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Prolog



Can you see the shiny stars in the black velvet sky? The sky seems like a black hole. Mysterious and beautiful, but also cruel...



Das erste Mal begegnete ich ihm unter dem klaren, nächtlichen Himmelszelt.
Der Himmel schien diamantenbestickter Samt zu sein. Die Sterne funkelten heller als in jeder anderen Nacht, die ich miterleben durfte. Wie tausende kleine, wunderhübsche Edelsteinchen.
Das Zirpen der Grillen und das leise Rascheln der Blätter, wenn der Wind sanft durch sie strich, trug zu der Melodie der Nacht bei. Irgendwo in der Ferne plätscherte Wasser, das in verschlungenen Bächen durch den Wald floss und sich somit seinen Weg bahnte. Ein einsames Käuzchen hockte in einem Baum, auf einem dicken Ast und gab leise Rufe von sich. Als ihm niemand antwortete, flatterte es davon. Ich konnte die Berührung der Flügel mit der Luft noch lange nachhallen hören. Diese Nacht war einfach zu still.
Ich sah hinauf in den Himmel, direkt in den hellen Vollmond hinein, der schützend über die Erde wachte. Seine Krater waren durch die Entfernung nur sehr schwer zu erkennen. Aber meine Sehkraft reichte aus, die Umrisse sehen zu können. Rechts und links neben mir sah ich die Baumwipfel der höheren Bäume, die sich leicht im zarten Wind hin- und her schwangen. Ich schloss die Augen und sog den guten Geruch des Waldes ein. Es war ein würziger, feuchter, erdiger Duft, der meinem Geruchssinn schmeichelte. Wunderbar.
Leise setzte ich einen Fuß vor den anderen, schlich mich durch das Dickicht. So sehr ich mich auch bemühte, man konnte die Schritte hören, wie sie kaum hörbar über den Steinen, Stöcken und Gewächsen knirschten. Trotzdem setzte ich meinen Weg fort. Äste kratzten durch mein Gesicht und ein kleiner Fluch huschte mir über die Lippen. Farne streichelten zärtlich über meine Wangen. Eine Haarsträhne hing mir ins Gesicht.
Die Luft war weder warm noch kalt. Sie lag frisch auf meiner Haut. Die Luft schmeckte nach Erde und Wasser, nach Farnen und Waldpilzen.
Dunkelheit umhüllte mich schützend, tauchte alles in Schwärze. Ich musste mich anstrengen, nirgendwo hängen zu bleiben. Nur Umrisse konnte ich noch sehen, es sei denn, ich blickte gen Himmel.
Plötzlich hörte ich eine leise Stimme, flüsternd.
Aufeinmal begann ich am ganzen Körper zu zittern, hefitg und unkontrollierbar. Ich konnte nichts dagegen tun, es war einfach da. Und ich wusste, dass diese Stimme die Ursahce dafür war.
Warum sollte ich Angst vor einer Stimme haben? Vor einem Menschen? Meinesgleichen?
Wieder ertönte ein Flüstern in der Nacht. Kleine, eiskalte Schauer jagten mir über den Rücken. Jeder Muskel meines Körpers war angespannt. Mein Herz schlug mir hart und schnell gegen die Brust. Mein Instinkt sagte mir, ich solle laufen. Laufen und mich nicht umdrehen.
Ich überlegte.
Wer suchte nachts etwas im Wald, außer mir? Wer konnte das schon sein? Ein Jäger? Ein verirrter Mensch? Oder doch ein Mörder und Räuber?
Als ich mich schließlich doch dafür entschied, zu rennen, war es bereits zu spät.
Hinter mir ertönten Schritte, ich konnte sie ganz deutlich hören. Sie waren gleichmäßig und kaum hörbar, sie klangen anders als meine. Was nun?
Mein Zittern wurde stärker.
Ängstlich schlang ich mir die schlanken Arme um den Oberkörper, um mich vor dem zu schützen, was da hinter mir war. Ich schloss meine Augen fest. Sollte ich schreien? Nein. Es würde mir nicht helfen, es war nun mal zu spät.
Jemand legte seine Hand auf meine Schulter.
Ein hoher, panischer Schrei entschlüpfte meinen Lippen. Mein Gehirn schaltete sich aus. Es war, als steuere eine unbekannte Macht meinen Körper. Ich riss mich von dem Fremden los und rannte. Rannte um mein Leben. Floh vor dem, was da hinter mir war.
Aber was war da hinter mir? Die Hand auf meiner Schulter war die eines Menschen gewesen, das hatte ich ganz genau gespürt. Warum rannte ich vor einem Menschen um mein Leben? Er hatte mir doch nichts tun wollen, oder?
