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Der Vorraum




Er fühlt nur Einsamkeit tief in sich. Obwohl er hier im Wartesaal nicht allein war. Verstohlen blickte er sich um und suchte in den Gesichtern der Anderen nach irgendeiner Gefühlsregung. Sie starrten vor sich hin. Von jedem von ihnen ging der gleiche Geruch aus.

Er konnte sie riechen. Ihre Ausdünstungen erzeugten ein beklemmendes Gefühl, nicht greifbar aber omnipräsent. Aus den Augenwinkeln musterte er den Raum. Die kahlen Wände wirkten fast schon steril und auch der Fußboden bot keinerlei Abwechslung. Künstliches Licht aus einer Neonröhre beleuchtete kalt die gespenstisch stille Szenerie.

Zwei Türen lagen genau parallel, links und rechts von ihm. Ein Weg rein, ein Weg raus und dann? Seit er wartete waren schon mehrere von den Anderen durch die rechte Tür verschwunden und die leeren Plätze waren durch Neuankömmlinge aus der linken Tür wieder besetzt worden. Doch zurückgekehrt war bisher keiner.

Ungewissheit stieg in ihm auf. Die vermeintliche Sicherheit des eigenen Gemachs, getauscht gegen die saubere Unsicherheit dieses Wartesaals. Gegen seinen Willen aus dem gewohnten Umfeld entrissen und in diesen symmetrischen, ungastlichen Ort verbracht.

Noch war ihm der Zweck nicht bewusst. Er hatte davon gehört. Es wurde darüber getuschelt, auf den Straßen. Hinter vorgehaltener Hand gab es Gerüchte über die Vorhallen des Martyriums. Ein schrecklicher Gedanke stieg in ihm auf. Würde er die zermarternde Einsamkeit der Anonymität des Wartesaals gegen einen namenlosen Schrecken hinter der grauenhaft wartenden Tür zu seiner Rechten tauschen?

Die Beklemmung wuchs von Sekunde zu Sekunde. Seit SIE an der Macht waren gab es Gesetze und Verordnungen. SIE hatten neue Regeln bestimmt, nach denen nun jeder spielen musste. Panisch überlegte er, ob irgendetwas in seinem Verhalten zu einer Anomalie geführt hatte, was er falsches gesagt oder nur gedacht hatte. Ob er SIE irgendwie verärgert hatte.

Leere breitete sich in seinem Kopf aus. Er fühlt das seine Handflächen kalt und feucht waren und auch auf seiner Stirn der kalte Schweiß stand. Krampfhaft starrte er nun auch vor sich auf den Boden. Er der so mutig und freigeistig eben noch durch den Raum geschweift war, blickte besiegt zu Boden. Wartete er seit ein paar Minuten oder gar schon Stunden? Er wusste es nicht mehr.

Als SIE an die Macht kamen gab es einige Träumer und Romantiker, die predigten, dass nun alles besser würde. Man würde in der Gemeinschaft aufgehen und das Gemeinwohl würde im Vordergrund stehen. Dann kamen die Gesetze und mit ihnen einige kleinere Aufstände. Doch auch dafür hatten SIE eine Lösung. Brot und Spiele für den Menschen. Brot und Spiele und Pharmakon.

Pharmakon beruhigte den Menschen und machte ihn gefügig und empfänglich für ihre Botschaft der Symbiose. Die Wertlosigkeit des Einzelnen und die Macht, die der Schwarm barg. Auch ihr rigoroses Verfahren mit Abweichlern, Exzentrikern und Einzelgängern war Teil der wagen Gerüchte, die gleich einem dichten und undurchdringlichen Nebel durch die Straßen zogen. Den Blick auf alles was sie umhüllten verbergend waren sie allgegenwärtig und niemand konnte wirklich sagen, was wahr oder falsch war.

Er hatte gemerkt wie unter all diesen Einflüssen er sich immer mehr auflöste. Wie er sich vergaß und immer mehr im Ganzen verschwand. Im Sumpf der Masse, eingegliedert in eine gesichtslose Karawane von fleißigen Arbeitern.

Er schloss kurz die Augen um sich zu konzentrieren. Als er sie öffnete war er immer noch im Wartesaal. Er versuchte zu schreien, doch seine Stimme versagte. Seine Hände begannen zu zittern und das Gefühl langsam zu ertrinken stieg in ihm auf. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Das Gefühl sich nun vollständig zu verlieren, der eigenen Identität beraubt zu sein mischte sich unter die blanke Panik die nun in seinem Inneren tobte. Er wollte aufstehen, doch seine Beine versagten ihm den Dienst. Er musste würgen.

Sein Mund war ausgetrocknet und seine Zunge klebte an seinem Gaumen fest. Der fahle Geschmack erzeugte bei ihm Übelkeit. Dazu kam ein bestialischer Gestank. Der Gestank, den die Anderen ausströmten. Es roch nach Entsetzen. Sein Herzschlag war so gewaltig, dass er Angst hatte es würde jeden Moment aus seiner Brust ins Frei brechen.

Dann auf einmal Ruhe. Messerscharf arbeitete sein Verstand und ihm wurde eins klar. Er war die Anderen. Er hörte ihre Gedanken. Er spürte ihren Herzschlag. Er atmete ihre Luft. Seine erbarmungslose Angst war bedeutungslos geworden. Er war bedeutungslos geworden.

Grausam und doch so einfach und klar schien die Trivialität seines Daseins als unumstößliche Wahrheit sein Bewusstsein zu durchfluten. Seine Hand hatte aufgehört zu zittern und er erhob sich. Kurz taumelte er und drohte den sicheren Stand zu verlieren, dann ging er durch die Tür.

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Tag der Veröffentlichung: 08.12.2012

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