Rücken. Endlich erreichten wir die Zugtür.
„Los, hoch in den Wagen!“, rief mir Leandro zu, dessen Kopf in diesem Moment im Zug verschwand. Ich folgte ihm durch das Gewirr und stolperte mehrmals an der Einstieghilfe, bis ich im Zug stand.
Wir hatten Glück, Wagon sechs war nicht weit entfernt. Als Leandro die Tür aufstieß, fanden wir den Wagon leer vor.
Etwas durchschwitzt warfen wir unsere Taschen in den Wagon und ließen uns auf die Sitze sinken.

Stopp in Nashville


Leandro

Dass Nanni schon binnen zehn Minuten eingeschlafen war, wunderte ihn kaum.
Der Tag war anstrengend gewesen und hatte Beide geschafft.
Auch er hätte gerne geschlafen, aber er zwang sich zum Wachbleiben; der Ticketkontrolleur musste innerhalb der nächsten halben Stunde kommen.
Mit der Zeit wurde es auch im Zug leiser. Sie standen noch im Bahnhof, die letzten Passagiere suchten sich ihre Wagons, der Tank wurde aufgefüllt. Er vermutete eine Familie im Nebenwagon, denn durch die verspiegelten Plexiglasscheiben hörte er ab und an die Stimme eines kleinen Mädchens.
Es klopfte an der Tür, dann wurde sie geöffnet.
„Tickets?“, verlangte ein junger Chauffeur in blauer Uniform. Ich reichte sie ihm und er riss sie durch.
„Einen angenehmen Aufenthalt wünsche ich ihnen.“, sagte er und sein Blick streifte die schlafende Nanni deren Kopf mir auf die Schulter gerutscht war.
„Dankeschön.“, erwiderte ich.
Der Chauffeur zog sich zurück und steckte den Kopf noch einmal in den Wagon.
Er nickte der schlafenden Nanni zu. „Wecken sie die Kleine und sagen sie ihr, dass sie sich anschnallen sollte.“ Dann schob er die Wagontür endgültig zu und verschwand.
Ich brauchte Nanni nicht wecken, als gerade der Warnton des Zuges durch unseren Wagon schallte. Ein Lautsprecher machte erneut auf das dringende Anschnallen aufmerksam.
Nanni rieb sich ein wenig verschlafen die Augen. „Wir fahren noch gar nicht?“
Ich schüttelte den Kopf. „Gleich geht’s los.“
Auch ich griff nach meinem Anschnaller und ließ ihn einrasten.
Mit einem lauten Ruckeln uns Tuckern setzte sich der Zug in Bewegung.
„Wir fahren!“, rief Nanni begeistert aus und presste ihr Gesicht gegen die Scheibe.
Tatsächlich fuhren wir aus dem Bahnhof aus und beschleunigten, bis wir die Landschaft draußen nicht mehr erkennen konnten. Tschüss Boston!
Dann versuchte auch ich zu schlafen. Den Kopf an das Fenster gelehnt und Nannis Kopf auf meiner linken Schulter nickte ich langsam im stetigen Ruckeln des Zuges ein.

Ich musste einige Stunden geschlafen haben, denn als ich aufwachte, hing gerade die Sonne auf. Nanni saß wach am Fenster.
„Ich wünschte, ich hätte einen Fotoapparat dabei.“, bemerkte sie als ich aufwachte.
Die Landschaft war wirklich wunderschön. Ich hatte selten einen Sonnenaufgang gesehen, meistens nur die Untergänge. Unter mir kuschelte sich Chuppie an die Sitze.
„Willst du einen Kaffee?“, fragte ich sie.
Ein Nicken ihrerseits. Ihr blondes Haar fiel ihr leicht über die Schulter, als sie sich wieder gegen das Fenster lehnte. „Bin gleich wieder da.“, sagte ich, schob die Wagontür auf und verschwand nach draußen.
Das Neonlicht der Zuglampen warf unangenehme Schatten auf den Boden und die Luft roch nach Schweiß und Abgasen.
Geräusche zu hören waren kaum noch. Selten ein Husten – der Großteil der Zuginsassen schien zu dieser frühen Morgenstunde noch zu schlafen.
Während er langsam an den anderen Abteilen vorbeiging, passte er auf nicht hinzufallen, denn es ruckelte ab und zu so heftig, dass es im Zug von allen Seiten ordentlich schepperte.
Der Kiosk war relativ klein und nicht sehr geräumig.
An der linken Wand stand ein Regal mit vielerlei Zeitschriften, ein kleiner Souvenierständer stand direkt neben der Tür, an der rechten Seite stand eine kleine Theke und ein Coffee-to-go-Automat.
Hinter der Theke saß, in einen Sessel versunken, eine alte Frau mit weißem Haar.
Als er den Laden betrat schreckte sie auf und begann hektisch über die Theke zu wischen, als hoffte sie, er würde denken, der Kiosk sei makellos sauber und gepflegt.
Sie selber trug ihr Haar in Strähnen über ihren Rücken fallend, bekleidet mit beigen Rock und violetter Blümchenhose.
„Was kann ich für dich tun?“, stammelte sie und zupfe ihre Bluse zurrecht.
Ich ließ meinen Blick auf den Kaffeeautomaten schweifen, dann wieder zurück zu ihr.
„Ich wollte mir eigentlich gerade einen Kaffee zapfen.“, antwortete ich kühl.
Mit ihrem Lappen wischte sie ebenfalls hektisch über den Automaten. „Mach das, Junge.“, sagte sie und verzog den Mund. „Aber beeil dich, ich bin müde und brauche meinen Schlaf.“
Ich setzte zu einer Erwiderung an und hatte den Mund schon geöffnet, als die Frau mir barsch einen Pappbecher in die Hand drückte. „Wird’s bald?“, keifte sie und stemmte die Hände in die Hüften.
„Ja, ja!“, erwiderte ich ärgerlich und stellte meinen Becher unter den Kaffeetropf.
Heftiger als beabsichtigt drückte ich die Cappuccinotaste und wartete, bis die Maschine brummend und surrend endlich den Kaffee in den Becher presste.
Ich inspirierte das Schild, das neben dem Automaten stand: Ein Euro siebzig für den Becher!
Ein wenig unwillig zog ich mein Portemonnaie heraus und warf der Verkäuferin das Geld auf die Theke.
Dann griff ich sich das Getränk und verließ den Laden so schnell wie möglich.
Als ich wieder in Nannis und seinen Wagon schlüpfte, war der Kaffee schon wieder fast kalt.
Aus meiner Reisetasche zog er eine Dose Trockenfutter für Chuppine und stellte dem Hund das Frühstück auf den Boden.
Mir selbst gönnte ich eins der geschmierten Brötchen, die wir mitgenommen hatten. Nicht besonders nobel, aber satt wurde ich allemal.
Gegen sieben Uhr begann auch langsam der Zug wieder zum Leben zu erwachen- Aus einzelnen Wagons erklangen Stimmen und im Wagon neben ihnen lachte ein Kind.
Die Landschaft hatte sich von städtischer Atmosphäre in endlos weite Hügellandschaft verwandelt und offenbarte nichts als Hügel, einige Bäume und manchmal von Ferne eins der altmodischen Bauernhäuser.
Der Lautsprecher über ihrer Tür verkündete hin und wieder ihren Aufenthaltsort und hin und wieder Warnungen.
Der Morgen zog wie Watte an mir vorbei und schien endlos.
Nanni neben mir hatte sich Chuppie geschnappt und kraulte der Hündin das Fell.
Oft hatte er seinen Hund damals mit in die Berge genommen. Sie hatten zusammen gejagt, wie ein eingespieltes Team.
Während Chuppie die Beute erschnüffelte und aufscheuchte, war es an ihm, allerlei Vögel und Kleintiere zu erschießen. Eine Aufgabe, die er nie gern getan hatte, allerdings überlebensnotwenig war.
Abends hatte ich mit ihr auf den Felsen gesessen. - Mit Blick auf die Weiten meines Heimatdorfes und sie gestreichelt und ihr Dinge erzählt, die ich sonst niemandem anvertraut hätte.
Chuppine war eine treue Zuhörerin. Keine Kommentare oder Missachtungen- sie war Balsam für meine enttäuschte Seele.
Sie verstand mich besser, als es ein Mensch je hätte tun können. Meine Gefühle waren für sie ein offenes Buch, in dem sie freimütig lesen konnte, ohne mich zu verletzen.
Natürlich war ihr Verhalten oder Charakter niemals mit dem eines Menschen zu vergleichen, aber wir lernten einander zu verstehen und zu vertrauen.
Diese schönen Tage hatten aufgehört, als sie sich eines Nachts an einem Rudel Wölfe vergriffen hatte, die überall in Alaska ihre Territorien verteidigten.
Meine Husky-Dame hatte ihr Augenlicht beim Kampf verloren.
Wie sie nun auf Nannis Schoß lag, die Augen geschlossen, machte mich glücklich.
Ich streichelte sie ebenfalls.
„Als ich jünger war hatte ich auch einen Hund.“ Sie verstummt und rieb sich das Gesicht. „Es ist schon lange her, aber ich erinnere mich gerne an die Zeit, die wir zusammen hatten.“
Ich nickte zustimmend. „Er hört dir zu wenn du Sorgen hast.“
„Ja, das tat er wirklich. Zumindest hat es sich so angefühlt...“, schüttelte sie den Kopf.
„Woran ist er gestorben?“, hakte ich vorsichtig nach. Ich wollte nicht zu neugierig sein.
Düster sagte sie: „Er ist an Darmkrebs gestorben. Wir waren im Urlaub... und da ging es im plötzlich so schlecht.“
„Ich möchte nicht, dass Chuppie stirbt.“
„Ich auch nicht.“

Als der Mittag anbrach machte unser Zug einen Halt.
Der Lautsprecher verkündete eine zwanzig- minütige Mittagspause.
Aus dem Zug strömten die Massen: Im Inneren war es stickig und schlecht beleuchtet, die Menschen sehnten sich nach frischer Luft und dem Wunsch, ihrer Körperpflege nachzugehen.
Zehn Meter entfernt sah ich eine Gruppe junger Mädchen auf die Toilettenhäuschen zu eilen.
Auch Nanni, Ich und Chuppie waren ausgestiegen.
Nanni bestand auf ein wenig Frischluft und auch Chuppie hatte die letzte Stunde geklungen, als müsse sie mal dringend.
Zwar besaß unser schwarzes Gefährt eine kleine Abteilung mit sogenannten „Boxings“, allerdings waren die Tierwagons dreckig, stanken und sahen aus, als hätte jemand sich nicht die Mühe gemacht, die Wagons über Monate von Reisen sauber zu machen.
Ich ließ meine Hündin nicht von der Leine; hier draußen am Bahnsteig schien es mir zu riskant, sie frei laufen zu lassen, vor allen Dingen, weil sie blind war.
Während Chuppie nun also in einigen Metern Abstand zwischen den kleinwüchsigen Bäumen herumrannte, teilte ich mir mit Nanni das letzte Brötchen.
Gemeinsam vertrieben wir uns die Zeit mit Wortspielen und joggten einige Meter auf und ab.
Die Bewegung tat gut und lockerte unsere verspannten Muskeln.
„Wenn wir erst Mal in den Wäldern Alaskas sind, dann bringe ich dir Bogenschießen bei.“. keuchte ich.
„Bogenschießen?“, lachte sie. „Ihr jagt mit Pfeil und Bogen?“
Ich schaute die erstaunte Nanni an und musste Grinsen. „Nun ja, wir könnten auch Pistolen benutzen, aber... wir sind sehr traditionsbewusst. Eigentlich verbietet uns unser Gott den Umgang mit Waffen.“
„Euer Gott? Ich würde sagen, ihr seit einfach zu arm, euch die Munition zu leisten!“
„Wie kommst du darauf?“
Als sie kichernd auf meine Schuhe zeigte, musste ich unwillkürlich den Blick senken und wurde rot. „ Nicht schon wieder das Thema mit meinen Alaska- Mokkasins.“
„Dann nicht.“ Sie zog mich am Ärmel zum Waschhäuschen hinüber, dass sich mittlerweile halbwegs geleert hatte.
Mit einem Pfiff rief ich Chuppine zu mir, die immer noch die Gegend erkundete.
Am Waschhaus warfen Nanni und Ich uns Beide eine ordentliche Portion Wasser ins Gesicht.
„Puh, das tut gut!“, rief Nanni erleichtert und auch ich warf mir unterstützend noch eine Ladung Wasser ins Gesicht.
Als Chuppie winselte, hob ich sie ins Waschbecken und drehte den Wasserhahn erneut auf, doch mein Hund schien nur trinken zu wollen. Dann ertönte ein Piepton: Unsere Waschzeit war abgelaufen.
Wir kehrten zum Zug zurück, passend zum Abfahrt aus Nashville.

Ein Baby ohne Hoffnung


Nanni

Es waren zwei Stunden mit purer Langeweile vergangen.
Dass er draußen angefangen hatte zu regnen, hob meine Laune auch nicht unbedingt.
Die dicken Tropfen beschrieben Muster auf den Scheiben, bevor sie sich vereinten und in einem stetigen Fluss an der Seite der Scheibe hinabliefen.
Plötzlich ertönte ein Klopfen an der Tür, das sowohl mich als auch Leandro aus den Gedanken aufschrecken ließ.
„Ja?“, fragte ich unsicher, als der Schatten vor unserer Tür stehen blieb.
Die Tür öffnete sich einen Spalt, dann guckte ein Mann mit besorgtem Gesichtsaudruck hinein. „Es tut mir leid.“, begann er und stoppte um Luft zu holen.
„Meine Frau liegt vorzeitig in den Wehen. Ich wollte nach Schmerzmittel fragen. Sie haben keinen Arzt an Bord und es ist dringend.“
Ich warf Leandro einen vorsichtigen Blick zu. Eigentlich hatten wir uns die Medikamente sorgfältig für die Reise ausgewählt. Er nickte ein wenig betreten. „Wenn es dringend ist.“
Die Erleichterung war dem Vater sichtlich anzusehen. „Vielen Dank.“, sagte er und drückte mir kurzerhand den Arm. „Ich bin Tonder. Unser Wagon ist Nummer acht im Abteil, also direkt nebenan!“
Ich nickte erfreut. „Wir bringen die Medikamente gleich vorbei. Wir beeilen uns.“
Der Mann verschwand mit dem Klicken der Tür und hinterließ Stille.
Leandro räusperte sich. „Nun ja, dann suche ich mal nach unserem Schmerzmittel.“
Etwas klang in seiner Stimmer, das ich bisher nie gehört hatte. Etwas Unbekanntes. War es Unsicherheit? Seine nächsten Worte verklangen, als hätte er mit sich selbst gesprochen. „Hoffentlich kommt das Kind gesund zur Welt.“
Ich tat, als hätte ich seine Worte nicht gehört, aber innerlich war ich verdammt glücklich, dass er sich fremden Menschen so hilfsbereit zeigte.
„Hier.“, sagte er und reichte mir eine Packung Aspirin, ein beruhigendes Tonikum und Fiebermittel.
Er nickte Richtung Tür. „Ich glaube, du gehst dann mal lieber.“, und lächelte gutmütig.
„Willst du nicht mitkommen?“
Zögerliches Kopfschütteln. „Ich glaube, für sowas bin ich nicht der Richtige.“
Ich sah ihn verdrossen an. „Ganz sicher nicht?“
„Nein.“, antwortete er. „Ganz sicher nicht.“
Ich akzeptierte seine Antwort und nahm die Medikamente an, die er mir entgegenstreckte.
Dann verließ ich unseren Wagon und mit ein wenig Herzklopfen schob ich die Tür zu Wagon acht auf.
Mit Erleichterung erkannte ich Tonder, der neben seiner Frau saß.
Er schien eine Art Lager aus Koffern und Reisedecken auf dem Fußboden ausgebreitet zu haben, um seiner Frau eine gemütlichere Liegeposition zu ermöglichen.
Die Frau, die auf dem Deckenlager lag, war bereits schweißgebadet und hielt sich krampfhaft den Bauch, über den sie eine braune Decke ausgebreitet hatte.
Als Tonder mich entdeckte, bedachte mich mit einem besorgten Blick und nahm die Medikamente, die ich ihm gab. „Sie sieht nicht sehr gut aus, was?“, fragte er mich.
Der am Boden liegenden Frau klebten die dunkelblonden Haare im Gesicht. Die Augen fest zugekniffen hielt sie Tonders Hand fest umklammert. „Kannst du mir die Flasche Wasser und den Becher geben?“, bat Tonder mich und deutete auf die Sitzbank.
Ich griff nach der Flasche, füllte einen halben Becher ab und reichte ihn ihm.
Ich hörte ihn „Die Schmerzen sind gleich vorbei.“ murmeln, bevor er seiner Frau vorsichtig zwei Schmerztabletten zwischen die Lippen schob und ihren Kopf stützte, damit sie trinken konnte.
Das Wasser, das in einem Rinnsal an der Seite ihrer Lippen heraus rann bemerkte er gar nicht.
Unvermittelt fragte er mich: „Wie wendet man das Tonikum an?“
„Ich glaube, man inhaliert es.“, antwortete ich vorsichtig.
„Wärst du so lieb, heißes Wasser zu holen?“
„Ja, mache ich.“
„Gut. Beeile dich bitte.“
Ich eilte aus der Tür und wäre fast mit einer alten Dame zusammengestoßen.
„Pass doch auf!“, fauchte sie, als ich sie hektisch fast umrannte. Ich stieß ein gehetztes „Tschuldigung“ aus und rannte den Gang entlang.
Leandro hatte mir erzählt, der Kiosk würde am Ende des elften Wagons liegen.
Ich folgte den Nummernschildern bis zu Wagon elf, wo ich wirklich den Kiosk vorfand.
Er sah kaum brauchbar und ziemlich heruntergekommen aus, aber für weitere Betrachtungen hatte ich keine Zeit. „Können sie mir heißes Wasser geben?“, sprudelte ich hervor, als ich vor die Theke platzte.
Hinter dem Tresen stand eine alte Frau, weiße Haare mit geblümter Bluse. Von der hatte Leandro mir auch erzählt.
„Jetzt hol erst mal ganz tief Luft, Kleine und dann erzähl mir warum du heißes Wasser brauchst.“, erwiderte die Alte in Selensruhe.
Am liebsten wäre ich explodiert. Aber ich biss die Zähne zusammen und betonte jedes einzelne Wort: „Meine Freundin liegt in den Wehen und ich brauche heißes Wasser.“
Okay, das mit der Freundin war gelogen, aber sicherlich hilfreich.
Wortlos wandte sich die Frau um und setzte den Topf auf die Gasplatte. „Es könnte einen Moment dauern, bis das Wasser heiß ist.“
Ich nickte und lehnte mich an die Theke.
Ich dampfte innerlich förmlich und meine Ponyhaare klebten ein wenig wirr auf meiner Stirn.
Entschlossen strich ich mir das Gefusel aus der Stirn.
„Sind die Wehen schon stark?“
Unvermittelt fuhr ich auf und starrte perplex die Blümchen-Lady an, die den Gasregler hochregelte. „ Ähm, wie bitte?“
Tiefe Furchen gruben sich in ihre Stirn. „Ob die Wehen stark sind?“
„Nun ja.“, stotterte ich. „Ich glaube schon.“
Nickend wandte sich die Lady wieder ihrem Topf zu, indem mittlerweile ordentliches Sprudeln zu hören war. Dann stellte sie den Gasregler ab und nahm vorsichtig den Topf vom Herd. „Ich werde sie mir anschauen.“, sagte sie unverdrossen. Mein verwirrter Blick ließ sie aufstöhnen. „Die Frau. Ich habe schon oft Frauen in den Wehen erlebt und wenn Hilfe zu spät kommt, endet es tödlich.“ Ihr messerscharfer Blick bohrte sich in meinen Augen.
Ich willigte ein. – Wahrscheinlich war Tonders Frau dankbar über jede Hilfe, die sie bekommen konnte.
„Ich heiße übrigens Dorys.“
„Ich bin Nanni.“
In stillem Einverständnis führte ich sie zu Tonders Wagon. Vielleicht war sie für eine alte grummelige Lady ja doch ganz in Ordnung.