Alles war mir egal. Denn eine innere Stimme sagte mir, ich solle rennen. Sie war schwach und tief in mir verborgen, aber sie war da.
Und ich tat, was sie mir sagte.
Er oder sie rannte hinter mir her, das hörte ich deutlich. Was sollte das?
Der Fremde war schneller. Viel schneller. Die Stimme sagte etwas, und jetzt war ich mir sicher, dass mein Verfolger männlich war.
So eine Stimme hatte ich noch nie gehört. Sie war so anders. Wunderschön, nicht tief, nicht hoch. Einfach nur so schön, dass sich die Härchen auf meinen Armen aufstellten.
In diesem Moment passierte es.
Mein Fuß trat ins Leere, mein anderer folgte sofort. Nein!
Mein lauter, gellender, ängstlicher Schrei erfüllte die Umgebung.
Ich fiel nicht. Etwas kaltes kroch an meinen Füßen empor. Erst jetzt verstand ich.
Wasser.
Ich war im Wasser gelandet.
Es hüllte mich kalt ein, mein Zittern wurde stärker. Von Boden unter meinen Füßen war nichts zu spüren. Das Wasser verschlang mich, riss mich mit sich, wer wusste, wohin.
Aber ich hatte meinen Verfolger abgehängt.
Ich kämpfte mit der Bewusstlosigkeit, verdrängte sie und blieb wach. Bis das Rauschen des Wassers ruhiger wurde und mein Kopf auftauchte. Eine Hand schloss sich um mein Handgelenk. Ich wurde an Land gezogen und sofort war da wieder diese Panik. Mein Verfolger war noch da. Und er war besser, als ich mir je erträumt hatte.
Mein Körper wurde auf die Erde gelegt. Wieder schlang ich meine Arme um mich, rieb meine Arme und Beine. Es half nichts. Es war so kalt...
Ich versuchte, meine Augen zu öffnen, blinzelte gegen die Nässe an meinen Wimpern an und schaffte es. Ich lag umringt von Moosen und Farnen. An meinem Kopf befand sich ein Baum. Etwas krabbelte über meine Finger.
Ein Gesicht, wie ich noch nie eines gesehen hatte, erschien vor meinem. Schwarze große Augen mit langen und dichten Wimpern schauten mir entgegen. Das Haar war genauso schwarz wie die Augen. Die Haut wirkte im fahlen Mondlicht silbern. Die Lippen waren sanft geschwungen und nicht voll, nicht schmal. Die Nase war gerade, leicht kindlich, sie passte perfekt zu dem Jungen, der mir ins Gesicht sah. Silberne Ornamente schimmerten an seiner Schläfe.
Er öffnete die sinnlichen Lippen, langsam, ganz langsam. Er schien nach Worten zu suchen und als er sie endlich gefunden hatte, fragte er mit seiner wunderbaren Stimme:
»Möchtest du sterben?«


Eins



Life can change quickly.



Ich breitete mich auf dem Rücksitz unseres Wagens aus und verschränkte wütend die Arme vor der Brust. Warum hassten mich meine Eltern so sehr?
Mein Knie stieß an das meines kleinen Bruders, der sofort genervt nach Luft schnappte.
»Daaad! Wärst du so nett, Abby zu sagen, sie soll aufhören, mich zu ärgern?«, stieß er verärgert zwischen den Zähnen hervor.
»Kleine Petze!«, zischte ich ihm leise zu.
Dad warf einen Blick durch den Rückspiegel. Dann sagte er:
»Abigail, hör bitte auf, deinen Bruder zu ärgern.«
Mein Mund klappte auf. Dad hatte schon wieder zu ihm gehalten, obwohl er noch nicht einmal bezeugen konnte, dass ich ihm tatsächlich etwas getan hatte!
»Aber Dad, ich...«, begann ich.
»Nein, Abby! Bitte beherrsche dich nur einmal! Ich kann jetzt nicht auf euch beide achten, ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren!«
Mit diesen Worten richtete er seinen Blick wieder auf die Straße. Ich warf Jamie einen äußerst genervten Blick zu. Er grinste mich hämisch an. Kleine Brüder waren schlimm und ich besaß gleich zwei davon.
Naja, einer war eigentlich gar nicht so schrecklich. Das war Quirin, der es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich gemacht hatte. Er war nicht mit uns verwandt, und das war warscheinlich auch der Hauptgrund dafür, dass wir uns ganz gut verstanden. Meine Eltern hatten ihn vor genau zwölf Jahren adoptiert, da war er gerade mal zweieinhalb gewesen. Nun ja, vielleicht lag das aber auch nur daran, dass wir nur eineinhalb Jahre auseinander waren.
