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16. Juni 1952
<Noel>



Es stürmte, als ein Schrei das Trommeln des Regens durchbrach.
In einer kleinen Kammer unter dem Dach des Wirtshauses lag Rosalyn. Verwühlte blutige Laken, eine Schüssel mit heißem Wasser, Handtücher...Die Hebamme kümmerte sich aufopferungsvoll um die Fremde, die heute zum ersten mal das Dorf besuchte. Etwas war anders an ihr, das merkte auch Celine, die Wirtstochter. Doch war dies eindeutig der falsche Moment herauszufinden was es war.
Celine war mit ihren 21 Jahren die jüngste Tochter des Wirtes und wohnte als einzige ihrer Geschwister noch zu Hause. Nachdem ihre Mutter vor 2 Jahren gestorben war, kümmerte sie sich um das leibliche Wohl der Gäste, als auch dem ihres Vaters. Jaques Molard wuchs schon in dieser Gaststätte auf, die in seiner Familie von Generation zu Generation weitervererbt wurde, so wie er sie eines Tages seinem Ältesten vermachen wird.Er kannte alle im Dorf, von den Ältesten bis zu den Jüngsten. Immer war er ein liebevoller Vater und Ehemann gewesen, doch den Tod seiner Frau hat er nie richtig überwunden. Erst als er unten die Schreie des Neugeborenen hörte, regte sich etwas in ihm. Langsam stieg er die Stufen zur Dachkammer hinauf, in der Hoffnung einen Blick auf den neuen Erdenbürger werfen zu können. Im Flur traf er auf Celine.
"Hast du es gehört Vater? Es wurde wieder Leben geschenkt."
Erfreut blickte Celine ihren Vater an. Und auch wenn er mit seinem üblichen, brummigen "Hmm!" antwortete, bemerkte sie die Neugierde ihres Vaters.
Gemeinsam erklommen sie die Treppe bis sie vor der Tür zur Kammer standen. Etwas stimmte nicht, ganz und garnicht. Das Babygeschrei war verebbt und auch kein weiteren Geräusche waren wahrzunehmen.
"Vater, meinst du es geht ihnen gut?" Zweifel schwang in Celines Stimme mit.
"Wir werden sehn mein Kind...wir werden sehn!" entgegnete er mit eben denselben Befürchtungen, die auch seine Tochter quälten.
Langsam öffneten sie die Tür und erschreckten über den Anblick der sich ihnen bot. Die Laken, die Wände, der Boden...alles war über und über mit Blut verschmiert. Die Hebamme lag mit ihren vor Schreck weit aufgerissenen Augen neben dem Bett. Ihr Kleid war ebenfalls blutverschmiert und wies eigenartige Risse auf. Celine war starr vor Angst, wohingegen ihr Vater eilig den Raum durchquerte. "Sie ist tot!" entgegnete er leise auf Celines fragenden Blick.
Er suchte das Zimmer mit seinen Blicken ab, schaute aus dem offenen Fenster. "Die Frau ist weg." murmelte er mehr zu sich selbst. Als Celine ihre Stimme wiederfand, war sie den Tränen nahe "Was ist hier nur passiert?Die Hebamme...die Frau...das Kind..."
Plötzlich erklang ein leises Geblubbel aus der hintersten Ecke des Raumes. Vorsichtig versuchten die beiden einen Blick auf den Urprung dieses Geräusches zu erhaschen.
Liebevoll in Decken eingewickelt, mit zwei Briefen in den Arm gelegt, wachte das Baby gerade auf. Sanft hob Celine das Kind aus seiner schmächlichen Unterkunft und wiegte es in ihren Armen. Sie reichte Jaques die Briefe...

Der erste war an den Wirt:

Sein Name ist Noel.
Liebt ihn wie ich ihn lieben würde, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte.
Zwar bricht mein Herz bei dem Gedanken meinen süßen Sohn nie wieder zu sehen, dennoch würde es mich mehr schmerzen ihn leiden zu sehen.
Bitte kümmert euch um ihn, er wird sich eurer Liebe als würdig erweisen...
In ewiger Dankbarkeit
Roselyn

Celine und ihr Vater schauten einander stillschweigend an...ihre Blicke sagten mehr, als sie in der Lage gewesen wären auszusprechen.
Der zweite Brief war an Noel gerichtet und datiert auf den 16. Juni 1968. Seinen 16. Geburtstag!

"Ich werde mich um ihn kümmern Vater, werde ihn aufziehen wie meinen eigenen Sohn. Ich werde ihm die Liebe geben, die seine Mutter ihm nicht entgegenbringt und ihn behüten wie meinen Augapfel. Er wird zu einem stattlichen jungen Mann heranwachsen. Elegant, charmant, höflich, fleißig und mutig. Ich erbitte deine Unterstützung Vater, alleine schaffe ich es nicht!"
Als Jaques in die Augen seiner Tochter blickte, merkte er wie ernst es ihr damit war. Sie war den blauen Augen und den hübschen Grübchen ergeben, die das kleine Gesicht zierten.
"Alles werde ich für dich tun mein Kind und wann immer du Hilfe benötist, werde ich dir zur Seite stehen."
"Ich danke dir, ich danke dir von ganzem Herzen. Aber wie meinst du wird Claude darauf reagieren?" fragte sie unsicher.
Claude, Celines fast Ehemann und Stammgast im Wirtshaus, war zwar nett möchte man sagen, war aber auch der Meinung die ganze Welt würde sich nur um ihn drehen. Ein Wunder, dass es in dieser Welt überhaupt einen Platz für Celine gab.
"Er ist sowieso nicht der Richtige für dich. Nie schätzt er dich wirklich. Du bist so liebevoll und großzügig, auf Händen solltest du getragen werden, ebenso geliebt werden, wie du liebst. Sollte er deine Entscheidung nicht akzeptieren, so lass ihn ziehen." entgegnete Jaques aufgebracht. Seine Augen hatten sich verfinstert, seine Fäuste geballt.
"Wie sollten jetzt die Polizei rufen!" presste er gerade noch hervor, bevor er sich weiter aufregte.