Als ich die Tür zu Tonders Wagon öffnete, flog mir als erstes der extreme Geruch nach Schweiß entgegen. Ein wenig angewidert ließ ich die Tür offen stehen, damit ein wenig
Frischluft in den Wagon dringen konnte.
Tonders Frau sah schlimmer aus, als vor einer halben Stunde.
„Da bist du ja endlich.“, begrüßte er mich unegduldig.
Dann bemerkte er auch Dorys, die in der Tür stand.
„Tonder, das ist Dorys. Sie hat Erfahrung mit Geburten:“, klärte ich ihn auf.
„Dem Himmel sei Dank.“, stammelte er erleichtert auf und führte Dorys zu der verschwitzten jungen Frau.
Ihr Anblick erfüllte mich mit Unbehagen. Ich setzte mich vorsichtig in den Eingang des Wagons, als Dorys systematisch begann, Tonders Frau abzutasten und sich nach deren Befinden zu erkundigen.
Allerdings schien ihr Blick nichts Gutes zu sagen.
„Was ist mit ihr los?“, fragte Tonder gepresst.
Sie fuhr sich mit der Hand über die Bluse und schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, das Kind liegt in der falschen Lage. Also mit dem Kopf nach oben.“ Sie stoppte und holte tief Luft. „Es tut mir leid, ihnen sagen zu müssen, dass ihre Chancen gering sind.“
Tonders Blick ging ins Leere während er krampfhaft die Hand seiner Frau hielt. „ Halte durch Lucy. Sei stark.“
Doch seine Worte schienen ohne jegliche Hoffnung. Auch mir rann bei Dorys Worten ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Dorys würde sterben. Und das Baby mit ihr.

Lina


Dann schien Tonder aus seiner Starre zu erwachen. „Können wir nichts tun?“, startete er einen Versuch.
Lucy neben ihm stieß ein krampfhaftes Stöhnen aus. „Ist gut.“, murmelte er ihr beruhigend zu.
„Nun, es gäbe schon eine Möglichkeit.“, begann Dorys. „Aber sie ist riskant und sehr gefährlich.“
„Ich würde alles für sie tun. Alles.“, flehte Tonder inständig und griff Dorys beim Arm.
„Bitte. Bitte helfen sie ihr.“ Dann ließ er sie los.
Dunkle Furchen erschienen erneut auf ihren Wangen. „Sie wollen nicht warten?“
Tonder schüttelte bestimmt den Kopf. Dorys seufzte. „Ich brauche sauberes Wasser und ein Paar Gummiehandschuhe.“
Da Tonder immer noch in Starre zu sein schien, platzte ich heraus: „Liegen die Sachen im Kiosk?“
„Hinter der Theke, dritte Schublade von rechts. Nehm einen Topf aus dem Regal und füll ihn mit Wasser. Beeil dich.“ Dorys wank mich zur Tür hinaus, während Lucy ein verbissenes Schreien von sich gab.
Ich hatte Angst, als ich Richtung Kiosk rannte. Die Furcht in meinem Inneren drückte mir die Luft ab.
Im Kiosk angekommen, schnappte ich mir die Packung Handschuhe, füllte den nächstbesten Topf mit frischem Wasser und raste damit zurück.
Mein Weg hinterließ eine unverkennbar nasse Spur hinter mir.
Aufgewühlt lief ich in Tonders Wagon und drückte Dorys die Handschuhe in die Hand.
Die Schüssel stellte ich neben Lucys Schlafstätte.
Grimmig zog sich Dorys die Handschuhe über und straffte sich.
„Ich werde versuchen, das Kind am Kopf zu erwischen und es in die liegende Position zu bringen.“
„Wenn Sie es nicht schaffen?“, fragte ich leise nach.
„Dann wird Lucy diese Prozedur nicht überleben.“ Ich war dankbar für ihre Offenheit, aber ihre Bemerkung traf mich wie ein Faustschlag in den Magen.
Die schweißgebadete Lucy kämpfte verbissen gegen eine erneute Anfuhr von Wehen.
Mit eiserner Verbissenheit versuchte sie den Mund geschlossen zu halten und hielt die Augen zusammengekniffen.
Als Dorys neben der geschwächten Frau niederkniete, schob Tonder ihr vorsichtig die Decke vom Bauch.
Mit verlegendem Blick schaute ich Richtung Boden, doch Dorys rief mich zu ihr. „Schau her Kleine und hilf mir.“ Etwas unsicher kniete ich nun ebenfalls neben Lucy nieder.
„Siehst du den Muttermund?“, fragte Dorys mich.
Ich nickte.
„Er ist schon vollständig geöffnet. In normaler Lage müsste das Baby schon längst mit dem Kopf herausgekommen sein.“
„Aber weil es falsch liegt, versperren ihm die Beine den Weg nach draußen?!“, riet ich.
„Ja, genau so ist es.“
Mit behandschuhten Händen griff sie zwischen Lucys Beine und ertastete das Baby im Muttermund.
Ihr konzentrierter Blick war starr auf ihre Arme konzentriert. Ein falscher Griff oder zu fester Ruck konnten dem Baby ebenso wie der Mutter den augenblicklichen Tod bedeuten.
Langsam verstummten Lucys Schreie und die Qual ersetzte ein hilfloses Wimmern.
Sie sah grausam aus und ich wünschte, ich hätte etwas für sie tun können.
Mit einem Lappen strich Tonder seiner Frau sachte den Schweiß von der Stirn und murmelte ihr Worte ins Ohr. Doch Lucy schien von dem Allen kaum mehr etwas zu registrieren. Mit geschlossenen Augen und verzerrtem Gesicht lag sie um Atem ringend auf dem Bettenlager und schien am Ende ihrer Kräfte zu sein.
Dann zog Dorys ihre blutigen Hände zurück. „Ich schaffe es nicht.“, sagte sie ernst. „Es tut mir wirklich leid.“
Da begannen bei Tonder die Tränen zu fließen. „Nein!“, klagte er. „Das darf nicht sein!“
Er vergrub sein Gesicht in Lucys Haaren und schluchzte.
„Es tut mir wirklich leid.“, wiederholte Dorys leise. „Ich wünschte, ich hätte mehr für sie tun können.“
Tonders tränenüberströmtes Gesicht wandte sich in einem hilfesuchenden Blick an mich. „Kannst du es nicht versuchen?“, flüsterte er.
Als ich mir ein Paar neue Handschuhe überstreifte, fühlten sie sich falsch an meinen Händen an. „Ich schaffe das nicht Dorys. Ich habe so etwas noch nie gemacht!“
Ihr warmer Blick schaute mich mitleidsvoll an. „Du hast schmalere Hände, vielleicht schaffst du es. Wenn nicht.. stirbt Dorys auch ohne dich.“
Sie hatte Recht. Mein Herz pochte wie wild, als ich die Hände in den geöffneten Muttermund schob und das Baby ertastete.
Aber ich konnte kaum etwas fühlen. Wärme und viel Glitschiges, aber vom Baby konnte ich nichts ausmachen. „Ich fühle nichts.“, sagte ich und verkrampfte meine Hände.
„Versuch es noch einmal.“, bat Dorys mich.
Diesmal war ich mutiger. Mit beiden Händen fuhr ich die Gebärmutterhöhle entlang und ertastete schließlich etwas Hartes, Rundes. „Ich glaube ich habe den Kopf“, stieß ich aus.
„Versuch die Beine zu ertasten.“
„Ich hab sie.“, rief ich aus.
Dorys gefesselter Blick geriet nicht von Lucys Bauch. „ Versuch das Baby umzudrehen. Halte es zwischen den Beinen und am Kopf.“, wies sie mich an.
Ich raffte meinen letzten Mut zusammen und drehte mich zittrigen Händen das Baby um.
„Sachte.“, murmelte Dorys.
Als ich den Kopf am Muttermund spürte, wäre ich vor Erleichterung am Liebsten zusammengebrochen. Mit zittriger Stimme presste ich ein „Es liegt richtig.“ heraus.
Hinter mir keuchte Tonder auf. „Du hast es?“ Mein schwaches Nicken bestätigte ihn.
Lucy wimmerte.
„Ich werde das Kind herausziehen.“, erklärte Dorys.
Lucys Schreien, als Dorys langsam das Kind aus dem Muttermund zog, ging mir in Mark und Bein über.
Endlich sah ich den Kopf des Babys und keine Augenblicke später zog unsere behelfsmäßige Hebamme das Baby blutverschmiert heraus.
Mit einer Schere durchtrennte sie geübt die Nabelschnur.
Es folgte qualvolle Stille, bis das Neugeborene lebend seinen ersten Schrei von sich gab.
Zufrieden klopfte Dorys ihm auf den Rücken und wickelte es in das weiße Tuch, das Tonder ihr reichte. Dann übergab sie das Kind dem Vater.
Lucys Wimmern verstummte als endlich mit einem letzten Schwall Blut die letzten Überreste der Schwangerschaft herausfloßen.
Tonder drückte mir das Neugeborene in die Hand und eilte zu seiner Frau.
„Es ist vorbei.“, hörte ich Lucy mit kaum verkennbarer Stimmer flüstern.
„Ja.“. Tonders Stimmer war auch kaum mehr als ein Flüstern. „Du hast es geschafft.“
Lucys angestrengter Atem beruhigte sich wieder. Dorys nahm ihre schlaffe Hand und maß den Puls. „Im letzten Moment.“, murmelte sie erschöpft.
Erleichtert atmete ich auf. Das Baby in meiner Hand quäkte weinerlich. Es war super klein und hatte eine niedliche Stupsnase. Die Haut war noch ein wenig faltig und glänzte rosa.
„Hier.“, übergab ich das Baby der geschafften Mutter.
Lucy öffnete die Augen, als sie es entgegennahm und mit schwachem Lächeln an sich drückte. „Was ist es?“, fragte sie matt.
„Es ist ein Mädchen.“, antwortete ich leise.
Ein glückseliges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Willkommen Zuhause, Lina!“

Shampooduft


Leandro

Als sich die Tür nach vier Stunden endlich wieder öffnete, war ich erleichtert Nanni zu sehen.
Ihre Haare klebten ihr ein wenig an der Stirn und ihre Wangen waren gerötet.
„Lebt sie noch?“, fragte ich sie, sobald sie sich auf die Sitzbank fallen ließ.
„Ja, tut sie. Es war knapp.“
„Die Nachricht hat sich wie ein Feuer über den ganzen Zug ausgebreitet.“
„Ehrlich?“ Ein wenig Ehrfurcht war in ihren Augen erschienen.
„Nun ja.“, stoppte ich. „Ihr wart ja auch nicht gerade leise...“
Sie warf mir einen wütenden Blick zu und strich sich die feuchten Haare hinter die Ohren. „Immerhin war ich nicht zu feige, ihr zu helfen!“
Ich merkte, wie ich ein wenig rot wurde. Ihr Kommentar hatte mich getroffen. „Ich war noch nie bei einer Geburt dabei!“, versuchte ich mich zu rechtfertigen.
„Ich auch nicht.“, fauchte sie und ihre Augen glitzerten erbost. „Ich hab ne ganze Menge Mut gebraucht, um das Baby im Muttermund umzudrehen!“
Vorsichtig warf ich einen Blick auf ihre Hände, die aber keine Blutspuren mehr aufwiesen. „Okay.“, lenkte ich ein. „Das war wirklich mutig von dir.“
Ihre Falten glätteten sich wieder und ein Lächeln kehrte in ihr Gesicht zurück. „Sie hat ihr Baby Luna genannt.“
Luna? Ein interessanter Name. Ich musste zugeben, ihn bisher nur einmal gehört zu haben. „Bedeutet das nicht Mond auf Spanisch?“, fragte ich.
Ein nachdenklicher Blick. „Ja, ich glaube schon. Tonder und Lucy sind auch Beide Spanier.“
Ich nickte. Die Beiden mussten schon lange unterwegs sein. Von Spanien bis in die Vereinigten Staaten von America war es ein langer Weg.
Ich fragte mich, warum die Beiden gerade jetzt so eine große Reise unternahmen. Und dann noch, wo Lucy doch schwanger war. „Ist die Kleine süß?“
Sie lachte. „Nun ja, sie ist sehr klein und sieht aus wie ein Baby.“
Ich lachte mit ihr. „ Knautschig, klein und knuffig.“
Einige Minuten später gab unser Lautsprecher ein Knacken von sich und verkündete eine Ansage: Der Zug pausiert für etwa eine Stunde. Wir befinden uns in Poncha City, Oklahoma.
Ich band Chuppine ihr Halsband um und verließ mit ihr und Nanni unseren Wagon.
Draußen wehte eine frische Luft. Der Nachmittag ging zu Ende und schon jetzt gingen vier Uhr, begann sich der Himmel dunkel zu färben.
Die Bahnstation, an der wir gehalten hatten war relativ klein. Ich sah einige Meter entfernt zwei Imbissbuden und ein Waschhaus. „Willst du duschen?“, fragte ich Nanni, die sich nun ungefähr zum hundertstem Mal die wirren Haare aus dem Gesicht strich.
„Auf jeden Fall!“, erwiderte sie. „Aber wir brauchen Handtücher und Shampoo. Ich geh sie kurz holen.“
Dann verschwand sie zurück in den Zug und kehrte mit zwei blauen Handtüchern und einer kleinen Flasche Shampoo zurück. „Du hast das Geld?“, fragte sie.
„Klar.“ Ich band Chuppine auf einer kleinen Grünfläche an einen Baum.
Im Waschhaus hingen schon die Nebelschwaden, bevor wir die Duschräume betreten hatten. Der Boden war feucht und es roch stickig und nach Keller. In den wahrscheinlich mal weiß gewesenen Fliesen zogen sich dunkle Risse und an den Wänden blätterte die Weiße Farbe ab.
Als Nanni die grüne Tür öffnete, schlug mir ein Schwall Shampooduft entgegen. Das Waschhaus sah aus wie das Abbild einer Dampfsauna. Im mittleren Gang stand eine junge Frau, Handtuch fest um den Körper gebunden, und fuhr mit den Händen behelfsmäßig durch die knotigen Haare. Bis auf die letzte Kabine schienen alle anderen belegt zu sein.
„Du kannst als erstes duschen.“, bat ich Nanni an.
„Willst du nicht?“
„Ich geh nach dir.“
Sie warf das blaue Handtuch über die Kabinentür und verschloss die Tür hinter sich.
Mein Blick wanderte durch den Waschraum. Er erinnerte mich ein wenig an die Thermen, die die Römer früher immer benutzt hatten.
Dann höre ich ein Prasseln aus dem Inneren der Kabine. Nanni schien unter der Dusche zu stehen. „Dorys scheint allerdings doch ganz okay zu sein.“, rief sie.
„Sie ist total intolerant, unsozial und unfreundlich ist sie auch.“, protestierte ich.
Kichern aus der Duschkabine. „ Und du ein Idiot.“
„Passt doch.“, murmelte ich, aber so leise, dass sie es nicht hören konnte.
Dann hörte das Prasseln auf und eine nasse Hand griff nach dem Handtuch.
Fünf Minuten später kam Nanni in fertiger Montur angezogen aus der Kabine.
Ich zog eine meiner Augenbrauen hoch und blickte vielsagend auf ihr blaues Top hinunter, das gerade das Nötigste verdeckte. Sie warf mir einen ärgerlichen Blick zu und ich fing an zu lachen. „Manchmal frage ich mich ehrlich, ob du so unschuldig bist, wie du tust.“
Sie wurde verlegen und verkreuzte die Arme vor der Brust. „Wolltest du nicht duschen gehen?“
Ich warf meiner beleidigten Prinzessin einen amüsierten Blick zu. „Richtig, ich wurde nur kurzzeitig abgelenkt.“ Doch sie schob mich in die Dusche und zog geräuschvoll die Tür hinter mir zu. „Du hast fünf Minuten!“, reklamierte sie durch die Tür und ich streifte mir das T-Shirt über den Kopf.
Tatsächlich stand ich angezogen erst zehn Minuten später wieder draußen.
Wir verließen das dampfende Waschhaus mit nassen Haaren und setzten uns bei den letzten Sonnenstrahlen nach draußen auf die noch angewärmten Strahlen und genossen die letzte Helligkeit dieses Tages.
„Wenn wir Glück haben sind wir morgen um diese Uhrzeit schon an der Grenze zu Kanada.“, gähnte ich. Nanni hielt die Augen geschlossen und murmelte ein „Mh.“.
Chuppine turnte um uns herum in Gras und erschnüffelte die Gegend.
Ich griff einen Stock aus dem Gras auf und warf ihn einige Meter von mir.
In freudiger Erwartung stürmte meine Husky-Dame hinterher, schnüffelte nach dem Objekt und brachte ihn zurück.
Dann legte sie sich zwischen Nanni und mich, den Kopf auf den Pfoten.
Als eine halbe Stunde später der Abfahrtston unseres Zuges ertönte, war die Sonne schon fast am Horizont verschwunden.
Wir kehrten zurück zum Wagon. „Ich glaube, ich werde noch einmal nach Dorys schauen.“, sagte sie zu mir.
„Meinetwegen.“
Sie schien ja wirklich einen Narr an dieser alten Dame gefasst zu haben.
Ich saß im Wagon schon fast eingeschlafen, als plötzlich etwas in meiner Hosentasche vibrierte. Mein Handy? Ich zog es heraus und ging dran: „Hallo, Leandro hier?“
„Leandro!“, tönte es mit der Stimme meines kleinen Bruders heraus.
„Pablo, wie geht es dir und Mum?“
Ein erleichtertes Lachen am Ende der Leitung. „ Mum geht es noch gut. Ich durfte sie heute sehen. Sie scheint’s so schlecht nicht zu haben.“, antwortete er.
„Schön.“, sagte ich. „Wir haben ja auch noch 4 Wochen Zeit. Machen die Black Stone Edges Druck?“
Mit Absicht benutzte ich den vollen Namen meiner ursprünglichen Gang.
Räuspern am Ende der Leitung. „Ich hab ihnen gesagt, du brauchst Zeit, um von Amerika mit dem Zug hierher zu kommen. Sie meinten sie würden darauf vertrauen, dass ich die Wahrheit sage.“ Seine kindliche Stimme klang voll Überzeugung.
„Gut so. Ist mit Tante Gwenny alles in Ordnung?“, fragte ich nach.
„Sie macht sich Sorgen um dich und Mum und zwingt mich jeden Abend zum Beten, aber sonst geht’s ihr gut.“, lachte er leise.
„Schön.“, sagte ich und unterbrach. „Ich befinde mich in Oklahoma. Ich komme so schnell ich kann, okay?“
„Ich hab dich lieb.“, flüsterte Paco.
„Ich dich auch.“
„Darf ich deine alte Steinschleuder benutzen?“
„Sie liegt unter meiner Matratze.“ Ich hustete.
„Ich weiß.“
Ein kurzer Moment verging, bis ich seine Worte verstand. „Paco, du weißt genau, dass du nicht in mein Zimmer darfst!“, fauchte ich in den Hörer.
„Ich hab in deinem Bett geschlafen und sie bemerkt.“, sagte seine kleinlaute Stimme. „Ich konnte nur nicht einschlafen.“
Ich gestattete mir einen Seufzer und fuhr mir mit den Händen durch die Haare.
„Du bleibst aber ab jetzt aus meinem Zimmer fern, verstanden?“, knurrtee ich.
„Ja man.“, erwiderte Pablo trotzig.
„Ich verlass mich darauf. Schlaf gut.“
„Du auch.“
Dann knackte die Leitung und er hatte aufgelegt.
Ich war froh, dass es Mama noch gut ging. Ich hatte Schlimmes erwartet, aber vielleicht würde die Gang diesmal Rücksicht nehmen.
Nicht zuletzt wegen Fabio, der immer ein Auge auf meinen kleinen Bruder gehabt hatte.