Wir hatten uns, bevor wir losgefahren waren, um den Beifahrersitz gestritten, aber das war eher freundschaftlich gewesen. Quirin hatte gewonnen, wie man bemerkte.
Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie das Meer an uns vorbeizog. Dad fuhr schnell. Er wollte so früh wie möglich am Flughafen sein, damit wir unseren Flug nach Deutschland nicht verpassten.
Deutschland. Wie grausam!
Hier in Alabama lebten wir am Meer und konnten das gute Wetter und das Wasser genießen, aber nein, mein Vater wollte unbedingt mal nach Deutschland fahren. Was sollte das nur? Wir würden sowieso keinen Ton verstehen! Und ich musste meine ganzen Freunde hier zurücklassen, die alle in Alabama bleiben würden, während wir nach Deutschland flogen! Was fand Dad nur an diesem Land?
Er schien meinen düsteren Blick bemerkt zu haben und sagte tröstlich:
»Ach Abby, jetzt zieh doch nicht so ein Gesicht! Es wird bestimmt schön dort! Denk nur an die vielen Kanäle und Bäche, an die Wälder, die Natur...«
Nein, daran wollte ich ganz sicher nicht denken. Hier in Alabama gab es auch schöne Wälder und Bäche. Wäre ich doch nur bei Mom geblieben...! Aber nein, Quirin hatte mich unbedingt überreden müssen.
Ich stieß mein Knie in seinen Rücksitz. Er zuckte leicht zusammen und drehte sich zu mir herum.
»Man, Abby! Ich wäre beinahe eingeschlafen!«, beschwerte er sich.
»Warum hast du mich überredet?«, flüsterte ich.
Er grinste mich mit seinen strahlend weißen Zähnen an.
»Weil es ohne dich langweilig wäre. Oder denkst du, ich will, dass Jamie mich die ganze Zeit alleine nervt? Wenn du dabei bist, nervt er wenigstens uns beide. Geteiltes Leid ist halbes Leid.«, flüsterte er mit einem kaum wahrnehmbaren Akzent zurück.
In seinen Adern floss türkisches, griechisches, russisches und Tcheschisches Blut. Er hatte das Glück gehabt, einen Russen zum besten Freund zu haben, der auch mit ihm Russisch sprach. Deshalb war ihm diese Sprache erhalten geblieben. Er sprach sie regelmäßig und wenn ich ihn fragte, ob er nun besser Russisch oder Amerikanisch sprechen konnte, antwortete er stets mit Russisch. Das war seltsam, denn sein Amerikanisch war perfekt. Nur eben einen leichten Akzent konnte man heraushören, und selbst der war nur sehr schwach.
»Das war die schlechteste Ausrede, die du dir jemals einfallen lassen hast.«, erwiederte ich.
Er grinste mich nun noch mehr an.
Seine dunkelbraunen Haare standen in alle Richtungen ab. Man sah, dass er versucht hatte, zu schlafen. Sein dunkelbraunes, mittellanges Haar war dünn und fein, und wenn man mit der Hand durch es fuhr, fiel es nicht dorthin zurück, wo es gelegen hatte. Damit konnte man ihn hervorragend ärgern.
Seine dunkelbraunen Augen guckten mich belustigt an. Sie waren mit unglaublich langen, schwarzen, dichten Wimpern umrandet, die an den äußeren Augenwinkeln sanft nach oben gebogen waren. Seine Haut war braungebrannt, sie hatte einen hübschen Farbton.
Insgesamt war Quirin sehr hübsch, nein, sogar schon schön. Die Mädchen standen Schlange bei ihm, aber davon wollte er noch nichts wissen. Seine Freunde und Fußball waren ihm wichtiger.
Typisch Junge. Oder besser ausgedrückt: Typisch unreifer Junge.
»Übrigens, das war keine Ausrede.«
»Halt die Klappe.«
»Ich habe dich auch lieb, Schwesterherz.«
Ich boxte ihm grinsend und freundschaftlich gegen die Schulter. Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar, das daraufhin noch mehr abstand. Dann rieb er sich die Augen, riss sie auf und blinzelte einige Male müde.
»Daaad, wann sind wir denn endlich da?«; fragte Jamie gelangweilt.

Der Flug war unerträglich eintönig. Ich saß am Fenster, durch das ich ständig schaute. Wie klein alles nur wirkte...
