Ein Gewehrlauf zielte aus der Entfernung auf mich. Das letzte, was ich in meinem Leben sehen sollte, war eine kleiner Fleck in der Luft, welcher mich in wenigen Sekunden erreichte. Mein Körper starb, mein Geist erlisch. Lediglich der dritte Teil von mir, meine unsterbliche Seele, blieb in einem Meer aus widersprüchlichen Gefühlen, lauten Gedanken zurück. Nichts war, wie man es sich hätte vorstellen können. Die menschlichen Empfindungen waren ausgeschaltet. Ich konnte weder sehen, noch hören, riechen, schmecken, oder fühlen. Trotzdem wusste ich, was um mich herum vor ging. In einer Masse aus Wesen, welche meinem Zustand glichen, war ich Gefangener einer anderen Welt. Ich wusste, um mich herum waren Farben. Ich wusste, um mich herum waren Gerüche. Geräusche. Milliarden Sinneseindrücke. Und nichts davon wollte sich mir erschließen! Kochende Wut ließ meine Seele erzittern.
Mein Instinkt gab mir die Information, dass ich nun alleine sei. Sie waren vor mir geflohen. Oder hatte ich sie getötet? Hier war alles so merkwürdig, ich wusste nicht, was ich tun konnte. Ich wusste nicht einmal, was ich wusste. Ohne Sinne trieb mein Innerstes über diesen einen, unwirklichen, letzten Kontinent. Am Rande meiner Empfindungslosigkeit konnte ich eine stechende Kälte spüren. Ich wollte mich abwenden, doch wusste ich nicht, wie. Mir war nicht mehr klar, dass ich mich womöglich hätte bewegen können. Ich wehte Schutzlos, wie ein Blatt im Wind, auf die Quelle dieser Todeskälte zu.
Mein Leben war es am Ende jedoch nicht, welches an mir vorbei zog. Es waren die Leben aller anderen, die noch in Körper, Geist und Seele vereint waren. Ich sah die Lebenswege der Menschen. Ohne es zu merken, pickte ich mir oft einzelne Stränge aus dem ganzen heraus. Da war ein kleines Mädchen. Sie lag in einem großen Bett, an ihrer Seite saß ein Mann und schien ihr vorzulesen. Sie lächelte zufrieden. Plötzlich wurde die Szenerie dunkler. Ich konnte noch erkennen, wie der Mann das Buch fallen ließ und das kleine Mädchen schüttelte. Eine Präsenz streifte mein Bewusstsein. Eins der Wesen war wieder da und beobachtete, was ich sah. Eine unausgesprochene Frage lag im Raum, doch ich hatte vergessen, was sprechen bedeutete.
Wie ein kalter Hauch fegte ein Gefühl über meine Seele hinweg, etwas wie Angst. Es war das Gefühl, dieses anderen. In mir wusste ich, was es sagen wollte. „Das... war ich. Du hast gesehen, wie mein Leben endete. Was bist du?“ Die Seele des Mädchens war also zu mir gelangt. In mir keimte Verzweiflung. Ich wollte doch mit ihr reden! Aber... wie?
Als meine Seele zu zittern begann und die Panik größer wurde, formte sich ein Wort in mir. Ich konnte es zu ihr senden, ein Flüstern in einem nicht existenten Wind. „Ich...“ Die Anstrengung war ohne gleichen. Doch ich musste weiter machen. „Ich... bin.. wie.. Du.“ Ein Glücksgefühl, wie ich es noch nie erlebt hatte, durchströmte mein Wesen. Sprache.
Wieder spürte ich die Angst der anderen. Wie ein Scheinwerfer durchleuchtete ihre Wahrnehmung mich. Ich konnte ihre Angst sehen, obwohl ich Blind war. Ich besaß Wissen, obwohl ich ohne Gedanken war. Ich konnte fühlen, obwohl ich nicht existieren konnte. Die Worte kamen mir nun leichter vor. „Du bist gestorben. Dein Weg ist noch nicht zu ende. Geh weiter.“ Ich pflanzte die Worte in ihren Geist. Erkennen blitzte in ihrer Seele auf. Sie verstand. Wieder spürte ich, wie ich allein war. Die Stränge erschienen, ich pflückte mir einen heraus. Ein junger Mann in seinem Wagen. Ein eingeschlafener Fernfahrer. Zusammenstoß auf der Straße. In einem Feuerball ließen beide Körper und Geist zurück und traten vor mich, als Seelen. „Ihr seid gestorben. Euer Weg ist noch nicht zu ende. Geht weiter.“
Sie verschwanden im nichts. Ich wusste nun, was ich war. Mein Leben hatte geendet, doch mein Weg war noch nicht zu ende. Ich ging jedoch nicht weiter. Meine Aufgabe war es, jene, die mir glichen, zu leiten. Ich bin der Fährmann. Du, der du meine Geschichte nun kennst, tritt in aller Ruhe vor mein Seelenfeuer. Ich leiste dir Gesellschaft. Dann gehst du Weiter. Wie jeder. Vor dem Fährmann sind alle Menschen gleich.
Tag der Veröffentlichung: 12.11.2009
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