Nanni

Dorys saß wie immer in ihrem Sessel hinter der Theke, als ich den Kiosk betrat.
Der kleine Fernseher an der Decke lief und zeigte Auszüge aus einer Comedy-Show.
Neben Dorys stand eine dampfende Tasse auf dem Tischchen.
„Wie geht es Lucy?“, begrüßte ich sie, als ich den Raum betrat.
Erst jetzt schreckte sie hoch und schaute ein wenig erschrocken, als sie mich in der Tür stehen sah. „Ich habe dich nicht kommen gehört!“, rief sie entrüstet. „Und Lucy geht es besser, ich war vor einer halben Stunde bei ihr.“, fügte sie etwas ruhiger hinzu.
„Schön.“, nicke ich. „Ich hatte auch vor, gleich noch einmal bei Ihnen vorbei zu schauen.
„Warst du duschen?“, fragte Dorys und deutete auf meine immer noch feuchten Haare, die ich provisorisch am Kopf verknotet hatte.
„Vorhin.“
„Willst du auch einen Kaffee?“
„Gerne.“, erwiderte ich und blinzelte durch das Fenster, dass das Neonlicht des Raumes reflektierte.
Dorys stand auf und setzte einen Top mit frischem Wasser auf den Herd.
Eine unbeharrliche Stille füllte den Raum und nur das Gas gab unterm Topf ein leises Pfeifen von sich. „Ist dieser Leandro dein Freund?“, fragte Dorys mich urplötzlich.
„Nun ja.“, stotterte ich ein wenig verlegen. „Ich glaube schon.“
Nun war es endlich raus. Erleichterung durchströmte mich. Ich hatte Leandro das erste Mal meinen Freund genannt.
„Er ist ziemlich jung, um ein Mädchen mit auf Reisen zu nehmen.“, bemerkte sie spitz.
Ich nickte. „Es war nicht geplant gewesen.“
„Er hat dich gezwungen?“, fragte sie und zog verblüfft ihre Augenbrauen hoch.
„Nein.“; kicherte ich. „Ich habe ihn mehr oder weniger überredet.“
„Der Charme der jungen Frauen.“
„Es war wichtig.“
Nun war es Dorys, die sich ein großmütterliches Lächeln erlaubte. „Sei bloß vorsichtig, Kleine. Liebe tut manchmal ganz schön weh.“
„Ich pass auf.“
„Das will ich hoffen.“, antwortete sie und drückte mir eine Tasse mit dampfendem Kaffee in die Hand. „Warum geht ihr überhaupt nach Alaska?“
„Nun ja.“ Ich rieb mir die Stirn. „Leandro wurde zu mir ins Jugendheim nach America geschickt, weil er in seiner Heimat Probleme gemacht hat.“
„Drogendealen und so etwas?“
„Etwas Ähnliches. Jedenfalls wurde er schon früh Mitglied in einer Gang und drehte illegale Spielchen im Gegenzug, dass die Gang ihm die Sicherheit seiner Familie in Alaska garantierte.“
Ich nahm einen Schluck aus der Tasse und schaute Dorys in die Augen. „Er wurde vernünftig und ist vor seiner Reise aus der Gang ausgetreten.“
„Wo liegt das Problem?“, fragte Dorys. „Ich meine, ist doch schön, wenn er vernünftig geworden ist.“
„Ist es ja auch.“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Aber die Gang fordert Strafgeld. Sie haben seine Mutter gefangen genommen.“ Ich verschwieg mit voller Absicht den eigentlichen Betrag.
Dorys schlug sich die Hand vor den Mund. Sie sah aus, als könnte sie der Geschichte nicht so recht glauben. „Dass so etwas heute noch passiert!“, empörte sie sich.
Dann verstummte sie wieder und ihr Blick kehrte ins Leere. „Er will nach Alaska und das Geld zahlen?“
„Ja.“, sagte ich. „Sein kleiner Bruder wohnt bei seiner Tante.“
„Ihr müsst der Polizei bescheit sagen“
Ich folgte ihrem Blick zum Telefon. „Leandros Tante hat sie bereits alarmiert; die Polizei scheint sich einen feuchten Dreck um die Armenviertel zu scheren.“
Ich verzog keine Miene, als ich den Satz aussprach. Auch Dorys schwieg einen Moment und fuhr verloren die Falten ihres roten Sessels nach. „Wie viel müsst ihr zahlen?“
Ich schwieg. Sollte ich ihr diese Frage wirklich beantworten? Allerdings würde ihr Wissen an unserer Allgemeinsituation auch herzlich wenig ändern. „2000 Euro.“, antwortete ich.
„Ordentliche Summe.“
„Ja.“
„Habt ihr genug Geld?“ Ein fragender Blick in meine Richtung.
„Kaum, aber es reicht, um nach Alaska zu kommen.“
Sie nickte.
Auf meinem Rückweg schaute ich bei Lucy und Tonder vorbei. Dorys hatte mir eine Kanne Pfefferminztee für die Beiden mitgegeben.
Als ich an die Tür klopfen wollte, stand diese bereits offen. „Hallo?“, rief ich leise und schob die Tür ein Stückchen weiter auf. Mit der kleinen Luna auf dem Bauch lag Lucy im Bett. „Komm rein.“, sagte sie und wank mich herein. Das Bettenlager stand immer noch, aber im Zimmer roch es wieder angenehm.
„Ich wollte euch nur kurz eine Kanne frischen Pfefferminztee bringen.“, sagte ich und schaute mich nach Tonder um. Lucy bemerkte meinen Blick. „Er ist auf dem Heck Luft schnappen gegangen.“
„Achso.“, erwiderte ich ein wenig enttäuscht. Gerne hätte ich ihn gesehen.
„Willst du die Kleine einmal halten?“, schlug Lucy plötzlich vor und lächelte mich an.
Überrascht lächelte ich zurück. „Gerne.“ Lucy zögerte einen Augenblick, dann reichte sie mir das Baby.
Luna schlief. Ich wog das kleine weiße Bündel ruhig in meinen Armen. „Luna ist ein schöner Name.“
„Ja, nicht?“, erwiderte sie. „Der Name ist Spanisch und bedeutet Mond.“ Glücklich betrachtete sie das kleine Mädchen.
„Wenn du noch ein Mädchen bekommst, musst du es Stella nennen.“, murmelte ich.
„Stella?“
„Nun ja, Mond und Stern gehören doch wohl zusammen.“ Ich lächelte bei dem Gedanken.
„Du hast Recht, Stella ist wirklich schön.“
Ich gab ihr das schlafende Mädchen zurück. „Ich gehe dann wohl besser.“, sagte ich und wünschte Lucy eine gute Nacht.
„Ich dir auch.“, antwortete sie, dann verließ ich Wagon Nummer acht und kehrte in meinen Wagon zurück.

Als ich zurückkehrte schlief Leandro schon. Seine Armbanduhr zeigte mir zehn Uhr an.
Auch Chuppine hatte sich neben Leandros Füßen schlafen gelegt, wurde aber durch mein Kommen aufgeweckt. Nach einigen Sekunden Schnüffelns jaulte sie leise und rieb begrüßend ihren Kopf an meine Beine. Da Leandro immer noch schlief, griff ich nach der Leine und nahm Chuppine mit nach draußen. Ich war noch nicht müde genug, um schlafen zu gehen und Lucys Bemerkung über das Heck im Zug hatte mich neugierig gemacht.
In gemächlichem Schritt trottete die Husky- Dame neben mir her. Auf dem Zugplan schaute ich mich nach der gesuchten Stelle um. „Freideck“ stand dort und wies auf das Ende des Zuges.
Im grellen Neonlicht streiften Chuppie und ich die Abteilungen entlang. Es war leise im Zug geworden. Das Tuckern des Zuges hatte die Geräuschkulisse übernommen.
Nach einigen Minuten Laufens standen wir am Ende der letzten Abteilung vor einer rotgestrichenen Tür.
Als ich auf die Türklinke drückte, schwang sie mit leisem Knatschen auf und gab tatsächlich ein 5 mal 5 großes Freideck auf. Die erhöhte Plattform war vollkommen leer.
Ich schloss die Tür hinter mir und ging über die Plattform bis zu der Balustrade, die vor dem Herunterfallen schützte. Mit atemberaubender Geschwindigkeit flogen die Bahngleise unter mir davon und hinterließen eine Wolke aus Staub und trockener Erde.
Ich setzte mich hin und ließ die Beine durch die Stäbe baumeln.
Kühle Luft sauste um meine Fußknöchel und wehte mir in einer frischen Brise um den Kopf.
Der Himmel war sternenklar. „Luna.“, flüsterte ich. Der Name hätte kaum passender sein können. Chuppie spitzte überrascht die Ohren, als sie meine Stimme hörte.
„Nicht du.“, lachte ich leise und kraulte der Hündin gedankenverloren das Fell.
Plötzlich hörte ich ein Knatschen hinter mir und drehte mich um.
Ein kleiner Junge, vielleicht neun Jahre alt mit aschblonden Haaren stand in der Tür. Als er mich sah, zuckte er erschrocken zurück und zog die Tür wieder zu.
„Du kannst ruhig hoch kommen.“; rief ich ihm freundlich zu. Die Tür ging wieder auf. Etwas scheu trat der Junge hindurch.
„Hallo.“; sagte er und streckte mir die Hand entgegen. Etwas konfus streckte ich ihm auch meine entgegen.
„Stimmt etwas nicht?“, wollte er wissen.
Ich bemerkte, dass ich ihn anstarrte und schüttelte den Kopf.
Etwas verwirrt senkte er den Blick und kehrte mir den Rücken zu, als er sich über die Balustrade lehnte. „Die Aussicht ist fenomenal!“, hauchte er überrascht.
„Ja, das ist sie.“, antwortete ich, auch wenn ich nicht wirklich wusste, ob ich mich angesprochen fühlen sollte.
„Du kommst aus America?“, stellte er fest.
„Ja.“, antwortete ich überrascht. „Woher weißt du das?“
„Ich höre es an deinem Akzent.“
„Echt?“ Mir war bisher nie aufgefallen, dass die Menschen hier so sonderlich anders sprachen, als in Boston. Auch bei mir selber konnte ich keinen Akzent feststellen.
Chuppie neben mir winselte. „Ich muss gehen.“, sagte ich und griff nach ihrer Leine.
Den geheimnisvollen Jungen ließ ich zurück.

Mit dem Kopf an die Scheibe gelehnt, döste ich vor mich hin.
Leandro neben mir schnarchte leise.
Er sah schlafend wirklich süß aus. Nicht so angespannt wie tagsüber, sonder einfach mal sanft. Fast schon niedlich. Ich schalt mich selbst für mein dummes Denken und schloss die Augen, in dem Versuch endlich einzuschlafen.
„Du schläfst nicht.“ Ich blinzelte durch die Augen. Leandro war aufgewacht und strich sich die wuscheligen Haare aus dem Gesicht.
„Aber fast.“; informierte ich ihn und schloss erneut die Augen.
„Hast du gar nicht geschlafen bis jetzt?“
„Ich war mit Chuppie auf dem Freideck und bei Lucy.“
Verschlafen blickte er mich an. „Kommst du noch einmal mit aufs Freideck?“
„Warum?“
„Bitte.“
Ich nickte ergeben und streckte mich. Dann tapste ich hinter ihm aus dem Wagon.
Er griff nach meiner Hand und schlenkerte sie hin und her.
Schweigend liefen wir den stillen Flur entlang.
„Ist dir nicht kalt?“, fragte er mich leise und bezog sich darauf, dass ich immer noch im Top herumlief.
„Nein, mir ist warm.“, antwortete ich verlegen. Warum war ich ihm immer noch so schüchtern gegenüber?
Wir erreichten das Ende des 12. Abteils und passierten die rote Tür.
Nachtluft umfing uns, das Deck war leer.
Leandro zog mich neben ihn auf den Boden. Sein Blick wanderte über die nächtliche Landschaft. In der Ferne leuchteten einige Lichter, vermutlich ein Dorf und um uns herum ging die Landschaft unmerklich in Gestein über.
„Du weißt gar nicht, wie verdammt sehr ich dich liebe.“, flüsterte er. „Bis zum Mond und wieder zurück. Tausend Mal.“
„Und ob ich das weiß.“
„Tust du?“
Ich nickte und zog in zu mir, bis ich ihm ins Ohr flüstern konnte. „Ich liebe dich auch. Bis zum Mond und wieder zurück. Tausend Mal und noch mehr.“
Sein trauriges Lächeln tat mir weh. „Du bist das Beste, was mir je passiert ist.“, murmelte ich.
„Und du bist das dümmste und dickköpfigste...“ Er unterbrach und schluckte. „Und verdammt noch mal süßeste Mädchen, das ich kenne..“
Seine Worte umfingen mich in einer weichen Wolke, die mein Denken aussetzten ließ.
„Ich lass dich niemals mehr los.“, sagte er.
„Brauchst du auch nicht.“
Dann kamen seine Lippen näher. Unsere Nasenspitzen berührten sich fast und ich schaute ihm tief in seine unglaublich grünen Augen.
Einen Moment hielt ich seinem Blick stand, bis er seine Lippen auf meine senkte.
Wieder dieses wunderbare Gefühl, als ich ihn so nah bei mir spürte.
Ich strich ihm eine tiefschwarze Haarsträne aus dem Gesicht.
Er griff nach meinem Handgelenk. „Versprich mir, dass du mich nicht verlässt. Nicht auf dieser Reise.“, flüsterte er eindringlich. Er war so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spüren konnte. Ich versuchte mein Handgelenk seinen Fingern zu entziehen.
„Versprich es mir, Nanni.“
Ich holte tief Luft und blickte ihm fest in die Augen, als ich sagte: „Ich verspreche es.“