Meine Sicht wurde nicht vernebelt, der Tag war klar und schön, die Sonne schien. Wir flogen über das Meer. Kurz stellte ich mir vor, wie schrecklich es wäre, hier abzustürzen. Ich schauderte und verdrängte den Gedanken.
Quirin saß neben mir und blätterte in einer alten Fußballzeitschrift. Seine Miene wirkte gelangweilt und müde. Er fand einen Artikel, der ihn halbwegs zu interessieren schien. Seine Augen überflogen ihn kurz, dann blätterte er weiter. Jamie war neben Quirin in sich zusammengesunken. Er wirkte klein und zusammengeknüllt. Sein Kopf berührte die alles andere als weiche Lehne des Sitzes, manchmal rutschte er weiter zu Quirin, der ihn dann vorsichtig von sich drückte. Jamie schien davon nichts mitzubekommen. Wenigstens einer von uns konnte diesem Albtraum entfliehen. Dad saß auf der anderen Seite, der enge Gang trennte uns voneinander. Er unterhielt sich angeregt mit einem älteren Mann, aber selbst dieses Gespräch hielt nicht ewig und verebbte nach kurzer Zeit.
Wie lange würde dieser Flug denn noch dauern?
Quirin seufzte und steckte das Heft in das Netzt am Vordersitz, aus dem er es zuvor heruasgeholt hatte. Er verschränkte die schlanken Arme vor der Brust und stierte gelangweilt auf seine Beine.
Irgendwo hinter uns ertönte leises Schnarchen. Quirin verrollte die Augen.
»Man, da können wir uns noch auf etwas gefasst machen.«, sagte er mit seiner jungenhaften und dennoch recht hohen Stimme.
Er war noch nicht in den Stimmbruch gekommen, worüber er alles andere als glücklich war. Er meinte, dass er mit seiner noch leicht kindlichen Stimme nicht so männlich wirkte. Ganz unrecht hatte er damit nicht. Er war noch etwas kleiner als ich und sehr schlank, fast dünn. Aber er strahlte durchaus schon Männlichkeit aus, nur dass diese noch nicht so ausgeprägt war. Er hatte durchaus ein paar Muskeln, besonders am Bauch. Lag vielleicht am Fußballspielen. Er war gut, richtig gut.
Quirin würde einmal groß werden, das sah man. Jetzt war er noch nicht so groß, aber auch nicht klein. Alles zu seiner Zeit.
Sein dunkelbraunes Haar war gar nicht so dunkel, wie mir jetzt auffiel. Das lag vielleicht an der Sonne, denn es gab keinen Tag, an dem er nicht nach draußen ging. Er war fast so braun wie ein Schokoladeneis.
»Ach, Quin, das bringen wir schon hinter uns.«, sagte ich und wuschelte ihm durch das feine Haar, das danach noch mehr abstand.
Waren diese Worte wirklich gerade aus meinem Mund gekommen? Gerade aus meinem, wo ich doch der Meinung war, dass dieser Flug furchtbar und schrecklich war?
»Du sollst mich nicht Quin nennen.«, beschwerte er sich und versuchte, sein Haar zu ordnen, was ihm jedoch nicht wirklich gelingen wollte.
»Warum nicht? Quin ist einfach kürzer. Ihr nennt mich doch auch alle Abby.«
Darauf hatte er keine Antwort. Er schnürte seine Arme noch fester um seinen Oberkörper. Ich lachte.

Minuten, Stunden vergingen. Ich machte mir gar nicht die Mühe, sie zu zählen. Quirin war eingeschlafen, wie so ziemlich der andere Rest der Passagiere. Immer wieder rutschte sein Kopf zu meiner Schulter. Und immer wieder schob ich ihn an seinen eigentlichen Platz zurück. Ehrlich, dieser Flug war ein nervenauftreibender Höllentrip.
Noch wusste ich nicht, wie wahr dieser Gedanke war...

Ich wurde von einer lauten Stimme und einem Rütteln aus dem Schlaf gerissen. Tatsächlich hatte ich es geschafft, in die Traumwelt abzudriften. Leider wurde ich nun gewaltsam aus ihr gerissen.
Was war los? Waren wir gelandet?
Ich brauchte eine Weile, bis ich richtig wach wurde. Meine Sinne mussten sich erst an alles gewöhnen. Dann drang die Stimme, die offenbar dem Flugcapitän gehörte, zu mir durch.
»...deshalb bitten wir Sie, Ruhe zu bewahren.«
Na toll. Sehr viel hatte ich da nicht gerade mitbekommen. Weswegen Ruhe bewahren? Landeten wir nun oder nicht?