<Claude>



Am späten Nachmittag machte er sich wie üblich auf den Weg zur Schenke. Der Wirt empfing ihn mit einem hastigen Blick und brachte ihm sein Bier. Das erste von einer Unzahl an Bieren, die Claude über den Abend hinweg trank.
Leise schlüpft Jaques durch die Hintertür und stackst die Treppe zum Zimmer seiner Tochter hinauf.
"Er ist da..." sagte er, während er die Tür öffnete.
Celine ging hinüber zum Bettchen um nach dem Kleinen zu schauen. Seelenruhig lag er dort und schlief.
Leise schloss sie die Tür hinter sich, gefasst auf einen Streit mit anschließender, hinreißender Versöhnung. Sie kannte Claude, wusste, dass er ihr einen Fehltritt nie lange übel nahm. Auf dem Weg nach unten, versuchte sie sich die Worte für das Gespräch zurückzulegen, Argumente für jegliche Art von Einwänden zu sammeln.

Er saß dort wie immer in der hintersten Ecke des Raumes. Für andere kaum sichtbar, aber von dort hatte man den besten Überblick. Langsam ging sie auf ihn zu, küsste ihn zaghaft und setzte sich.
"Claude, hast du schon von dem heutigen Ereignis gehört?" fragte sie interessiert.
"Ja, es lief in allen Nachrichten. Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist. Was war das für eine Irre? Was hat sie hier gemacht?"
"Sie war neu hier im Ort, gestern erst angereist. Als erstes suchte sie dann Marie, die Hebamme auf und bestellte sie für heute hierher...Im Prinzip komisch, denn woher hätte sie wissen sollen, dass sie heute gebärt?!"
"Sie hat ein Kind bekommen? Heute? Und dann bringt sie die Hebamme um und flieht?" fragte er verdutzt.
"Ja so sieht es wohl aus..." erwiderte sie.
"Also die hat se nicht mehr alle..." stellte er fest.
"Jetzt wo du die Geschichte kennst, muss ich mit dir reden....aber bitte lass mich ausreden und überlege gut bevor du antwortest, okay?!"
Mit einem Nicken stimmte er zu und so erzählte Celine ihm von Noah, dem Brief und ihrem Vorhaben. Sobald sie geendet hatte, erwartete sie riesiges Geschrei und Wut, doch nichts dergleichen geschah.
Nach minutenlangem Schweigen und Anstarren brachte Claude schließlich nur ein gepresstes "Nein!" über die Lippen. Schock breitete sich auf Celines Gesicht aus, alle Farbe entwich.
"Aber Claude, warum nicht? Er ist so süß, schau ihn dir doch ersteinmal an, bevor du vorschnell urteilst." bettelte sie.
"Keine Diskussion. Nein! Du hast die Wahl, entweder er oder ich." stellte er sie vor die Wahl.
Celine war verzweifelt, wusste nicht, warum er so reagierte. Es handelte sich doch nur um ein Kind. Mit den Worten "Du hast bis morgen Zeit, um dich zu entscheiden!" verließ er wütend den Laden.
Von einem auf den anderen Moment, waren Celines Gedanken klar,wenn auch sie nicht wusste ob sie aus eigenem Antrieb handelte, lief sie Claude hinterher und holte ihn auf der Straße noch ein.
"Wenn du mich vor die Wahl stellst, dann entscheide ich mich für ihn! Solltest du dich doch noch anders entscheiden...du weißt wo ich wohne." kam es ihr aus dem Mund geschossen. Sofort machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zurück.

Claude schaute ihr unglücklich hinterher. Hatte er wirklich richtig gehandelt? Nie wäre er davon ausgegangen, sie würde sich für das Kind entscheiden. Aber wenn das ihre Entscheidung war, konnte er nichts mehr ändern. Er konnte nur bleiben, weil er für sie an erster Stelle stand. Nun musste er gehn. Sich seinem Schicksal nun stellen und seine Niederlage eingestehen...

Celines Gedanken waren wirr. Hatte sie es ihm gerade wirklich gesagt? Er würde nicht zurück kommen, dass wusste sie genau, nachdem sie den Ausdruck in seinen Augen gesehen hat. Diese leere und diesen Hass in den ihr eigentlich so vertrauten Augen. Die Gesichtzüge, verhärtet und angespannt. Die Hände zu Fäusten geballt. Noch nie hatte sie ihn so gesehen, doch dieses Bild würde für ewig in ihr Gedächtnis eingemeißelt sein.
Sie hätte sich gewünscht er würde sie in den Arm nehmen. Ihr sagen, dass alles gut wird. Dass sie das Kind wie ihr eigenes großziehen würden und vielleicht noch ein oder zwei Kinder dazubekommen. Nach der Hochzeit würde dann auch das Kind seinen Namen tragen, damit nie jemand daran zweifeln könnte, dass es zu ihnen gehört. Nun aber saß sie dort, den kleinen Noel im Arm liegend, wippte im Schaukelstuhl auf und ab und weinte stille Tränen.

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Tag der Veröffentlichung: 23.04.2010

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