Washington


Leandro

Ich saß nun schon eine halbe Stunde in der Wagontür, doch noch immer war von dem per Lautsprecher angekündigtem Halt nichts zu sehen oder zu spüren.
„Nun komm doch rein.“, verdrehte Nanni die Augen. „Wenn der Zug hält, wirst du es merken.“
Etwas widerwillig schloss ich die Tür wieder. Wahrscheinlich hatte sie Recht, aber nach zwei Tagen Zugfahren konnte ich es nunmehr kaum erwarten, endlich nach draußen ins Freie zu kommen.
Der blaue Himmel pries einen wunderschönen Tag und die Sonnenstrahlen tauchten die Berglandschaft, die wir durchquerten in ein gelb-goldenes Licht.
Das Thermometer zeigte knappe zwei Grad über Null. Der Winter würde nicht mehr auf sich warten lassen.
Es war bereits der 16. Dezember, die Zeit, die ich normalerweise zuhause mit Mama und Pablo verbrachte.
Weihnachtszeit mit Plätzchen und Zimtsternen, Weihnachtsmarkt und Schnee.
„Wie gerne hätte ich jetzt heißen Kakao.“, bemerkte ich und malte Muster in die beschlagene Scheibe.
„Am Kiosk gibt’s welchen. Frisch aus dem Automaten.“
Ich verzog die Lippen. „Richtigen Kakao!“
„Ich schätze, auf den wirst du noch ein Weilchen warten können.“, bemerkte Nanni, offensichtlich um neutrale Konversation bemüht.
„Und ich möchte endlich hier raus!“, fügte ich ein wenig trotzig hinzu.
Das Eingesperrtsein machte auf die Weile müde und langweilig war mir auch.
Wie hatte ich die Hinreise solange nur überlebt? – Andererseits, die Hinreise war auch meine erste Reise überhaupt gewesen.
Nanni zog ihre rote kleine Bürste heraus und begann systematisch ihre Haare von vorne nach hinten zu entknoten und zu kämmen. „Brauchst du die Bürste auch mal?“, fragte sie mich.
Ich schüttelte den Kopf. „Sehe ich etwa so aus?“
Einen Moment Stille dann ein wages Nicken. „Ein wenig.“
„Na gut.“ Widerwillig griff ich nach der Bürste und fuhr damit durch meine schwarzen Haare.
Bis sie stecken blieb. Ein bisschen entnervt riss ich an ihr und bezweckte damit nichts anderes, als dass die Bürste nur noch tiefer in meine Haare rutschte und sich verknotete.
„Mist.“, fluchte ich riss an meinen Haaren. Das hatte mir gerade noch gefehlt: Langeweile bis zum Umfallen und eine rote kleine Bürste, die in meinen Haaren steckte wie festgewachsen.
„Hilfst du mir mal?“ Mein bittender Blick galt Nanni, die sich köstlich über mein Massaker zu amüsieren schien.
„Du hast schlechte Laune.“, stellte sie sehr helle fest.
„Ja.“
„Du bist süß, wenn du dich aufregst.“
„Nanni!“, sagte ich mit entnervter Stimme. „Könntest du mir bitte diese Bürste aus den Haaren holen?“
„Wie lautet das Zauberwort?“
„Bitte.“ Ich seufzte. Dann stand sie endlich auf und begann einzelne Strähnen aus der Bürste zu ziehen. Ich unterdrückte ein Jammern, für wen sollte sie mich denn halten? , und biss die Zähne zusammen, bis sie die letzte Strähne gelöst und die kleine Bürste aus meinen Haaren befreit hatte.
„Deshalb wurde ich nicht als Mädchen geboren!“, jammerte ich und rieb mir meine wunde Kopfhaut.
„Ja klar.“, fiel sie mir ins Wort. „Würdest du sie öfter bürsten, wären sie nicht so verknotet.“
Bürsten? Um Himmels Willen, wie würde das denn bitte aussehen, wenn ich mir ständig und überall die Haare kämmen würde?
„Das ist Schicksal.“; stellte ich sachlich fest.
Sie warf mir einen ungläubigen Blick zu. „ Wenn du weiterhin deine Haare nicht bürstest, dann ist Deren Schicksal auch besiegelt!“, warf sie ein.
„Unsinn.“
„Dann musst du sie abschneiden.“
„Bekomm ich die Bürste noch einmal?“ Diesmal ging ich ein wenig vorsichtiger zu und zog das kleine rote Ungetüm durch jede Strähne einzeln.
Zehn Minuten und ungefähr dreihundert gefühlte Knoten, war die Hälfte meiner Haare ausgerissen und die andere Hälfte endlich gekämmt.
Der Lautsprecher verkündete passend zum Ende meiner Quälerei den Ausstieg in fünf Minuten und meine schlechte Laune verflüchtigte sich schneller, als sie gekommen war.

Nanni und Ich hatten uns Schals angezogen und Winterjacken angelegt.
Die frische Luft hinterließ weiße Wölkchen, wann immer wir lachten oder etwas sagten.
Auch Chuppine, die sonst die Kälte aus Alaska gewöhnt war, schien sich erst wieder an das kühle Klima gewöhnen zu müssen und tapste mit hochgezogenen Pfoten über den kalten Stein.
Im Stehcafé Mc. Blank hatten wir uns beide einen Kakao gegönnt- einen Richtigen.
Schlürfend und bibbernd saßen wir auf der Bordsteinkante.
Gerne hätte ich mich gewaschen, aber der Bahnhof hatte außer einer Imbissbude und einem Toilettenhäuschen nichts Nützliches zu bieten.
„Tonder, Lucy!“, hörte ich Nanni plötzlich rufen. Sie hatte ihren blauen Anorak fest um sich geschlungen und die Haare unter der Kapuze zu einem strubbeligen Knoten notdürftig zusammengesteckt.
Als ich nun das Paar mit Baby auf dem Arm kommen sah, wank ich ebenfalls.
„Ich erfriere!“; begrüßte uns Tonder mit den Zähnen klappernd.
Lucy warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Wie geht es euch?“, fragte sie.
Nanni zuckte mit den Schultern. „Den Umständen entsprechend. Verdammt eingeengt.“
Lucy warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. „Ja, so geht es uns auch.“ Sie hielt inne. „Und Luna hält uns ordentlich auf Trapp. Sie hat die letzte Nacht kaum geschlafen.“
„Haben wir mitbekommen.“, sagte ich spitz und schaute auf das schlafende Baby.
Keine Sekunde später spürte ich Nannis ordentlichen Tritt auf meinen Fuß.
„Ich meine“, ergänzte ich. „Die erste Zeit wird die Anstrengenste sein.“
Lucy tat, als hätte sie von meinem ersten Kommentar nichts mitbekommen.
„Nun ja. Wo habt ihr denn euren Kakao her?“
Ich wies in Richtung Stehcafé.
„Könnet ihr kurz auf Luna aufpassen?“
„Ja.“

Vorsichtig legte sie mir das Baby in die Arme.
Zum ersten Mal sah ich das Mädchen richtig. Es war wirklich klein, wie Nanni beschrieben hatte und hatte dunkelblonde Haare. „Wir sind gleich zurück.“, nickte mir Tonder zu und lief schnellen Schrittes mit Lucy über den Bahnsteig.
Nanni neben mir blickte die Kleine verträumt an.
„Du hast dich schon jetzt in sie verliebt.“, stellte ich fest und ließ sie dabei nicht aus den Augen.
Ein nachdenklicher Blick auf Luna. „Ich hätte gerne ein Baby.“
„Wenn wir in Alaska sind und alles beim Alten ist, bekommst du von mir so viele Babys, wie du willst.
Sie lächelte. „Wir haben noch Zeit.“
Ja, da hatte sie Recht. Immerhin waren wir beide erst sechzehn. Immerhin kannten wir uns erst seit eineinhalb Monaten.
Wir würden in Alaska Arbeit suchen und uns ordentliche Jobs beschaffen. Vielleicht würde ich die Autowerkstatt von meinem Vater übernehmen.
Sicherlich würde Nanni gerne ihren Schulabschluss nachmachen. Die Chancen, im Armenviertel Alaskas auf ordentliche Arbeit zu stoßen, waren gering und ohne Schulabschluss... gleich null sozusagen.
Plötzlich gähnte Luna in meinen Armen. Sie gab ein leises Jaulen von sich, bis sie wieder ruhig weiter schlief. Ich gab sie an Nanni.
Das blonde Mädchen drückte Luna fest an sich. „Wir werden in zwei Stunden in Washington ankommen.“
„Wenn wir Glück haben sind wir an Heilig Abend schon bei mir Zuhause.“
„Ja, das wäre schön.“

„Oh mein Gott, Leandro.“, schrie Nanni und zog mich stürmisch zum Fenster. „Es schneit!!!!“
„Wuhu.“, gab ich euphorisch zu.
Sie presste ihr Gesicht ungläubig an die Scheibe.
„Ich kann es nicht fassen! Es schneit WIRKLICH!“
Ich brach in Gelächter aus. „Wir fahren Richtung Alaska und es ist Winter!“
„Ist der Schnee in Alaska auch so wunderschön?“
„Nun ja...“, sagte ich. „Eigentlich schon. Es schneit den ganzen Tag.“
„Wo bin ich nur den Rest meines Lebens gewesen?“, murmelte Nanni mit großen Augen.
„Du gewöhnst dich an den Schnee.“, fügte ich überaus sachlich hinzu.
„Du gewöhnst dich daran?“, fragte sie empört.
„Chuppine auch.“, wies ich unschuldig auf den Hund.
Ein entgeistertes Kopfschütteln. „Ich glaub’s ja nicht!“
Sie ließ ihren Blick keine Sekunde von der Scheibe hinter der in immer stärker werdendem Schneefall die weißen Flocken wild durcheinander flogen.
„Schade, dass wir das Fenster nicht öffnen können.“, bemerkte Nanni.
„Hast du Lust aufs Freideck zu gehen?“
Ihr Gesicht erhellte sich. „Stimmt ja!“, und griff nach ihrer Jacke.
Wir wanderten die Abteile entlang, bis wir die rote Tür zum Freideck erreichten.
Sie stand einen Spalt offen und ich hörte Menschengemurmel.
„Da hatten Andere wohl zuerst die Idee.“, sagte ich und schob Nanni an der Taille durch die Tür.
Auf der Plattform empfing uns wirres Treiben. Bestimmt zwanzig Leute waren gekommen, um den Neuschnee zu bewundern und Kinder rannten ausgelassen umher.
Ich ließ ausnahmsweise Chuppie von der Leine. Sie würde den Kindern nichts tun und die Plattform war sicher umrandet und geschützt.
Ausgelassen stob meine Alaskahündin davon und rutschte über die Plattform den Kindern hinterher.
Nanni schien ebenfalls den Schnee zu genießen. Mit geschlossenen Augen und ausgestreckter Zunge versuchte sie Schneeflocken zu fangen. Ich tat es ihr nach.
„Mh, lecker.“, lachte ich. „Ganz was Feines.“
„Die hier schmeckt nach Erdbeere!“
Ich warf ihr einen ungläubigen Blick zu. „Tut sie gar nicht!“
„Doch, tut sie. Du musst nur genau hinschmecken!“ Sie fing erneut eine Schneeflocke. „Ananas!“
„Ganz normal bist du aber auch nicht?“
„Schoko.“
Ich seufzte. Spaß beiseite. Vielleicht sollte ich ihr von Pablos letztem Anruf erzählen.
„Nanni?“
„Ja?“, lachte sie.
„Ich muss dir etwas Wichtiges erzählen.“
„Nur zu.“
Ich zog sie zu mir und sie öffnete verwirrt die Augen. „Es ist ernst.“, sagte ich.
Das Lachen auf ihrem Gesicht erlosch.
„Pablo hat angerufen.“, begann ich. „Er hat Mama gesehen und es geht ihr gut.“ ‚Noch’ fügte ich im Stillen hinzu.
Nanni warf mir einen Blick zu. „Ehrlich? Freut mich!“
„ Nun ja. Pablo hat Ihnen gesagt, dass die Reise einige Zeit dauern würde. Sie werden noch drei Wochen warten, dann wird es eng.“
„Hast du nicht gesagt, wir wären an Heilig Abend wieder zuhause?“
„Hoffentlich!“, bemerkte ich.
„Bis dahin sind es nur noch knapp über eine Woche.“
Ich runzelte die Stirn. „Nur wenn wir den letzten Zug von Grenze Kanada bis Alaska bekommen. Und zwar rechtzeitig.“
„Wenn wir es nicht rechtzeitig schaffen?“, fragte sie und warf mir einen unsicheren Blick zu.
Mir schwirrte der Kopf. „Dann“, sagte ich und fuhr fort: „Nehmen wir den Fußweg und schaffen es nicht in drei Wochen.“
Sie biss sich auf die Lippe. „Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit?“
„Nicht so hoch.“
Ein erleichtertes Lachen stahl sich aus ihrem Mund. „Ich möchte nicht wissen, was die Banditen mit eurer Mutter anstellen, wenn sie das Geld nicht bekommen.“
Ich nickte bestätigend. Ja, das würde sie ganz sicher nicht wissen wollen.
Und ich wollte nicht wissen, was geschah, wenn sie Pablo zum Dienst in der Gang zwangen.
Ich hatte mir nicht ohne Grund neun Jahre wortwörtlich den Asch aufgerissen, um Pablo zu schützen, um ihn jetzt zu verlieren. „Mistkerle.“, murmelte ich.
„Hast du was zu mir gesagt?“
„Nein, ist schon okay.“, sagte ich.
Dann pfiff ich Chuppine zu mir. „Ich gehe wieder rein.“, ergänzte ich. „Kommst du mit?“
„Nein, ich bleib noch ein wenig.“
„Meinetwegen.“ Ich band Chuppie die Leine um und flüchtete mit ihr ins Warme Trockene.
Auf dem Weg zu unserem Wagon schaute ich im Kiosk vorbei. Vielleicht würde Dorys mir ein Handtuch für Chuppie borgen. Ich wollte ungern meines oder Nannis für das nasse Hundefell benutzen.
Vorsichtshalber klopfte ich einmal an die Tür, bevor ich den dunklen Kiosk betrat. „Hallo?“, fragte ich.
Ein Räuspern von hinten. Ich drehte mich um. Dorys saß, Kopf auf die Hände gestützt, an der provisorisch aufgebauten Bar-Ecke und blätterte in einem Reise-Katalog.
„Komm her.“; forderte mich die alte Dame mit rauer Stimme auf. Sie trug ihre weißen Haare offen über die Schultern und eine weinrote Bluse über ihrem beigen Gehrock.
Langsam trat ich näher. Das leichte Licht von der Stehlampe warf nur einige zuckende Schatten auf ihr Gesicht.
„Ich wollte eigentlich nur fragen, ob sie ein Handtuch für mich hätten.“, sagte ich verlegen.
„Nun komm schon!“ Ungeduldig wank mich Dorys zu ihr und wies auf einen freien Stuhl neben ihr. „Setzen!“
Ich wollte schon die Augen verdrehen. Typisch Dorys, unterließ es dann aber doch lieber.
Ich rückte den Stuhl neben ihr beiseite und setzte mich.
Dorys klappte nun endlich ihren Reisekatalog zu und setzte einen ernsten Blick auf. „Ihr habt noch einen weiten Weh vor euch.“, fing sie an.
„Ähm, ja?“, ergänzte ich.
„Ihr werdet noch weit reisen müssen.“
Ich warf ihr einen verwirrten Blick zu. War sie psychisch nicht mehr ganz normal oder war sie über Nacht zum Prediger mutiert? Angenehm fand ich Beides nicht.
„Eure Mutter ist gefangen, dein Bruder alleine und du machst dir Sorgen.“, fuhr sie mit monotoner Stimme fort.
DAS, war definitiv nicht mehr okay. Woher wusste sie all meine Informationen? Ich griff schon innerlich wieder nach der Kehrschaufel neben der Theke, um sie zu erschlagen, als sie plötzlich meinen Blick zu erkennen schien und sagte: „Ich habe mit Nanni geredet.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Wir haben uns nett unterhalten.“
Ich seufzte empört auf. Klasse. Das hatte Nanni ja mal wieder toll hinbekommen!
Wir wollen anonym verreisen, und sie verriet unseren gesamten Lebenslauf der Kioskfrau eines Zuges!
„Ich habe nachgedacht.“ Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Dorys.
„Ja?“, hakte ich mit hochgezogenen Augenbrauen nach.
„Ich wollte euch das hier geben.“ Sie griff unter den Tisch und zog einen kleinen braunen Stoffbeutel hervor. „Ich hoffe, das hilft euch ein wenig.“
Ich ahnte es, bevor ich mit zitternden Fingern nach dem Säckchen griff und es auffriemelte.
Ordentlich zusammen gebunden, enthielt das Geschenk mehrere Bündel zwanzig Euro Scheine.
Ich nahm einen heraus und hielt ihn gegen das Licht. Keine Frage, das Geld war echt.
„Das können wir nicht annehmen.“, hauchte ich und gab kopfschüttelnd den Schatz wieder an Dorys.
„Ihr müsst.“ Sie schob das Säckchen zu mir. „Nun komm schon. Schau nicht so entgeistert!“
Mit Unbehagen griff ich erneut danach.
„Ich werde nicht mehr lange leben.“, sagte Dorys. „Ich habe dieses Geld zusammengespart. auf das ich einmal glücklich werde.“
Ich lauschte gebannt ihren Worten.
„Ich hebe gelernt, dass glücklich sein nicht Geld zu haben bedeutet.“ Ein letzter tiefer Atemzug. „Ich hoffe aber, dass ihr durch das Geld nach Alaska findet, um dort ein glückliches Leben zu beginnen.“, schloss sie.
Ich traute meiner Stimme nicht, deshalb nickte ich bloß.
„Du solltest gehen und Koffer packen.“, bemerkte Dorys schon wieder ganz die Alte. „Der Zug hält in zwanzig Minuten in Washington.“

Nanni

„Als würde Dorys uns verraten!“, fauchte ich ihn an. „Vielleicht möchte ich auch einfach mal mit jemandem reden außer dir!
„Nanni!“, redete er mir ein. „Das hier ist kein Kinderspiel! Hier geht es um meine Zukunft! Was soll ich machen, wenn sie uns schnappen?“
„Sie hat uns Geld gegeben!“, brüllte ich ihn wutentbrannt an.
„Wir haben Geld!“
Mir standen fast die Tränen in den Augen, so wütend war ich. „Hier geht es nicht nur um deine Zukunft!“ Ich gestikulierte wild mit den Händen. „Ich brauch einen Schulabschluss! Wo soll ich in Alaska denn das Geld herbekommen?!“
„Nanni!“, schrie er mich an. „Hier geht es nicht um einen einfachen Schulabschluss, hier geht es um Menschenleben!“
„Dann ruf die Polizei!“
„Jetzt fang nicht wieder mit diesem Thema an!“ Seine grünen Augen blitzten wutentbrannt.
„Du bist so egoistisch!“, schnaubte ich. „Warum helfe ich dir überhaupt? Mach deinen Scheiß doch alleine!“
Ich griff nach meinem Anorak und stürmte hinaus. Ich ließ ihn hinter mir, bis ich die Tür zum Freideck erreichte.
Glücklicherweise war ich alleine, als meine Tränen kamen.
Schniefend vergrub ich meinen Kopf in meinen Armen und missachtete den Schnee, der sich in meinen Haaren festsetzte.
Ich war zu aufgewühlt. Ich konnte das Beben in meinem Inneren nicht verhindern, als mir widerstandslos die Tränen über die Wangen liefen.
„Nanni, bitte.“, hörte ich seine Stimme hinter mir. Er war mir aufs Freideck gefolgt. „Nun sei doch nicht gleich eingeschnappt!“, flehte er.
„Nicht eingeschnappt?“, empörte ich mich. „Ich habe keine Zukunft und wegen mir haben wir fast eintausend Euro geschenkt bekommen!“
„Wir wollten anonym bleiben!“
„Und wenn du stirbst, bleibe ich lieber anonym!“, schrie ich zurück.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen blickte er mich wütend an. „Das ist doch nicht dasselbe!“
„Natürlich ist es das! Anonym auf die Weise oder auf eine Andere, wo liegt denn da bitte schön der Unterschied?!“
„Man, es tut mir doch leid!“, fauchte er mich an. „Ich mach mir doch nur Sorgen!“
„Dann lass diese Sorgen nicht an mir aus!“
„Du warst der Auslöser für diese Sorgen!“
„Ich wollte doch nur helfen!“ Mein Wutausbruch legte sich langsam wieder. In seinen Augen spiegelte sich ein bitterer Ausdruck.
„Es tut mir auch leid.“; gab er zu. „Ich wollte nicht so hart zu dir sein.“
„Du warst gemein!“, ergänzte ich erbittert.
„War ich.“ Er setzte seinen Hunde- Blick auf. „Wieder vertragen?“ Er streckte mir seine ausgestreckte Hand hin.
Ich zögerte einige Sekunden. Sein Blick wandelte sich in Enttäuschung. Erst als er die Hand wieder sinken ließ, griff ich danach. „Angenommen.“
Ein seichtes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Es tut mir ehrlich leid.“
„Wir sollten die Koffer packen.“, bemerkte ich spitz. So ganz hatte ich ihm die Nummer noch nicht verziehen.
„Du warst diejenige, die weggerannt ist!“
„Und du bist der Grund dafür!“
Mit großen Schritten ging Leandro voraus. Ich folgte ihm ein wenig stolpernd.
Mensch, manchmal fragte ich mich, warum ich diesem Kerl quer durch die Welt nach Alaska folgte.