Hinter mir ertönte ein verzweifeltes Wimmern. Ich drehte meinen Oberkörper und linste durch den kleinen Spalt zwischen meinen und Quirins Sitzen. Hinter mir saß ein kleines Mädchen, etwa sieben Jahre alt. Neben ihr hatte ihre Mutter eine Hand vor den Mund geschlagen. In der anderen hielt sie ein Foto. Eine Träne schimmerte an ihrer Wange.
Okay, irgendwas stimmte hier nicht.
Das Flugzeug holperte wieder und plötzlich legte es sich in eine andere Lage. Meine Seite wurde nach oben gedrückt.
Entsetzte und panische Schreie erfüllten das Innere des Fliegers.
Und mit einem Mal wurde mir alles klar. Hier stimmte definitiv etwas nicht. Hier ging es nicht mit rechten Dingen zu.
Ich hatte schon einige Filme gesehen, in denen Flugzeuge abstürzten oder etwas nicht mit ihnen stimmte. Deshalb war ich mir sicher, dass wir uns in einer dieser besagten Unglücksmaschienen befanden.
Sofort hämmerte mein Herz schneller und härter denn je gegen meine Brust, als wolle es sie sprengen.
»Oh mein Gott!«, waren die einzigen Worte, die ich jetzt noch denken konnte.
Ich schaute zu meinen Geschwistern. Jamie weinte, er schrie Dads Namen. Quirin schlief noch immer. Ein Wunder, dass er noch nichts von all dem hier mitbekommen hatte. Der Glückliche. Ich hatte nicht vor, ihn zu wecken, damit er diese Hölle durchlitt wie all die anderen hier.
Ich bekam furchtbare Angst. Was würde als nächstes passieren? Würden wir hier lebend rauskommen?
Ich beugte mich nach vorne, um zu Dad rübersehen zu können. Er hielt sich an dem Sitz vor sich fest. Seine Augen waren fest geschlossen, die Augenbrauen zusammengezogen. An was dachte er? An Mom? An uns? Oder an den Tod, der näher erschien als jemals zuvor?
Wieder erklang die Stimme des Capitäns.
»Bitte bleiben Sie alle ruhig. Lassen sie die Sicherheitswesten, wo sie sind. Es gibt keinen Grund zur Panik, der Fehler ist bald behoben.«
Von wegen es gab keinen Grund zur Panik! Ich zitterte am ganzen Körper, tausende von Gedanken strömten in meinen Kopf. Und ich war nicht die einzige, die so empfand.
»Daaad!«, schluchzte Jamie.
Ich legte ihm eine Hand auf das Bein. Er schaute mit tränenverschleiertem Blick zu mir.
Ich spürte, wie mir ebenfalls Tränen in die Augen schossen.
Nein, Abby! Das hier ist definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, sich der Panik hinzugeben! Du musst einen kühlen Kopf bewahren und sie in Glauben bringen, dass alles gut wird!

, sagte ich mir selbst.
Gut. Ich sammelte mich und brachte ein unechtes Lächeln zustande.
»He, Jamie.«, sagte ich.
Er sah mich an. Traurig, neugierig, hoffend, ängstlich.
»Jamie, das hier wird gutgehen. Das ist nur ein kleiner Defekt, der gleich behoben sein wird.«, sagte ich, obwohl ich nichtmal wusste, was überhaupt hier los war.
Was mit dem Flugzeug nicht stimmte.
Jamie sah mich überrascht an. Hoffnung blitzte in seinen blauen Augen auf.
»Hast du gehört? Deshalb musst jetzt auch du Ruhe bewahren wie die Helden in deinen Actionfilmen.«, sagte ich.
Ich traf ihn genau dort, wo ich ihn hatte treffen wollen. Seine Heldengeschichten waren ihm wichtig. Er hatte sich immer gewünscht, ein held zu sein.
»Okay! Aye!«
Er grinste mich an, mit einer Hoffnung in den Augen, die ich beinahe nicht ertragen konnte.
Ich hatte ihn angelogen. Erfolgreich. Was sollte ich nur tun, wenn das Flugzeug abstürzen würde?
Quirin zuckte neben mir. Seine Lider flatterten. Er seufzte lange und streckte sich. Und als er das Geschrei der anderen hörte, war er ganz schnell hellwach.
»Scheiße, was ist hier los?«, schoss es aus ihm.
Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Schlaf weiter, Quin.«
Entsetzt und mit weit aufgerissenen Augen musterte er mich.
»Bist du verrückt? Wie soll ich jetzt wieder einschlafen? Was geht hier vor sich?«
Seine Stimme klang panisch. Beinahe konnte ich fühlen, wie sein Herz im Eintakt mit meinem schlug.