Mit den gepackten Koffern standen wir bereits in der Tür, als der Ankunftston ertönte und die Ankunft in Washington ankündigte.
Wir waren nicht die Einzigen. Von überallher tönten Stimmen und Geschrei, Kinderweinten und Chuppine winselte, weil sie Angst vor der Unruhe hatte.
„Bitte nehmen sie all ihr Gepäck mit. Warten sie auf die Öffnung der Türen. Drängeln sie nicht und bleiben sie ruhig.“, schallte es aus den Lautsprechern, dessen Ansagen im Trubel fast untergingen.
Dann endlich begann der Zug sein Tempo zu zügeln und wir fuhren in den Hauptbahnhof von Seatlle, Washington ein.
Als die Türen von außen aufgeschoben wurden, strömten die Menschenmassen nach draußen.
Leandro und Ich verweilten noch die erste Minute, bis der Großteil den Zug verlassen hatte und stiegen dann selber aus.
Der Bahnhof, der vor uns lag war größer als all die anderen Bahnhöfe, an denen wir passiert hatten. Den Bahnsteig vom ersten Schnee bedeckt, die Cafés und Imbissbuden hell erleuchtet und mit Glitter beschmückt, einen großen bunten Tannenbaum mitten auf dem Platz, hatte der Bahnhof etwas von winterlichem Wonder-Land an sich.
Hier und dort lachten Kinder, Koffer standen kreuz und quer und überall, Familien wurden umarmt und gedrückt.
Weihnachtszeit- Zeit der Liebe schoss es mir durch den Kopf.
Auch Lucy und Tonder sah ich, die gerade aus dem Zug kamen.
„Wollen wir Tschüss sagen?“, murmelte ich unauffällig Richtung Leandro.
„Klar, warum nicht?“ Wir warfen uns die Taschen über den Rücken und stapften durch den frischen Schnee.
„Ich fürchte es ist Zeit Lebewohl zu sagen.“, sagte ich, als wir endlich alle beisammen standen. Luna auf Lucys Arm quengelte Leise und grapschte mit ihren Händen in Lucys dunkelblonde Haare.
„Es war eine schöne Zeit mit euch.“, erwiderte Tonder.
„Und wir werden dir auf ewig dankbar sein, dass du Luna gerettet hast.“, ergänzte Lucy ernsthaft.
„Danke.“, antwortete ich zaghaft. „Wir werden noch oft an euch denken.“
Diesmal war es Tonder, dem eine leichte Röte ins Gesicht stieg.
Leandro schien sich unsicher zu sein, was er wirklich sagen wollte.
Er streckte Tonder als Erster die Hand entgegen. „Gute Weiterreise.“
„Dir auch.“, und klopfte Leandro auf die Schulter.
Lucy und Ich umarmten uns kurz. „Danke nochmal.“, flüsterte sie.
Dann gab Lucy Leandro und Ich Tonder die Hand.
„Macht’s gut!“, verabschiedete sich Tonder.
An dieser Stelle trennten sich unsere Wege und ich wollte ihnen auch nicht hinterher gucken, als sie mit der kleinen Luna auf dem Arm den Bahnhof verließen.
„Ich hätte sie gerne noch ein wenig länger um mich gehabt.“, bemerkte ich mehr zu mir, als zu Leandro.
„Du auch?“
Ich nickte. „Sie waren abwechslungsreich.“
„Du hast sie kennengelernt, weil Lucy vorzeitig ihre Wehen hatte.“
„Komisch nicht?“
In seinen grünen Augen glitzerte Etwas, dass ich nicht definieren konnte.
„Das ist Schicksal?“, riet ich.
„Genau.“, lachte er.
Dann schlang er seinen Arm um meine Taille und schob mich einige Meter vorwärts. „Wollen wir uns nicht erkundigen gehen, wann der nächste Zug fährt?“
„Stimmt ja.“ Schelmisch hielt ich seinem Blick stand.
Die Informationsstelle war nicht weit entfernt, jedoch von einer ganzen Schlange Leute besetzt, die auch alle ihren nächsten Zug erwischen wollten.
Leandro und Ich stellten uns hinten an.
Ich ließ meinen Blick auf Chuppine schweifen, die sich zu Leandros Füßen in den Schnee gesetzt hatte. Ob sie wohl fror?
Ich verwarf den Gedanken wieder, immerhin war dieser Hund nicht Irgendeiner, sondern ein echter Alaskahund. Die waren Kälte gewohnt- ganz im Gegensatz zu mir.
Ich gähnte und blies weiße Wölkchen in die Luft.
„Wie viel Uhr haben wir eigentlich?“, erkundigte ich mich bei Leandro.
Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. „ Halb fünf.“
„Ganz schön spät schon.“
Endlich löste sich die Schlange vor uns auf, bis wir endlich vor der Informationsstelle standen.
Die Frau, die vor dem Fenster saß, war gutaussehend. Schlank, blonde Haare, gemachte Fingernägel und eine Bluse mit Ausschnitt.
Ich blickte nach links zu Leandro, dessen Blick auf der Frau kleben zu schien. Idiot!
„Wir würden gerne wissen, ob und wann hier ein Zug bis nach Dawson, Grenze zu Alaska fährt.“, fragte ich die Frau übertrieben höflich.
Sie warf mir einen Blick zu, der Bände sprach, warf einen Blick auf Leandro und tippte etwas in ihren Computer ein.
„Tut mir leid.“, sagte sie spöttisch. „Der nächste Zug fährt nur bis nach Fort Franklin.“
Ich presste Lippen zusammen. „Und wann?“
„Übermorgen um neun Uhr.“
Ich warf Leandro, der seinen Blick mittlerweile gelöst hatte, einen fragenden Blick zu.
„Und wenn wir einen Zug von Vancouver ab nehmen?“, ergänzte er.
„Sehe ich aus, als ob ich für den Vancouver-Bahnhof zuständig wäre?“ Sie verzog ihren Mund zu einem zynischen Lächeln.
In meinem Inneren begann es zu brodeln.
„Also gibt es nur diesen einen Zug nach Port F.?“
„Korrekt.“
„Wann fährt er ab?“
„Hast du Alzheimer? Übermorgen um neun Uhr!“
„Nein, ich habe kein Alzheimer!“, fauchte ich sie an.
„Nanni.“, sagte Leandro und schob mich beiseite.
Ja klar, jetzt kam der Gentlemen, wie immer! Ich warf ihm einen bösen Blick zu.
„Wie lange fährt der Zug?“, fragte er die Blondine ohne mit der Wimper zu zucken.
„Dreiundzwanzig Stunden.“
„ Also kommen wir, wenn wir am Mittwoch den Zug um neun Uhr nehmen, am Donnerstag um acht Uhr morgens an?“
Ein spöttischer Blick ihrerseits. „Scheint so.“
„Können wir die Tickets hier kaufen?“, warf ich ein.
„Wenn ihr Geld habt.“
Sie hantierte einige Griffe am Computer und das Druckgerät neben ihr summte. Sie drückte Leandro die Tickets in die Hand. „Macht vierzig Mäuse.“
Leandro kramte in seiner Jackentasche und gab ihr das Geld. „Hunde fahren frei?“
„Das ist ein Hund?“
„Sehr witzig.“, spottete Leandro und zog mich am Ellenbogen und Chuppines Leine in der anderen Hand, vom Informationscenter weg.
„Was war das denn?“, fragte er mich mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Sie war neidisch.“
„Auf wen?“
Ich schaute ihn kurz an, um zu schauen, ob er die Frage ernst meinte. „Auf mich. Weil du mein Freund bist!“
„Du hast mich deinen Freund genannt? Oh mein Gott!“, lachte er und drückte mich ein wenig stürmisch an sich.
„Stopp!“, keuchte ich, die unter seiner Umarmung fast erdrückt wurde.
„Du dachtest ehrlich, sie wäre neidisch auf mich?“, fragte er kichernd.
„Voll und ganz.“
„Nie im Leben!“
Ich antwortete ihm nicht mehr. Er war mein Freund. Und den würde ich bestimmt nicht an irgendeine blonde Bahnhoftussi abgeben.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte ich.
„Lass dich überraschen. Ich habe da eine geniale Idee!“

Die Überraschung


An seiner Hand stolperte ich ihm hinterher.
Warum ich stolperte? Ganz einfach. Der Kerl hatte mir einfach einen Schal um die Augen gebunden. Allerdings aus keiner böser Absicht.
Ich ahmte seine Stimme nach: „Lass dich überraschen. Ich habe da eine geniale Idee!“
„Hast du etwas gesagt?“, fragte er mich plötzlich.
Ups, ich hatte das laut gesagt? „Nein, es ist nichts.“, erwiderte ich kopfschüttelnd.
Also führte er mich jetzt irgendwo hin, um mir eine Überraschung zu machen.
Dann rammte ich mit voller Kraft eine Kante. „Auh!“, jaulte ich auf, als der Stein sich in mein Bein grub. „Pass doch auf!“
„Mist, Tschuldigung, Nanni!“, entschuldigte er sich. „Ich habe nicht auf den Boden geachtet.“
Ich jammerte: „Kannst du mir die Augenbinde nicht abnehmen?“
„Unter keinen Umständen.“
„Du entführst mich gerade, das ist dir klar?“
„Voll und ganz. Und ich steh drauf.“
„Das ist illegal.“
Ein Lachen von rechts. „Ich darf alles, ich bin dein Freund.“
„Und wenn du mich noch einmal gegen einen Bordstein rennen läst, warst du die längst Zeit deines Lebens mein Freund!“
Kichern. „Es war ein Pöller.“
„Ist mir doch egal!“
Er verschleppte mich bestimmt eine halbe Stunde, bis wir endlich anhielten.
Meine Hand, die er hielt war schweißnass. Als er sie endlich losließ, wischte ich sie angewidert an meiner Hose ab.
„Warte kurz hier. Bin gleich wieder da.“, wies mich Leandro an.
Super, als hätte ich besseres zu tun , als mit verbundenen Augen mitten in der Öffentlichkeit zu stehen!
Ich begann die Sekunden zu zählen. „Eins, Zwei. Drei, zwanzig, vierzig, einhundertfünfunddreißig.“
Von links hörte ich die belustigten Stimmern einiger Jugendlicher. „Guckt mal die.“, hörte ich jemanden rufen. „Sollen wir dir helfen?“, rief eine andere Stimme.
Unter normalen Umständen, wäre ich jetzt wahrscheinlich rot wie eine Tomate geworden, aber ich hoffte, der Schal über meinen Wangen verdeckte dieses Missgeschick.
„Ich meditiere!“, rief ich in die Richtung zurück, aus der die Stimmen kamen.
Lautes Gelächter folgte meinem Satz. „Können wir mitmachen?“
„Klar, kommt her.“
Der Aufforderung folgten zögerliche Schritte in meine Richtung.
Sie schienen mindestens zu viert zu sein. „Hier sind wir.“, sagte eine Stimme rechts neben mir.
„Augen schließen und Hände in die Luft.“, wies ich sie an.
Schade, dass ich nicht sehen konnte, ob sie sich gerade wirklich freiwillig neben mir blamierten.
Wo blieb Leandro nur? Ich hörte immer mehr aufgeregte Stimmen, die sich um uns zu scharren schienen.
„Die denken, wir sind bescheuert!“, flüsterte eine männliche Stimme neben mir.
„Oder geistig verwirrt.“, ergänzte ein anderer.
„Psst!“, ermahnte ich sie. „Wir meditieren doch!“ Erneutes leises Kichern.
Die Stimmen von Menschen um uns herum wurden stärker.
Ich fühlte einen zaghaften Stupser an meinem Rücken. „Mama, was macht sie denn da?“, hörte ich ein kleines Kind fragen.
Wo zum Teufel blieb bloß Leandro? Gleich würde ich mir die Augenbinde selber abnehmen!


Leandro

Als ich vom Pinkeln zurück zur Bushaltestelle kam, überraschte mich dort eine riesige Menschentraube, die sich um eine Laterne gescharrt zu haben schienen.
Nanu? Hatte ich nicht Nanni hier zurück gelassen?
Ich ahnte schon Böses, als ich mir meinen Weg durch das Menschengewühl suchte und mir meinen Weg nach Vorne erkämpfte.
Auf halber Höhe blieb ich stehen. Das konnte doch nicht Nanni sein?!
Neben einer Laterne stand sie mit verbundenen Augen. Nicht weiter schlimm. Aber was machten die fünf Jungs neben ihr? Mit geschlossenen Augen und erhobenen Händen standen sie neben Nanni, als würde sie meditieren.
Die Menschenmenge um sie herum schien sie genauso zu begaffen, wie ich es gerade tat.
Soviel noch einmal zu Nannis und meiner Devise: Wir bleiben anonym, unter jeden Umständen.
Ich schob die letzten Leute aus dem Weg und erreichte sie.
Ich packte sie am Ellenbogen und wollte sie mit mir ziehen.
„Lass das!“, empörte sie sich und schlug meine Hand beiseite.
„Nanni, ich bin’s!“, zischte ich empört und packte sie am Ellenbogen.
„Leandro? Wo warst du so lange?!“
„Was machst du hier?“
Sie schien zu überlegen. „Ich habe auf dich gewartet.“
Ich zog sie aus der Menschenmenge, ich würde gleich mit ihr reden.
Die Jungs neben ihr schienen immer noch nicht bemerkt zu haben, dass sie fehlte.
Steif wie Statuen standen sie mit geschlossenen Augen und erhobenen Händen auf dem Platz.
Endlich hatten wir die Menschenmenge hinter uns gelassen.
Leider kam in diesem Moment, auch der Bus, den ich mit ihr zum Weihnachtsmarkt nehmen wollte. „Der Bus kommt.“, sagte ich.
„Wir nehmen den Bus?“
„Ja.“ Ich schob sie- Hand an ihrem Rücken zum Bus. „Pass auf. Stufe!“, wies ich sie an.
Im Bus kaufte ich zwei Karten, checkte ein und suchte uns einen Platz, möglicht weit hinten im Bus.
„Was war denn das gerade bitteschön?“, fragte ich sie.
„Keine Ahnung, ich konnte Nichts sehen.“ Ihr Mund verzog sich zu einem Lachen.
„Und was in aller Welt machten die Jungs neben dir?“
„Meditieren.“
„Nanni, sei ehrlich. Warum?“
Sie kicherte. „Ich habe sie gefragt, ob sie mit mir meditieren wollen.“
Am liebsten hätte ich laut gelacht, so bescheuert schien Nannis Vorschlag zu sein.
„Du weißt, dass wir anonym bleiben wollten, oder?“
„Ich war anonym.“, erwiderte sie vergnügt. „Mein Gesicht hat unter deinem dicken Schal kein Mensch gesehen.“
„Die Jungs sahen richtig bescheuert aus.“
„Ich auch.“ Sie stoppte kurz. „Und wo warst du überhaupt?!“
„Für kleine Mädchen.“
„Zehn Minuten lang?“, fragte sie mich entgeistert.
„Und mich erkundigen.“, fügte ich hinzu.
„Für die Überraschung?“
„Genau.“
Wir fuhren keine fünf Minuten, als der Bus uns die Endstation verkündete. Ich war froh, dass er nur die Leuchtanzeige für die Haltestellen benutzte, anstatt der elektronischen Ansagen.
„Ausstieg.“, verkündete ich Nanni.
„Wir sind da?“
„Genau jetzt.“, grinste ich und führte sie aus dem Bus heraus.
Das Stimmengewirr vom Weihnachtsmarkt schallte bis hierher und die Düfte von gebrannten Mandeln, Paradiesäpfeln und warmen Maronen waren kaum zu überriechen.
„Was riechst du?“, erkundigte ich mich bei Nanni. „Wenn du richtig bist, darfst du die Augenbinde abnehmen.“
Chuppie neben mir streckte ebenfalls die Schnauze in die Luft und schnüffelte.
„Es riecht nach gebrannten Mandeln.“
„Richtig,“
„Und nach Glühwein.“
„Korrekt.“
„Wir sind auf dem Weihnachtsmarkt?“, riet sie.
Ich entknotete den Schal. „Dreimal richtig.“
Ein Leuchten ging über ihr Gesicht.
Meine Überraschung war gelungen.