»Das ist nur ein kleiner technischer Fehler. Die Piloten sind gerade dabei, ihn zu beheben. Du wirst sehen, gleich geht es normal hier weiter.«, log ich.
Und im selben Moment wand sich das Flugzeug heftig. Mein Kopf stieß gegen etwas hartes. Mir wurde schwindelig.
Das Gekreische hier war so laut, dass ich glaubte, mein Trommelfeld würde zerbersten. Jamie weinte wieder. Quirin grub seine Finger in meinen Arm, so fest, dass es schmerzte.
»Scheiße, Abby...!«, brachte er hervor.
Gut. Spätestens jetzt war es mit dem Ruhe bewahren auch bei mir vorbei. Ein lauter, gellender Schrei rutschte über meine Lippen.
Unter all den Stimmen konnte ich die meines Vaters heraushören.
»Abby!«, brüllte er.
Am liebsten würde ich mich von meinem Gurt befreien und zu Dad eilen, ihm versichern, dass alles wieder gut werden würde. Aber damit hätte ich ihn nur belogen.
Ich stieß erneut gegen etwas hartes, diesmal hefitger, als sich das Flugzeug erneut wand.
Stechender, beißender Schmerz breitete sich in meinem Kopf aus.
»Oh Gott, Abby!«, rief Quirin.
»Ist... Ist nicht so wild...«, brachte ich mühsam hervor.
Aber es war wild. Ich war nicht mehr imstande, mich irgendwie zu bewegen.
Und dann ging alles ganz schnell.
Ich bekam keine Luft mehr. Quirin und Jamie neben mir keuchten, japsten nach Luft. Das gesamte Flugzeug wurde erfüllt mit Japsen, Stöhnen und Keuchen. Ein seltsamer, weißer Nebel lag in der Luft.
»Wir lassen nun die Gasmasken herunter! Bitte setzen Sie alle ihre Gasmasken auf und legen sie sich die Sicherheitswesten um! Noch keine Luft reinlassen!«, brüllte die Stimme des Pilots.
Meine Finger tasteten nach meiner Gasmaske, die direkt vor meinem Gesicht baumelte. Meine Hand griff ins Leere. Sie sank auf meine Beine. Verdammt, warum war sie nur so schwer?
Immer wieder versuchte ich, meine Gasmaske aufzusetzen, aber es wollte mir nicht gelingen. Die Luft wurde mir knapp, vor meinen Augen wurde es schwarz.
Im letzten Moment bemerkte Quirin, dass ich meine Maske noch nicht aufhatte. Er zog sie mir über das Gesicht und ich holte Luft.
Gott, Luft. Wie wunderbar.
Dankend blickte ich zu Quirin hinüber, der gerade dabei war, sich seine Weste umzulegen. Da ich dies ebenso wenig konnte, wie die Maske aufsetzen, zog er mir auch diese an.
Ich hatte unbeschreibliches Glück, so einen Bruder besitzen zu dürfen.
Eine neue Durchsage wurde gestartet. Diesmal konnte man sogar die Panik des Piloten aus seiner Stimme heraushören.
»Verehrte Gäste, bitte nehmen sie jetzt alle die Sturzflughaltung ein! Wir sind gezwungen, einen Sturzflug auf das Meer auszuüben! Bitte blasen Sie die Sicherheitswesten noch nicht auf!«
Sturzflug. Nein.
Mit einem Mal wurde mir ebenso wie all den anderen hier drinnen klar, dass wir diesen Flug nicht überleben würden. Wir waren verloren.
Quirin krallte seine Finger in meine Hand und zog mich herunter. Wir alle lehnten uns nach vorne, die Hände an die Vordersitze gepresst. Kreischend. Schnaubend. Zitternd.
Es war zu spät.
Das Flugzeug wurde von einem brutalen Ruck erfasst und ich schwörte, wenn ich nicht angeschnallt gewesen wäre, wäre ich jetzt durch den gesamten Innenraum geschleudert worden.
Noch immer begriff ich nicht, was hier falsch lief. Was nicht stimmte. Wieso stürzten wir ab? Was war der Grund? Warum ausgerechnet wir?
»Daaad!«, brüllte ich, »Ich liebe dich!«
»Abby!«, kam es zurück, »Abby, ich bin so froh, eine Tochter wie dich zu haben!«
Dann brach er seine Worte ab und sprach zu Jamie, dem die Tränen wie ein Wasserfall über das Gesicht liefen.
»Ich liebe dich, Jamie, auch wenn man es für unmöglich halten könnte! Und ich liebe auch dich, Quirin! Ihr seit die besten Brüder der Welt!«, schrie ich so laut ich konnte.
Ich schloss die Augen.
Das Geschreie schmerzte in den Ohren, meine Wunde am Kopf raubte mir fast den Atem.
Das Flugzeug stürzte so schnell, dass mein Magen Achterbahn fuhr. Das hier war schlimmer als alles, was ich je erlebt hatte. Natürlich.
Das hier war die reinste Hölle. Wir würden alle sterben. Arme Mom. Arme andere Menschen.
Das Flugzeug drehte sich. Es tat einen ungeheuren Ruck. Noch mehr Schreie, noch lauter.
Chaos. Angst. Panik. Tod.
Alles war zu spät, alles war aus. Endgültig.
Lebe wohl, Welt.
Mom.
Ich wartete, bis wir aufkamen. Wartete, wartete...
Es war schrecklich, darauf warten zu müssen, bis man hart aufkommen würde. Bis man sterben würde. Warten auf den Tod.
Doch dann ertönte ein Rauschen, das Flugzeug wand sich noch einmal. Wir flogen nicht mehr nach unten, wir waren wieder einigermaßen gerade. Was war jetzt?
Meine Hand fand die von Quirin. Ängstlich umschlang ich sie.
Das Flugzeug zitterte leicht.
»Meine lieben Damen und Herren! Unser technisches Problem hat sich plötzlich aufgelöst! Wir wissen nicht wie und wir können es uns selbst nicht erklären, aber es ist überstanden! Wir fliegen nun weiter nach Deutschland. Sie können die Schutzwesten ausziehen, jedoch bitten wir Sie, die Gasmasken noch einen Moment aufzubehalten. Vielen Dank!«
Die Durchsage hallte noch lange in meinen Ohren und ich konnte wirklich sagen, dass das die schönsten Worte waren, die ich je gehört hatte. Überall im Flugzeug brachen die Menschen in Tränen und Jubelrufen aus. Menschen, die sich noch nie zuvor gesehen hatten, umarmten sich, tauschten die Telefonnummern aus.
War das hier wirklich war oder hatte uns der Pilot angelogen, um unsere Panik zu mildern? Waren wir möglicherweise nur angelogen worden?
Nein.
Ich selbst hatte die Freude in seiner Stimme gehört. Das hier war echt. Wir würden alle am Leben bleiben. Nicht sterben müssen.
Heiße Tränen brannten mir in den Augen, Tränen des Glücks. Meine Lippen waren zu einem Lächeln verzogen. Laut schluchzend umarmte ich Quirin. Jamie war so froh, dass er sich abschnallte und zu Dad rannte.
Wir durften weiterleben. Es war einfach unglaublich.
Ich wagte, mich herumzudrehen und durch den Spalt der Sitze zu linsen. Das kleine Mädchen und die Mutter lagen sich in den Armen, lächelnd und weinend zugleich.
Ich atmete tief durch.
Danke, Gott.
Im selben Moment, in dem ich diese zwei Worte dachte, rief Quirin:
»Mist, Abby! Du blutest ganz schön stark!«
Und gerade, als ich abwinken und ihm versichern wollte, dass das nicht so schlimm wäre, senkte sich tiefe, schwarze Nacht über mich...

»Abby? Abby, wach auf! Wir sind angekommen!«, hörte ich Jamies Stimme sagen.
Ich versuchte, meine Lider anzuheben, um die Gesichter meiner Brüder und meines Dads sehen zu können. Es gelang mir nicht.
Mir schoss durch den Kopf, dass wir lebendig aus dem Flieger gekommen waren. Dass wir gesund waren. Mein Gott, es war einfach unglaublich.
»Jetzt komm schon, Abby! Oder willst du heute nicht die Unterkunft sehen?«, sagte Quirin mit seinem leichten Akzent.
Ehrlich gesagt, ich wollte die Unterkunft sehen, obwohl ich liebend gerne zuhause geblieben wäre.
Noch einmal versuchte ich, meine Augen zu öffnen. Meine Lider waren so schwer... Als seien sie aus Blei, schwer und dunkel. Irgendwie schmerzte mein Kopf. Er pulsierte im Einklang mit meinem Herz. Mir war heiß.
Moment, hatte ich mir nicht den Kopf angeschlagen?
»Abby!«, sagte mein Dad.
Wir waren am leben. Wir hatten es überstanden. Es war so unglaublich, dass ich es immer wieder denken musste.
Mit aller Kraft hob ich meine Lider, blinzelte gegen das Tageslicht an, das mir in die Augen fiel. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich mich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Bald schon erkannte ich die Gesichter meiner Familie. Besorgt, neugierig und erwartungsvoll schauten sie mich an.