„Möchtest du einen Liebesapfel?“, fragte ich sie, während wir soeben an einer der unzähligen Süßigkeitenbuden vorbei schlenderten.
Sie schaute mich verblüfft an.
„Was möchte ich?“
„Einen Liebesapfel.“
Sie lachte los. „Du liebe Güte. Du meinst wohl einen Paradiesapfel.“, verbesserte sie.
Ich musste lachen.
„Ich nenne ihn Liebesapfel.“
„Quatsch!“
„Wirst du gerade rot, weil ich ‚Liebesapfel’ gesagt habe?“
„Nein!“, rief sie aus.
„Ich dachte schon.“
Gemeinsam schlenderten wir zur Bude und ich bestellte einen Paradiesapfel.
Mir selbst kaufte ich gebrannte Mandeln.
„Gibt es in Alaska eigentlich eine Kirmes?“, fragte sie mich plötzlich.
„Wenige, aber es gibt welche.“
„Warst du schon einmal auf einer?“
„Ich war vier, als ich das letzte Mal auf einer war.“
„Ich war früher jedes Jahr.“, sagte sie. Ihr Blick schweifte über die bunten Buden. „Also, als meine Mum noch nüchtern war.“
„Warum war sie dauerbetrunken?“
Sie zögerte. „Mein Dad hat sie verlassen und ist mit der Neuen nach Italien ausgewandert.“
„Deine Mum hat’s nicht verkraftet?“
„Mh.“
Ich griff nach ihrer Hand und schlenkerte ihren Arm hin und her.
„Wo willst du heute Nacht schlafen?“, fragte ich sie.
„Im fünf Sterne Hotel?“
„Wird schwierig.“
„Ist aber möglich?“
„Nur wenn wir jemanden kidnappen.“
Sie lacht. „Hast du schon mal jemanden gekidnappt?“
„Nur aus Versehen.“, antworte ich.
Sie schaut mich entgeistert an. „Wie kann man jemanden aus Versehen kidnappen?“
„Es war Notwehr. Es war wichtig.“
„Wer war es?“
„Ein Tierwärter.“
„Oh.“, sagt sie und schließt den Mund wieder. In ihren Augen sehe ich etwas Ehrfürchtiges. Wahrscheinlich habe ich ihr gerade den Schrecken ihres Lebens eingejagt.
„Normalerweise mach ich so etwas nicht.“; ergänze ich.
„Das will ich hoffen.“
Wir liefen einige Meter.
„Also schlafen wir unter einer Brücke.“, sagte sie.
Ich dachte das Gleiche.
„Aber Morgen sind wir wieder im Zug.“
„Luxus.“
Ich grinste. „Du bist freiwillig hier, erinnerst du dich?“
„Leider.“, seufzt sie.
„Du hast mich.“
„Noch schlimmer.“
Ich gab ihr einige von meinen Mandeln.
Mittlerweile war es dunkel geworden und die beleuchteten Häuschen sahen nur noch schöner aus. Neben uns torkelte ein Betrunkener vorbei.
An einer Würstchenbude kaufte ich eine Wurst und gab sie Chuppine.
Nanni fragte mich, ob ich meine Mutter sehr vermisse und ich sagte Ja.
Ich war ihr nicht mehr wütend, dass sie mich weggeschickt hatte.
Sie wollte nur das Beste für mich.
„Ich habe eine Idee!“, rief Nanni plötzlich.
„Wir kidnappen doch jemanden?“, schlug ich fröhlich vor.
„Idiot! Nein, wir schlafen im Badehaus!“
„Im Badehaus?“
„Es ist warm und trocken. Oder willst du ehrlich bei null Grad und Schnee im Park schlafen?“
Ich schaute sie an. „Gute Idee. Aber gibt’s am Bahnhof ein Badehaus?“
„Ich habe eins gesehen.“
Ich nickte zufrieden. Die Idee war gut und der Bahnhof war nur etwa eine halbe Stunde vom Weihnachtsmarkt entfernt.
Plötzlich lachte Nanni los.
„Hätte mir jemand vor einem halben Jahr gesagt, ich würde in Washington in einem Badehaus übernachten, ich glaub den hätte ich ausgelacht.“
Ich lachte mit ihr. „Das Leben ist wie eine Pralinenschachtel. Bunt und manchmal ekelig.“
„Magst du keine Pralinen?“ Ihr erstaunter Blick traf mich.
„Doch, aber nicht die mit dunkler Schokolade.“
„Achso.“, sagte sie. „Die mag ich auch nicht so gerne.“
Ich genoss das Gefühl von Freiheit in diesem einen kleinen Moment.
In einer Winterlandschaft auf dem gemütlichen Weihnachtsmarkt mit ein wenig Geld und meiner Freundin.
„Wollen wir zurück?“, fragte ich sie und deutete auf meine Uhr, die mir halb elf anzeigte.
Sie seufzte tief. Ich seufzte auch. Wir wollten beide nicht gehen.

Nanni

Wir hatten unser Gepäck ins Badehaus am Bahnhof gehievt.
Die paar Menschen, die herum standen und gafften, beachteten wir nicht weiter.
Das Badehaus in Washington war größer als unser Erstes.
Es hatte eine ordentliche Entlüftung, war blau gestrichen und war in ordentlichem und sauberem Zustand.
Wir luden das Gebäck in einer der vielen Familienumkleiden ab.
„Ich glaub ich geh duschen.“, stöhnte ich, nachdem ich meinen Rucksack und meine Tasche in die Kabine geworfen hatte.
Nicht, dass ich so tierisch verschwitzt war; aber ich hatte seit zwei Tagen nicht mehr geduscht und fühlte mich, als hätte ich genau das mal wieder dringend nötig.
„Ich auch.“, stimmte Leandro mir zu.
„Ich geh jetzt duschen.“, bedeutete ich ihm in der Anforderung, er möge doch bitte die Kabine verlassen.
Er blieb stehen und starrte mich unverwand an.
„Könntest du bitte die Kabine verlassen, damit ich mich umziehen kann?“,
fragte ich ihn kläglich.
„Oh.“. Seine Stimme klang unschuldig. „Klar.“ Er zögerte kurz.
„Oder soll ich mich umdrehen?“
„Nein, du gehst raus. Ich bin doch nicht blöd!“, schimpfte ich und schob in zur Tür heraus.
Als wären Jungs in dem Alter nicht alle gleich.
„Ja, ganz bestimmt sogar.“, sagte er und lächelte dabei leicht.
Ich schloss die Tür und drehte vorsichtshalber den Sicherheitshebel um.
„Nicht nötig, Nanni.“, hörte ich ihn von der anderen Seite rufen.
„Ich kann auch ohne Probleme über die Trennwand gucken.“
Ich warf der Tür, hinter der er stand einen vernichtenden Blick zu.
„Untersteh dich!“, rief ich.
Immer wieder die Wand kontrollierend, zog ich mir mein T-Shirt aus und meine Hose aus.
Dann packte ich aus meiner Reisetasche das dunkelblaue Handtuch aus und wickelte es mir um.
„Ich komme jetzt raus.“, warnte ich ihn. Wahrscheinlich umsonst. Und öffnete die Tür.
„Leandro?“, rief ich.
„Hier!“, ertönte es aus einer der Kabinen im Mittelgang.
Also zog er sich auch schon um.
„Du gehst in die Männerdusche und ich in die Frauendusche.“, klärte ich ihn auf.
„Okay.“
Ich nagte an meiner Lippe. Normalerweise gab er sich nicht so schnell zufrieden.
Vielleicht war er aber auch einfach nur todmüde, so wie ich.
Ich betrat die leere Mädchendusche, in der noch der Restgeruch von Shampoo stand.
In den Geldschlitz in der Wand warf ich die gewünschten fünfzig Cent.
Die rote elektronische Anzeigetafel begann von 180 Sekunden herunterzuzählen.
Das Wasser war warm und tat meinem Körper verdammt gut.
Die Duschzeit war viel zu schnell vorbei.
Ich überlegte, erneut fünfzig Cent einzuwerfen, aber das wäre unnötige Geldverschwendung gewesen.
Also gab ich mich damit zufrieden, rubbelte mir die Haare halbwegs trocken und band mir das Handtuch wieder um.
Unsere Kabine war noch leer, als ich hereinkam.
Ich suchte in meiner Tasche nach einem frischen Bh und Slip, griff meinen letzten noch sauberen roten Pullover heraus und zog mir meine alte Jeans wieder an.
Die Haare kämmte ich notdürftig mit der kleinen roten Bürste.
„Kann ich reinkommen?“, klopfte es an der Tür.
„Sofort.“, erwiderte ich Leandro, strich mir die Haare nach hinten und öffnete die Tür. „Jetzt.“
„Oh, du bist schon fertig.“, begrüßte er mich.
Auch er war schon fertig angezogen.
Seine schwarzen Haare standen nass und strubbelig vom Kopf ab.
Er trug ein schwarzes Shirt mit V-Ausschnitt. Er schien meinem Blick gefolgt zu sein.
„Sexy oder?“, fragte er amüsiert.
„Selbstverliebt?“, entgegnete ich mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ein wenig.“
„Warum bin eigentlich mit dir zusammen?“
Seine Lippen umspielte ein spöttisches Lächeln.
„Weil du dich Hals über Kopf in mich verliebt hast?“
„Nie im Leben!“ Ich schüttelte ungläubig den Kopf.
„Fehler passieren.“, zuckte er amüsiert die Schultern.
„Mist aber auch.“
Er warf mir einen schrägen Seitenblick zu.
„Willst du schlafen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich hab Hunger.“
„Dann gehen wir noch kurz etwas kaufen.“
Ich schenkte ihm ein Zahnpasta-Lächeln. „Wir müssen die Kabinentür aber abschließen, obwohl wir selber raus müssen.“
Leandro schob mich zur Tür hinaus. „Ich mach das.“, und schob von Innen wieder den Riegel vor.
Dann schaute sein Kopf von oben über die Trennwand. „Ich komm rüber.“, murmelte er und schwang sein rechtes Bein rüber.
Mit einem Schwung ließ er sich auf meiner Seite hinuntergleiten und landete elegant auf den Füßen. Als er meinen Blick bemerkte, deutete er eine leichte Verbeugung an.
„Woher kannst du das?“, fragte ich ihn verblüfft.
„Ich war vier Jahre lang beim Kunstreiten dabei.“, erwiderte er. „Nach einer Zeit wird das auf und Abspringen vom Pferd zur Routine.“
Seine grünen Augen blitzten. „Nichts wie los zum Essen.“
In einem kleinen Café gönnten wir uns eine Tomatensuppe mit frischem Brot.
Der kleine Raum war ansonsten leer, nur eine kleine Gruppe Franzosen schäkerte in einer der hinteren Ecken.
„Franzosen!“, stöhnte Leandro auf. „Arrogante, Ignorante, bescheuerte Baguettefresser!“
„T’es une catastrophe du tout.“, ahmte ich unsere Französischlehrerin Mme. Bertini nach.
„Nie mehr Französisch. Nie mehr!“, pries Leandro.
Ich lachte.
„Lachst du mich aus?“, protestierte er.
„Nein, deine Französischnote.“
Er warf mir einen vernichtenden Blick zu. „Was hattest du in Französisch?“
„Eins.“
„Streber.“
„Danke.“
„Wollen wir gehen?“, fragte er mit Seitenblick auf die betrunkenen Franzosen.
Ich nickte und er bezahlte.
Per Räuberleiter kamen wir im Waschhaus wieder in unsere abgeschlossene Kabine.
Wir breiteten unsere Schlafsäcke auf dem Boden aus und Chuppie kuschelte sich an meinen Kopf.
„Es ist seltsam, sich plötzlich wie ein Ausreißer vorzukommen.“, murmelte ich in meinem Schlafsack.
„Ja, finde ich auch.“ Er legte den Kopf schief, um mich anzusehen. „Aber ich bin wirklich froh, dass du bei mir bist.“
Der Blick in seine grünen, von dunklen Wimpern umrandeten Augen machte mich ganz nervös.
Eigentlich sollten so welche Augen gar nicht existieren. ( Sie waren unverschämt hübsch und ich war der festen Überzeugung, die Mädchen, die er mit diesen Augen manipuliert hatte, kannte er schon gar nicht mehr!)
„Wie viele Freundinnen hattest du schon?“, fragte ich ihn vorsichtig.
Er runzelte leicht die Stirn und starrte an die Decke. „Nun ja, du bist die Einzige.“
„Nicht ehrlich!“ ( Als würde dieser Kerl noch keine Freundin gehabt haben!)
„Du bist die Einzige, die es länger als sechs Wochen mit mir ausgehalten hat.“
Ha! Ich triumphierte mir leise. Ich hatte doch gewusst, dass an der Sache ein Haken war!
„Es sind schon sieben Wochen!“, steuerte ich außerordentlich hilfreich bei.
Er lachte leise. „Es sind vierundfünfzig Tage. Ich habe jeden einzelnen gezählt.“
„Oh.“, bemerkte ich überrascht. „Ab welchem Zeitpunkt hast du denn zu zählen begonnen?“
„Es war der Abend, an dem ich dich das erste Mal im Park geküsst habe.“
Ich erinnerte mich noch genau an diesen Moment und jetzt, wo ich daran dachte, überkam mich ein wohliges Gefühl. Vielleicht war er wirklich der Richtige für mich. Vielleicht.
„Wir sollten schlafen.“, sagte er. „Morgen wird es anstrengend.“


Ich saß auf der Bordsteinkante mit Collegeblock auf dem Schoß.
Der Zug würde in einer Stunde kommen und ich wollte Lena noch schnell einen Brief über die aktuellen Ereignisse schreiben.
Leandro hatte sich die Zeit genommen, mit Chuppine einen längeren Spaziergang zu machen.
( Hatte mir aber ausdrücklich versprochen, wieder rechtzeitig zurück zu sein!)
Ich nahm meinen Füller zur Hand und begann zu schreiben:


Stromausfall


Ich saß auf der Bordsteinkante mit Collegeblock auf dem Schoß.
Der Zug würde in einer Stunde kommen und ich wollte Lena noch schnell einen Brief über die aktuellen Ereignisse schreiben.
Leandro hatte sich die Zeit genommen, mit Chuppine einen längeren Spaziergang zu machen.
( Hatte mir aber ausdrücklich versprochen, wieder rechtzeitig zurück zu sein!)
Ich nahm meinen Füller zur Hand und begann zu schreiben:


Liebe Lena,

mein Brief kommt aus Washington.
Genau dort befinde ich mich nämlich im Moment.
In der Obhut von Mr. Obercool Leandro.
Du kannst mir glauben, dass ich das Reisen schon jetzt satt bin, wo wir doch erst eine Woche unterwegs sind!
Aber ich will nicht meckern, immerhin habe ich mir mein Schicksal ja ausgesucht.
Und ansonsten ist es im Zug recht komfortabel. (Wenn wir nicht gerade in Toilettenhäuschen schlafen).
Wir haben viele nette Leute getroffen und ich war bei einer echten Geburt dabei. (Das Baby ist ein kleines Mädchen und heißt Luna. Sie ist zuckersüß!)
Ansonsten freue ich mich riesig auf Alaska und hoffe, dass wir gut durchkommen.
Unter diesen Umständen wären wir nämlich schon Mitte nächster Woche in Willow!
Ich hoffe, dir geht es gut. Ich würde dir gerne tausend Fragen stellen, aber ich weiß, ich würde keine einzige Antwort erhalten.
Deshalb schreibe ich dir nur, wie sehr ich dich lieb habe und an dich denke!

In Liebe Nanni

Ps: Der Himmel über Kanada ist viel schöner als in Amerika!


Als der Zug endlich in den Bahnhof einfuhr und von Leandro immer noch nichts zu sehen war, begann ich unruhig zu werden.
Der Zug würde nur etwa eine halbe Stunde Pause machen, bevor die Türen sich öffnen und wir einsteigen würden.
Ich warf einen Blick nach rechts und nach links, um sich zu vergewissern, aber weder der Hund noch sein Herrchen schienen in Reichweite zu sein.
Ich seufzte theatralisch.
Immer musste ich mir Sorgen machen!
Leandros Gepäck lag neben dem Meinen an der Bordsteinkante. (Und sah verdammt so aus, als wäre es bereits festgefroren!)
Ich rieb mir derweil frierend die Hände; denn auch wenn es aufgehört hatte zu schneien, so was es doch bitterkalt.
Da wärmten auch die vielen Lichter und Tannenbäume am Bahnhof wenig.
Als mir plötzlich Leandro auf die Schulter tippte, fuhr ich erschrocken herum.
„Oh, wieder da?“, fragte ich.
„Hast du mich vermisst?“ Er lächelte das erste Mal an diesem Tag.
Ich lächelte ein wenig verlegen zurück. „Nun ja... vielleicht ein bisschen.“
Sein Lächeln vertiefte sich.
„Wir müssen die Taschen zum Zug bringen!“; beeilte ich mich zu sagen, bevor ich vollständig den Verstand verlor.
„Stimmt ja.“, grinste er und schnappte sich die zwei Reisetaschen, während ich nur meine Handtasche trug.
Der Bahnhof wurde voller, je näher wir der Abfahrt rückten.
Washington war nicht gerade für seine kleine Größe bekannt und scheinbar war Alaska ein beliebtes Reiseziel.
„In welchem Wagon sind wir denn?“, erkundigte ich mich.
„dreiundzwanzig.“
Ich schaute Richtung Gleis, wo unser Reisemittel dampfend und wartend stand. „Also einer der Abteile hinten.“, mutmaßte ich.
In diesem Moment erklang ein langer pfeifender Ton. Ich hielt mir erschrocken die Hände vor die Ohren.
Die Türen des Zuges öffneten sich und gaben den Blick in ein dunkles Inneres frei.
Als Leandro und Ich von den Massen hinein geschoben worden, waren wir einige der ersten Leute überhaupt.
„Ich hab ihn!“, rief Leandro und zog mich am Handgelenk hinter sich her, den linken dunklen Gang entlang.
Ich fluchte, als ich über den Träger meiner Handtasche stolperte. „Stromausfall oder was?“
Ein wenig unsanft wurde ich weitergerissen, bis Leandro schließlich stehen blieb und die Tür zu Wagon 23 öffnete.
Auch hier keine Anzeichen von Licht. ( Ein Vampirtrack?!)
Im inneren angelangt warf ich die Tasche in die Ecke und ließ mich auf den Sitz plumpsen.
„Das ging schnell!“, keuchte er und ließ sich neben mich sinken.
„Oh ja.“
„Ganz schön dunkel hier!“ Mit der Hand fuhr er durch die Luft und stoppte vor meinem Gesicht. „Buh!“
Ich lachte leise. „Ich fühle mich fast wie ein Geist.“ Naja, oder wie ein Vampir.
Durch die Wagontür drangen immer noch die lauten Stimmen, von den Leuten, die nicht schnell genug in den Zug kommen konnten.
Ich ließ meinen Blick durch unseren Wagon streifen.
Er war klein und orange gestrichen. (Zumindest glaubte ich das!) Nicht so groß, wie unser Letzter, aber er war gepflegt und die Wandfarbe schien noch frisch zu sein.
„Hast du Hunger?“, fragte Leandro und hielt mir einen Proteinrigel vor die Nase.
Ich beäugte das blau verpackte Teil kritisch. Sonderlich appetutanregend sah es ja nicht aus.
„Nein, lass mal. Ich bin nicht hungrig.“, antwortete ich deshalb.
Er zuckte mit den Schultern und steckte seinen Eigenen auch wieder in die Tasche.
Mit dem Rücken gegen das harte Sitzpolster gelehnt, blickte ich ihn an.
„Willst du Chuppie Nichts geben?“
„Sie hatte beim Spaziergang erst etwas.“
„Wir mussten für sie gar kein Ticket kaufen.“
Ei nachdenklicher Blick. „Stimmt.“, antwortete er.
Mit den Fingern strich er gedankenverloren über meine Wange.
„Du wirkst in der Dunkelheit richtig geheimnisvoll.“ Er grinste schief. „Du solltest Vampir werden. Soll ich dich beißen?“
Mein entgeisteter Blick traf ihn. „Du hast mich nicht gerade gefragt, ob du mich beißen darfst?! Also, ich meine gleich nachdem du gesagt hast, ich bin hässlich.“
„Kein Wort davon, dass du hässlich bist, habe ich gesagt!“, protestierte er.
„ ‚ in der Dunkelheit so geheimnisvoll’“, imitierte ich und unterstrich seine Stimme mit einer ungelenken Handbewegung.
Er warf mir einen unschuldigen Blick zu. „ Die Dunkelheit unterstreicht deine Schönheit nur noch.“
Ich nahm seine Hand von meiner Wange. „Leandro, du weißt, dass du ein Arsch bist?“
„Bin ich?“
„Zu hundert Prozent!“
Er sah beleidigt aus, wahrscheinlich hatte ich seinem Ego gerade einen gewaltigen Kratzer versetzt.
„Ich habe innere Schönheit.“
Ich verdrehte die Augen. Wenn Jungs versuchten, auf romantisch zu machen, kamen immer so schrecklich uncoole Sachen heraus.
„Oh bitte!“, stöhnte ich und schlug mir mit der Hand vor die Stirn. „Wenn du innere Schönheit hast, bin ich ab heute eine Brünette.“
„Ihhhh“, rief er.
„Genau!“, erwiderte ich. „IHHH!!!“


Als Leandro nach einem längeren Telefongespräch mit seinem Bruder wieder hereinkam, wirkte er ernst und angespannt.
„Schlechte Neuigkeiten?“, hakte ich vorsichtig nach.
Er schüttelte den Kopf. „Pablo sagt nur...“, und zögerte. „Er sagt, dass ich nur noch drei Wochen habe.
Zweifel begannen an mir zu nagen. „Aber du hattest doch gesagt, wir wären rechtzeitig zurück.“
Er antwortete nicht, sondern streckte wieder die Hand nach mir aus und wickelte konzentriert eine meiner Haarsträhnen um seinen Finger.
Schließlich antwortete er: „Ich hoffe schon. Allerdings... haben sie im Wetterbericht starke Schneestürme angesagt.“
Ein nervöser Blick zum mir. „Ich will dir ehrlich keine Angst machen, Nanni, aber... es könnte knapp werden.“
Leandro betrachtete mich abwartend.
„Es macht mir keine Angst. Es sollte dir Angst machen.“
„Ja.“, gab er zu. „Es macht mir Angst. Unsere Zeit ist zu kurz und meine Mutter in Gefahr.“
Lange sagte er nichts mehr. Wickelte nur wieder und wieder meine Haare um seine Finger.
Sein Blick irrte durch den Raum. Suchend nach einer Antwort, die er nicht kannte.
„Sie haben ihm einen Deal vorgeschlagen.“
„Und das bedeutet...?“
Leandro wandte sich von mir ab und ließ die Hand sinken.
„Sie entlassen Mum, wenn er der Gang beitritt, aber“, unterbrach er. „Pablo hat noch nicht zugestimmt.“
Ich nickte schweigend, nicht wissend, was ich zu seinen Worten sagen sollte.
Du tust mir leid. oder Es wird alles wieder gut. schienen mir die falsche Wortwahl zu sein.
Denn es war schlichtweghin die einfache Wahrheit: Ich hatte keinen Funken Ahnung, mit solch ‚Unseriösen’ Problemen umzugehen, geschweige denn sie zu beseitigen.
„Pablo wird erst annehmen, wenn wir zu spät kommen.“, unterbrach Leandro das Schweigen.
Für einen Augenblick war ich außer Konzept gebracht.
„Das hört sich stark danach an, als hättest du böse Vorahnungen.“
„Habe ich ja auch.“
Sein bitterer Blick blieb an der Wand uns gegenüber hängen. „Du weißt ja nicht, was Schneestürme in Alaska bedeuten.“ Unruhig strich er sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht und stand auf.
„Du hast mir die Geschichte mit deinem Vater beim Schneesturm erzählt.“, warf ich ein.
„Und das ist nur ein Teil davon, was ein Sturm bedeuten kann.“ Durch den Raum tigernd strich er mit den Fingern die orangene Farbe nach (von der ich vermutete, dass sie orange war) und räusperte sich. „Mein bester Freund ist damals in einem Schneesturm ums Leben gekommen. Er war jagen und ist nicht rechtzeitig zurückgekehrt.“
„Oh.“, entgegnete ich und setzte eine schuldbewusste Miene auf. „Das tut mir leid für dich.“
Seine grünen Augen streiften mich.
„Wir lernen von klein auf, ums Leben zu kämpfen. Wir kennen die Gesetzte der Natur. Und wenn wir uns nicht danach richten... passiert genau so etwas.“
„Ihr sterbt.“
„Genau.“
Seine Wahrheit war hart. Aber ich war dankbar für seine Offenheit.
Ich würde mir ein Bild von meiner baldigen Zukunft machen müssen.
Und zugegebenermaßen: Die sah zur Zeit nicht besonders blumig aus.
„Bringst du mir das Jagen bei?“
Ein seichtes Lächeln erhellte seinen Blick. „Sobald wir in Alaska sind.“
„Ist es schwer?“
„Nein, nur der Schmerz, den man anfangs spürt, wenn man das Tier erlegt hat.“
Ich nickte nachdenklich. „Vielleicht werde ich Vegetarier....“
Leandro machte große Augen und rieb dich genüsslich den Bauch. „Mhh.. Jam, Brokkoli!“
Ich grinste. Der Brokkoli konnte mir gerne sterben gehen. Bäh, wenn ich schon daran dachte. Ich schauderte.
„Du magst keinen Brokkoli?“, sagte Leandro, der meinen Gesichtsausdruck bemerkt hatte.
„Kommt nicht in meine Reichweite.“, sagte ich.
Damit war das Thema geklärt. War auch nicht so, dass uns auf die eine oder andere Weise langweilig geworden wäre...

Meine Stiefel knirschten im Schnee, als ich den gepflasterten Weg in die Innenstadt entlang strich. Die Läden waren von frischem Eistau bedeckt und funkelten in der warmen Mittagssonne.
Es hatte bereits vor zwei Stunden aufgehört zu schneien und den Himmel betrachtend... sah es auch nicht so aus, als würde der Schnee noch lange liegenbleiben.
Der Zug hatte uns mindestens eine Stunde Pause versprochen und Leandro und Ich hatten beschlossen, die Innenstadt zu erkunden.
Wir hatten uns an der alten Kirche getrennt, weil er keine Lust gehabt hatte, mit mir durch die Stadt zu bummeln.
So ganz genau, wusste ich auch nicht, was ich machen sollte. Geld hatte ich kaum oder zu wenig um mir etwas Nettes leisten zu können.
Ich seufzte bei dem Gedanken daran.
Gerne hätte ich mir jetzt etwas gegönnt. Gerade jetzt an meinem siebzehnten Geburtstag.
Letztes Jahr waren Lena und ich abends durch die Stadt gezogen.
Ohne Einwilligung von Bella und erst um zwei Uhr nachts wiedergekommen.
Wir hatten draußen übernachten müssen. Halb verfroren hatte uns Bella morgens ins Haus geholt.
Die Erkältung, die ich mir eingefangen hatte ging erst nach zwei Monaten wieder weg und Lena lag mit einer Lungenentzündung ebenfalls flach.

Trotzdem breitete sich ein leichtes Grinsen auf meinem Gesicht aus.
Lena und Ich waren Gesprächsthema Nummer Eins gewesen und Bella...
Nun ja, die überwachte das nächste halbe Jahr die Eingangstür wie ein Schlosshund, wenn wir das Haus abends verließen.
Als ich jetzt den Geruch von gebrannten Mandeln roch, lief mir das Wasser im Mund zusammen.
Würde ich nicht doch eine kleine Tüte kaufen können?
Am Stand bestellte ich mir schließlich doch Eine. (Mein Gott, ich hatte Geburtstag, ich durfte das!)
An unser Geld dachte ich dabei lieber nicht. Aber die Provision, die wir von Dorys erhalten hatten, hielten uns gut über Wasser.
Genüsslich ließ ich die karamellisierte Mandel auf meiner Zunge zergehen. Herrlich!
Dann aber steckte ich die Braune Tüte zurück in meine Tasche.
Ich würde mein kostbares Gut heute Abend mit Leandro verspeisen.
Ein Blick auf die Kirchturmuhr, wies mich diskret auf meinen Aufbruch hin.
Der Zug würde in zwanzig Minuten abfahren.
Ich machte mich auf den Weg.

Unser Wagon war schon erleuchtet, als ich den Flur zu unserem Abteil entlang schlenderte.
(Nanu? Ein Stromeinfall?!)
Leandro saß, Chuppie auf dem Schoß auf der Sitzbank und schien so vertieft in sein Buch, dass er mich nicht hörte, als ich die Wagontür aufschob.
Ich tippte ihm unauffällig auf die Schulter.
Mit einem erschrockenem Ruck fuhr er auf und zog im selben Moment ein Messer aus seiner Manteltasche, das er mir gegen die Brust hielt. Ich erschrak und stolperte einen Schritt rückwärts.
Erst eine Sekunde später warf er einen Blick zu mir herauf.
Als er mich sah, senkte er das Messer.
„Kannst du nicht anklopfen?“, murrte er.
Mein erschrockener Verstand schien noch nicht wieder in Vollfunktion zu sein.
Ich nickte. Mein trockener Mund war unfähig zu sprechen. „Arw...“, stammelte ich, bemüht meine Stimme wieder zu bekommen.
„Alles okay?“, fragte er mich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Ob alles okay war??? „Du hast mich gerade fast erstochen!“, schrie ich ihn an.
Unwillkürlich zuckte er zurück. „Tschuldigung, ich wusste nicht, dass du es bist.“
„Wer denn sonst?!“, rief ich aufgebracht.
Er rang hilflos mit den Händen. „Es war doch keine Absicht. Aber wenn es wirklich jemand anderes gewesen wäre...“ Seine grünen Augen suchten Meine.
Ich blickte weg. „Dir ist klar, dass eigentlich keine Leute in bewohnte Wagons steigen, um dich zu kidnappen, oder“?
„Ich war einfach erschrocken.“
„Deine Nerven spielen wohl zurzeit ein wenig verrückt?“
Er nickte zustimmend. „Ich bin immer ein wenig auf Spannung.“
„Und ob!“ Aber ich ließ das Thema fallen. Er hatte nur vorsichtig sein wollen.
„Ich hab uns gebrannte Mandeln gekauft.“, sagte ich stattdessen.
Er fuhr sich erleichtert durch die Haare und grinste. „Für mich?“
„Für uns Beide.“
„Oh.“ Er lugte neugierig auf meine Tasche.
Ich schob sein Gesicht beiseite und zog die braune Tüte hervor.
Gierig griff er danach und schaufelte sich gleich fünf Mandeln in den Mund. Ich zog ihm die Tüte aus der Hand. „Nicht, dass du erstickst.“
Er kaute genüsslich und schien mit sich und der Welt vollkommen zufrieden.
Ich nahm mir ebenfalls eine Mandel und schloss genießerisch die Augen.
„Achso, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“, sagte Leandro plötzlich.
„Was?“, machte ich und verschluckte vor Schreck meine Mandel. Ich hustete und er klopfte mir auf den Rücken. „Woher weißt du das?“
Er grinste und zog ein kleines rosa verpacktes Päckchen hinter seinem Rücken hervor. „Lena hat es mir gesagt.“
Ich betrachtete gerührt das kleine niedliche Paket. „Dankeschön!“, flüsterte ich.
Er hob verlegen die Schultern. „Keine Ursache. Ich hoffe es gefällt dir.“
Das silberne kleine Armband war perfekt.
Am Verschluss baumelte ein kleines silbernes Herzchen.
„Es ist wunderschön.“ Ich öffnete das kleine Kettchen und legte es mir ums Handgelenk. Es passte wie angegossen.
„Danke!“, sagte ich erneut und umarmte ihn heftig.
Auf seine Wangen legte sich eine verräterische Röte.
Wir verbrachten den Nachmittag mit Mandeln essen und quatschen über dies und jenes.
Auch war ein wenig aufgeregt: Schon morgen würden wir die Grenze zu Alaska erreichen und dann...


Als ich gerade abends vom Kiosk zurückkehrte, verkündeten die Lautsprecher eine halbstündige Pause.
„Und zieh dir etwas Schickes an.“, sagte Leandro, der mich soeben am Handgelenk in unseren Wagon gezogen hatte. Wir würden zur Feier des Tages etwas Trinken gehen.
Ich warf einen skeptischen Blick auf meine Anziehsachen-Auswahl. (Da konnte man sich ja kaum entscheiden!)
Das Einzige, das mir halbwegs vernünftig erschien, war mir mein blaues Top.
Ich hielt es in die Höhe. „Kann ich das anziehen?“, und blickte Leandro fragend an.
Er warf mir ein schiefes Grinsen zu. „Wenn du erfrieren willst.“
„Was soll ich sonst anziehen?“
Ein nachdenklicher Blick. „Willst du meine schwarze Strickjacke darüber ziehen?“
Ich nickte dankbar. „Meine Sachen riechen alle wie schon zwei Wochen getragen. Waren sie ja eigentlich auch... Wir sollten dringend einen Waschsalon suchen.“, verbesserte ich.
Leandro warf einen Blick in die milchige Scheibe der Wagontür.
„Du siehst gut aus.“, beruhigte ich ihn.
Er setzte sich auf die Sitzbank und zog mich neben sich. „Wir halten erst in zehn Minuten.“
Ich blickte abwartend aus dem Fenster, an dem der Sternenhimmel vorbeirauschte.
Es war seltsam zu wissen, dass die Sterne überall gleich waren. Unabhängig davon, ob ich nun in Boston, in Alaska oder in der Wüste war.
Ich war auch unendlich erleichtert, dass wir nun endlich in nun mehr weniger als einem Tag den letzten Zug nach Willow nehmen würden.
Insgeheim sehnte ich mich doch nach einem festen Zuhause und einem Ende des vielen Reisens.
Doch trotz aller Nörgelei musste ich zugeben, dass die Reise etwas Besonderes gewesen war.
Der schrille Piepton, der aus den Lautsprechern über unsere Tür kam, schreckte mich auf.
„Wir halten.“, bemerkte Leandro überflüssigerweise.
Ich hielt mich am Türgriff fest, als der Zug mit einem Ruck zum Stehen kam.
Dann zog mich Leandro am Handgelenk aus unserem Wagon.
„Ey!“, empörte ich mich, als er mich zwischen einem alten Ehepaar hindurch zog.
Die Frau fluchte und ich murmelte hastig eine Entschuldigung.
Erst draußen angekommen, ließ Leandro meine Hand wieder los.
„Hast du’s eilig?“, schnauzte ich ihn an.
„Wir haben nur eine halbe Stunde.“ Er zwinkerte mir zu.
„Ich hätte die Frau fast platt getrampelt!“
„Pfannekuchen.“
Ich kicherte unbeabsichtigt. „Du bist so...!“
„Ja?“ Amüsiert zog er die Augenbrauen hoch.
„Wir gehen jetzt!“, bestimmte ich und zog ihn eilig vom Zug weg.
Im Scheckentempo trottete er mir hinterher.
„Na, kommst du jetzt?“ Was sollte diese Masche denn schon wieder?
Erst so eilig aus dem Zug, dass ich fast alte Leute umbringe und jetzt gemächlichen Schrittes Richtung Stadt?
„Zur Stadt geht es links lang.“, sagte Leandro mit ruhiger Stimme.
„Bitte?“, machte ich, diejenige, die uns die ganze Zeit die Straße rechts lang geführt hatte.
Erst jetzt bemerkte auch ich, wie die Läden hier immer weniger wurden.
„Links lang.“, kommandierte ich und vertraute darauf, dass die Dunkelheit meine Röte verstecken würde.
„Du wirst rot.“, bemerkte er.
Ich sagte Nichts, ich nahm nur seine Hand.
Denn das hier war mein Geburtstag, mein Tag.

Das Café, in dem wir saßen war voll besetzt.
Von überall ertönte Stimmengewirr und Chuppie winselte ängstlich. Leandro strich ihr beruhigend über den Kopf.
Eine dunkelhäutige Frau mit Schürze kam auf unseren Tisch zu.
„Was kann ich ihnen bringen?“, fragte sie und musterte uns freundlich.
Leandro überlegte kurz und antwortete: „Zwei Radler.“
Kaum dass die Kellnerin verschwunden war, stieß ich ihm feste meinen Ellenbogen in die Rippen und zischte:
„Du weißt genau, dass wir auf der Zugfahrt nichts trinken sollten!“
„Mensch, Nanni, das ist dein siebzehnter Geburtstag!“ Meinen empörten Protestschrei ignorierte er. Ich schien ihm wirklich egal zu sein.
„Und wenn ich heute Nacht vom Zug springe, weil ich besoffen bin, dann war es auch mein Letzter!“, entgegnete ich.
„Nanni...“, sagte er entnervt. „Es ist doch nur ein Glas!“
„Du hast mich nicht gefragt!“ Lena wäre auf mein Fauchen richtig stolz gewesen.
Leandro verdrehte die Augen. „Es tut mir leid.“
In diesem Moment kam die Kellnerin mit unseren Gläsern wieder. Ohne ein Wort stellte sie das Tablett auf unserem Tisch ab und verschwand wieder.
„Also, stoßen wir an?“, fragte er mich.
Ich seufzte auf. „Ja, müssen wir ja wohl.“
Er lachte und blinzelte mich an. „Erst entführe ich dich und jetzt zwinge ich dich, zu trinken!“
Ich musste Lachen. „Du Gangster.“
Er hielt mir sein Glas entgegen und wir stießen an. Der Alkohol fühlte sich gut in meiner Kehle an.
Ich war nicht grundsätzlich gegen Alkohol. Ich war nur vorsichtiger als Andere.
Der Schaum hatte auf Leandros Lippe einen Ring hinterlassen. „Ich bin der Weihnachtsmann.“, nuschelte er belustigt.
„Du hörst dich an, wie ein betrunkener Weihnachtsmann, wenn du so nuschelst!“
Amüsiert nahm er noch einen tiefen Schluck aus dem Glas. „Bin ich ja gleich auch.“
„Wehe!“
Dann wurde sein Gesicht wieder ernst. „Bist du wegen deiner Mutter so vorsichtig?“
Ich hob unsicher die Schultern. So sicher war ich mir da selbst nicht. „Mag sein.“, antwortete ich deshalb. Er betrachtete mich noch einen Moment, sprach das Thema aber nicht wieder an.
Es tat mit leid, als wir nach zwanzig Minuten wieder aufbrechen mussten, doch der Zug würde keine Ausnahmen machen.
Leandro führte mich am Arm. - Nein, ich war nicht betrunken! und hielt in der anderen Hand Chuppines Leine.
Im Wagon fielen mir die Augen zu, kaum dass ich mich hingelegt hatte.
Und während der Alkohol noch meine Hirnzellen vernebelte, schlief ich traumlos ein.

Fort Franklin



Ich hätte nicht gedacht, dass der Morgen so schnell vergehen würde. Ich saß mit baumelnden Beinen auf dem leeren Freideck des Zuges LJ 130 und hielt die Nase in den kalten Wind.
Das Thermometer neben der Tür zeigte -3 Grad an.
Chuppie schien der stetige Wind zu missfallen- Den Kopf in den Pfoten vergraben lag sie neben mit wie eine Hunde-Statue.
Leandro hatte sich angeboten unsere Reisetasche startklar zu machen und mich für die letzte Stunde Zugfahrt nach draußen geschickt.
Ich trug meine Jacke und Seine darüber, trotzdem fror ich.
Plötzlich summte und vibrierte etwas in meiner Jackentasche. Erschrocken zuckte ich zusammen und zog das Handy aus der Manteltasche.
Es war Leandros Handy. Auf dem Display stand: Pablo Handy
Ich überlegte dranzugehen, als es zum dritten Mal klingelte. Die grüne Taste drückend, hielt ich mir den silbernen Apparat ans Ohr.
„Leandro?“, tönte eine kindliche Stimme aus dem Hörer.
„Ähm..“, machte ich. „Ich bin nicht...ich meine Leandro ist gerade nicht da.“
Knistern am anderen Ende der Leitung. „Was sagst du da?“
Ich hörte ihn Etwas rufen, dass sich anhörte, wie <Granny, schruck moj.>
Nanu? Sprachen alle in Alaska so komisch?! Der Hörer wurde weitergereicht.
„Währ ist da?“, fragte eine Frau mit alter müder Stimme.
„Ar.“, stammelte ich. „Ähm, hier spricht eine Freundin von Leandro.“
„Kannst du ihn uns weiterreichen?“
Ihn weiterreichen? „Ich bringe ihm sein Handy.“, murmelte ich hastig und versenkte das gute Stück in seiner Manteltasche.
Dann schnappte ich mir Chuppies Leine und flüchtete vom Deck Richtung unserem Abteil.
Als ich hereinplatze, schnürte er gerade den letzten Rucksack zu. „Nanni, ich hab doch gesagt, dass du...“, sagte er, bis er das Handy sah, das ich ihm entgegen hielt.
„Dein Bruder und deine... Granny.“, murmelte ich und drückte es ihm in die Hand.
Er schaute kurz auf den Display, dann hielt er sich das blaue Teil ans Ohr. „Granny, bist’e da?“
Ich schaute ihn verblüfft an. Scheinbar sprachen Leute in Alaska mit diesem komischen Akzent.
Wahrscheinlich hatte mich damals der seltsame Junge im ersten Zug auch so komisch angesehen. Ich sprach einfach anders.
Während aus seinem Handy unverstehbare Geräusche klangen, nickte er verständlich mit dem Kopf. Zwischendurch murmelte er ein halbherziges: Ja, Ok, Mh.
Dann legte er auf.
„Na, das ging aber schnell.“, bemerkte ich.
Er versenkte sein Handy in der Manteltasche. „In den Wettervorhersagen sind Schneestürme für morgen und übermorgen angesagt.“
Sein Blick wanderte ärgerlich durch den Raum.
„Wir können doch trotzdem fahren?“
Er ließ die Frage unbeantwortet im Raum stehen. „Wir haben noch eine Woche.“
Toll, das wusste ich auch so. An meiner Unterlippe nagend starrte ich ihn an.
„Wir schaffen es doch trotzdem?“, startete ich einen letzten Versuch.
„Könnte sein.“
Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer nach unten. Er war sich nicht sicher, das hörte ich.
Ich mir auch nicht. Und das Maß eines Schneesturms... wie hätte ich mir das denn vorstellen können?
„Wir halten.“, riss er mich endlich aus meinen Gedanken und griff nach unseren Reisetaschen, die verschnürt und verpackt schon in der Wagontür standen.
Da er sich unser Gepäck vornahm, griff ich dankbar nach Chuppines Leine und führte die blinde Hündin hinter Leandro her den Gang hinunter.
An der Tür stand eine ordentliche Menschenmasse, als wir uns hinten anstellten.
Ich war froh, dass ich keine Platzangst hatte. Chuppine wahrscheinlich schon. Ich betrachtete die Husky-Dame, die eingequetscht zwischen all den Beinen und Füßen winselnd um ihr Stück Stehplatz kämpfte.
Als die Türen geöffnet wurden, strömten die Massen sofort hinaus.
Mehr stolpernd als laufend gelangte ich nach draußen.

Wir liefen durch die Vorstadt von fort Franklin, während ich über unsere Pläne der nächsten Tage nachdachte.
Am Bahnhofschalter hatten wir von einem Zug erfahren, der morgen Abend auf eine Fahrt durch Alaska starten würde.
Ankunftsort gar nicht weit von Willow entfernt. Die Reise lief perfekt. Bis jetzt zumindest.
„Siehst du, da ist einer!“, rief Leandro und zog mich einmal quer über die Straße an den Passanten vorbei.
„Ui.“, staunte ich, als ich den Laden erblickte, dessen Schaufenster über und über mit Waffen vollgestellt war. „Und du bist sicher, das ist legal?“
Er schaute mich überrascht an. „Wir kaufen doch nur einen Bogen!“
„Nun ja.“, sagte ich. „Ist doch fast wie eine Pistole.“
Er grinste. „Du hattest noch nie einen Bogen in der Hand.“
„Ähm... Nein?“, riet ich.
„Merkt man.“ Er drückte die gläserne Ladentür auf.
Ein leises Klingeln ertönte, als wir eintraten.
Der Raum war klein und unordentlich und stickig und schlecht beleuchtet und...
„Kann ich euch helfen?“
Ich zuckte ein wenig zusammen, als mit einem Mal ein junger Man in den Zwanzigern hinter der Theke auftauchte.
Er trug Kaki-Shorts und ein orangenes T-Shirt und sah aus wie ein Surfer.
„Wir suchen einen Bogen.“, antwortete ich.
Seine Augen blitzen freundlich. „Welches Model?“
„Das...“ Mein Blick irrte hilfesuchend zu Leandro, der lässig grinsend im Türrahmen lehnte.
„Sie hatte noch nie einen Bogen in der Hand.“, entgegnete er dem jungen Mann.
„Oh.“, murmelte der Mann. „Interessant. Dann komm mal mit Kleine, ich zeige dir ein paar Modelle.“
Kleine?! Ich war fast genauso groß, wie er!
Aber ich folgte ihm nach hinten. Ich staunte nicht schlecht, als an einer Wand von mindestens sieben Meter Ausmaß alle möglichen Arten von Bogen in allen Größen und Farben hingen.
Er schien meinen Blick bemerkt zu haben. „Großartig, nicht?“
Ich blickte ihn betont gleichgültig an. „Interessant.“, sagte ich, seine dumme Stimme nachäffend.
Den immer noch dauergrinsenden Leandro ignorierte ich dabei.
„Darf ich mir einen Aussuchen?“, fragte ich.
„Klar, doch.“
Langsam ging ich die Reihe entlang. Es gab blaue Bögen und schwarzen Bögen und rote Bögen. Manche sahen aus wie von Indianern gefertigt- mit Federn und Perlen verziert.
Einige waren aus einfachem Hellen Holz und Andere trugen schmuckvolle Gravierungen.
„Was für Einen hast du?“, fragte ich Leandro, der mittlerweile hinter mich getreten war.
„Sag ich dir nicht.“, raunte er mir zu. „Ich will dich doch nicht beeinflussen.“
„Außerdem musst du sie sowieso erst mal ausprobieren!“, tönte Surfer-Man’s Stimme hinter mir.
Was hatte der Mann für Ohren?!
Willkürlich griff ich nach einem schwarzen Bogen, der zwei rote Federn trug.
„Wo kann ich ihn testen?“, fragte ich.
Der Surfer lachte. „Na hier drinnen wohl kaum.“
„Witzig.“, kommentierte ich.
Er zeigte auf die offenstehende Hintertür. „Dort entlang.“

Das Holz des Bogens wog scher in meiner Hand. Ich stand auf einer Rasenfläche, die sich bestimmt zehn Meter in die Länge, aber nur einen Meter in die Breite erstreckte.
„Der Rasen ist umzäunt.“, bemerkte ich. Wahrscheinlich um Natur- Talente, wie mich davon abzuhalten, wild durch die Gegend zu schießen.
Wie hielt man den so einen Bogen? Ungelenk griff ich nach dem dickeren Ende und warf es mir über die Schulter.
Gekicher hinter mir. „Weiß es einer besser?“, fauchte ich nach hinten.
„Allerdings.“, lachte Leandro. Gekicher vom Surfer.
Dann griff Leandro nach dem Bogen und stellte sich neben mich.
Nicht sehr angenehm, die Tatsache betrachtend, dass wir auf ungefähr zwei Meter Breite standen und ich... eineinhalb Meter davon einnahm.
„Du musst ihn so halten!“, wies er mich an und zeigte auf seine Hand.
Er hielt den Bogen mit Spannband zu sich (Falls es Spannband hieß) und hielt seine Finger fest um das untere dickere Ende umschlossen.
„Bekomme ich einen Pfeil?“, erkundigte er sich bei Surfer-Man.
Der Mann reichte ihm gleich drei Stück, alle schwarz und einen Meter lang.
Ich schauderte ein wenig. Wie leicht man jemandem das Teil in den Magen rammen konnte....
„Nanni?“, rief Leandro und schüttelte die Hand vor meinen Augen.
„Ich hab dich gesehen!“, rief ich und schlug seine Hand beiseite.
Mit einem lauten Krachen schepperte der Boden zur Erde.
Oh Shit! „Tut mir leid.“, murmelte ich und bückte mich nach dem im Gras liegendem Bogen.
Jetzt war auch Surfer-Man verstummt. Ich montierte das dicke Ende in der Linken Hand.
„Gut so.“, sagte Leandro. „Wenn du ihn so hältst, kannst du mit der rechten Hand jetzt den Pfeil nehmen...“ Er drückte mir einen schwarzen Pfeil in die Hand.
„Den Pfeil mit dem Band nach hinten ziehen?“, riet ich.
Aus den Augenwinkeln sah ich ihn nicken.
„Du musst die Pfeilspitze in die Einbuchtung des Nockpunktes stellen!“, rief Surfer mir zu.
Ich stellte die Pfeilspitze in die Einbuchtung vorne im Holz und spannte den Bogen.
„Kann ich schießen?“, fragte ich nervös. Meine Stimme zitterte ein wenig und auch meine Hände waren nasser, als ich es hätte gebrauchen können.
„Du kannst!“, antwortete er.
Ich spannte den Bogen weiter.
„3..... 2...“
Ich richtete die Pfeilspitze auf einen Blumentopf
„1.... 0....“
Und ich schoss.
Der Pfeil raste nach vorne und blieb mit einem leisen Plopp im Zaun hängen.
Nicht mein Ziel, aber doch ganz beachtlich, oder?
„Du hast ein Zauntier erlegt!“, kicherte Leandro hinter mir.
Ich warf einen schrägen Blick nach hinten.
„Versuch es noch einmal!“, wies mich Surfer an. „Und versuche DAS hier zu treffen!“
Bei seinen Worten holte er eine drei Meter große Plastikplane heraus und nagelte sie an den Zaun.
Ich strich mir eine nasse Haarsträne hinters Ohr und konzentrierte meinen Blick auf die Plane.
Dann legte ich den zweiten Pfeil ein, spannte den Bogen, richtete das Visier auf die Plane und...ließ los.
Der Pfeil sauste in hohem Bogen auf die Plane zu. Nur leider in zu hohem Bogen.
„Nicht schlecht.“, kommentierte Surfer und riss den Pfeil, der sein Ziel um nur sechs Meter verfehlt hatte, aus dem Zaun.
„Noch ein Zauntier!“, jubelte Leandro. „Da bekommt man ja richtig Hunger auf Abendbrot!“
Ich warf ihm einen bösen Blick zu.
„Als hättest du das beim ersten Mal besser gemacht!“
Er warf mir einen amüsierten Blick zu.
„Wenn du nicht besser triffst, können wir in Alaska nur auf Elefantenherden Jagt machen.“
Ersticktes Gekicher vom Surfer, der mir den letzten Pfeil reichte.
„Und wenn du nicht aufhörst so hysterisch zu kichern, kommen wir noch nicht einmal in die Nähe von Elefanten!“, rief ich empört aus.
Der Mann in Badeshorts neben mir lachte noch lauter. Fast wie ein Orang-Utan. Ich schüttelte mich. War ja gruselig was ich dachte.
„Gut gekontert, Kleine!“, lachte er. Kleine?! „Jetzt weiß ich, warum es nie jemand schafft, in Alaska Elefanten zu erlegen!“
Huch? Hatte ich etwas verpasst? Etwas pädophil blickte ich zu den zwei „Männern“, die sich mit dem Lachen gar nicht mehr einkriegen konnten.
„Elefanten... in..hahahaha...Alaska!“, japste Leandro.
Langsam dämmerte mir der Verdacht. In Alaska gab es gar keine Elefanten!
Während sich mein Freund immer noch unaufhaltsam kichernd den Bauch hielt, maschierte ich kurzerhand selbstständig in den Laden zurück.
An der Wand hingen noch mindestens sechzig andere Bögen, die ich noch nicht ausprobiert hatte.
Diesmal griff ich nach einem kleineren.
Er hatte eine helle Holzfärbung und wog deutlich leichter in der Hand, als mein Letzter.
Die Pfeile, die daneben hingen, nahm ich ebenfalls wieder mit nach draußen.
Leandro und Surfer schienen sich wieder beruhigt zu haben. Lediglich die roten Flecken des Verkäufers zeugten vom Gelächter.
„Na, einen Neuen ausgesucht?“, begrüßte er mich nun, als ich auf den Rasen trat.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich wollte einen Anderen ausprobieren.“
„Dann leg mal los.“ Ohne eine Grimasse zu ziehen, lehnte er sich an den Zaun und beobachtete mich, wie ich die Pfeile auseinander zog.
Ich nahm den Bogen in die linke Hand und zog mit der rechten Hand das Zugband samt eingespanntem Pfeil zurück.
„Du musst ihn auf Kinnhöhe halten.“, verbesserte mich Leandro.
„So?“ Ich hob den Bogen höher.
„Ja.“, antwortete er. „Und jetzt richte das Visier auf die rote Folie.“
Konzentriert richtete ich nun meinen Blick auf die Folie und dann wieder auf das Visier.
„3,2,1“, zählte ich und schoss.
Der Pfeil schoss davon. Deutlich schneller als die letzten Beiden und beschrieb eine flache Linie.
Mit einem reißendem Geräusch bohrte er sich in die Folie und zeriss diese mittig.
Einen Moment blieb ich noch stehen, dann riss mich mein eigener Jubelschrei aus der Starre.
„Getroffen!“, schrie ich und rannte die Rasenfläche zu meinem Ziel herunter.
Mit großen Schritten folgte mir der Surfer.
„Klasse gemacht!“, lobte er und streckte die Hand nach oben. Sollte ich ihm High Five geben?!
Als er mich auffordernd anblickte, schlug ich mit aller Kraft ein.
„Ah...Mist!“, stöhnte er, als er sich die schmerzende Hand hielt.
„Hat sie dich umgehauen, Dennis?“, lachte nun Leandro.
Der Typ hieß Dennis? Woher wusste Leandro das denn schon wieder?
Dennis nickte, während er immer noch die Hand festhielt. Weichei!
„Hat Kraft, wie ein Mann!“, sagte er.
„Das war das Adrenalin!“, mutmaßte ich.
„Definitiv zu viel!“
Leandro warf ihm einen fragenden Blick zu. „Es gibt Frauen, die haben schon Autos umgedreht, als das Baby drunter lag.“
Dennis grinste nervös und warf mir einen Seitenblick zu.
„Jetzt können wir wenigstens sicher sein, sie hat den Richtigen Bogen!“
Ehrlich?, dachte ich.
Leandro warf ebenfalls einen Blick auf den zierlichen Bogen.
„Sie sind sicher, er hält?“, fragte er den Verkäufer.
„Hundertpro!“
Langsam wagte ich ein Lächeln. Also hatte ich nun einen echten Bogen.
„Nanni.“, warf Leandro ein. „Und du bist sicher, dass der Bogen der Richtige ist?“
Ich nickte glücklich. „Ja!“
„Was kostet er?“ Mein Freund wandte sich an Dennis, den Surfer.
Ein nachdenklicher Blick. „Für euch nur 235.“
Ich hätte ihn gerne nach dem Originalpreis gefragt.


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Tag der Veröffentlichung: 08.04.2012

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