Etwas an meinem Kopf störte.
»Mein Gott, endlich bist du wach!«, sagte Jamie.
Umständlich setzte ich mich auf. Mein Kopf pochte noch mehr, wir war ein wenig schwindelig.
»Was...?«
Ich sah mich um. So wie es aussah, befanden wir uns noch am Flughafen. Um uns tummelten sich Menschen, die sich ihren Weg bahnten, auf der Suche nach Bekannten oder ihrem Flug. Ein kleines Kind schrie nach seiner Mutter.
Ich saß auf einer Bank. Wie lange hatte ich hier gelegen?
»Dad, was ist passiert?«, wollte ich verwirrt wissen.
Ich selbst konnte mich nur noch daran erinnern, wie ich im Flugzeug ohnmächtig geworden war.
»Abby, du hast eine Kopfverletzung. Wir haben dich zu einem Notarzt geschleppt, der hat dich versorgt. Die Wunde ist nicht schlimm, aber du sollst dich zwei Tage ruhig halten. Du glaubst gar nicht, wie erleichtert ich bin!«, erklärte er.
»Ich auch. Wir haben einen Beinahe-Flugzeug-Absturz überlebt.«, murmelte ich.
Er lächelte.
»Wir Glücklichen.«
Vorsichtig rappelte ich mich auf, stellte die Füße auf dem harten Grund ab. Ich stemmte mich in die Luft, schwankte und fand dann mein Gleichgewicht. Quirin stand neben mir, die Hände ausgestreckt, um mich im letzten Moment stützen zu können, falls ich fiel.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich.
»Ich habe mir bereits einen Leihwagen besorgt, für den ganzen Urlaub. Er steht vor dem Flughafen. Wir haben jetzt noch etwa neun Stunden Fahrt vor uns. Heute Abend wollen wir bereits im Spreewald sein.«
Spreewald, unser Urlaubsziel. Dort sollte es sehr schön sein.
»Kommt, Kinder. Wir gehen zum Auto und machen uns auf den Weg.«

Diesmal saß ich auf dem Beifahrersitz. Quirin kauerte beleidigt hinter mir, die Arme vor der Brust verschränkt. Ich hatte ihn mit meiner Wunde erpresst. Das hatte ihn getroffen und jetzt war er beleidigt.
Jamie fragte etwa jede halbe Stunde, wann wir denn endlich da wären. Mittlerweile antwortete Dad gar nicht mehr.
»Daaad, wann sind wir denn jetzt endlich da?«, stellte Jamie schon wieder seine Frage.
»Jamie, halt jetzt den Mund, sonst setze ich dich auf dem nächsten Rastplatz ab!«, maulte Dad.
»Aber Daaad...«
Quirin stierte auf den Boden und kaute auf seiner Unterlippe herum. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Oh, oh.
»Bitte, Dad! Nur noch dieses eine M...«
»Man, Jamie! Halt jetzt endlich mal die Klappe!«, schrie Quirin.
Eine Tirade russischer Flüche folgte seinem Befehl. Entsetzt guckte Jamie ihn an, ebenso wie Dad und ich durch den Rückspiegel.
»Quirin, hör auf, Russisch zu sprechen!«, rief Dad.
Sein Kopf lief rot an. Er sah wirklich, wirklich zornig aus.
Quirin spieh einige russische Worte aus, mit einem sarkastischen Lächeln auf den Lippen.
»Quirin!«
Wieder ein Wortschwall Russisch.
Dad riss das Lenkrad herum und fuhr auf den Rastplatz, der zufälligerweise gerade jetzt kommen musste.
Wir wurden alle ein wenig durchgeschleudert.
Dad hielt den Wagen an und stieg aus. Die Türe knallte er laut zu. Er stampfte um das Auto.
»Oh, oh.«, machte Quirin und schnallte sich hastig ab.
»Oh, oh.«, stimmten Jamie und ich ihm zu.
Quirin kletterte über Jamies Beine und verließ den Wagen durch seine Tür, als Dad Quirins Tür aufriss.
Er schaute durch den Wagen hindurch mitten in Quins Gesicht, der ihn provozierend angrinste.
Dads Gesicht wurde noch röter.
»Verdammt nochmal! Ich habe heute eine Nerven-zerreiß-Probe hinter mir, okay? Wir wären beinahe alle ums Leben gekommen! Dann fängt Jamie an, mich zu nerven!«
Er machte eine kurze Pause. Jamie machte große Augen, seine Finger wanderten zu seinem Gurt. Leise klackend öffnete er sich.
»Oh nein, Freundchen! Du bleibst sitzen!«
Jamie schnallte sich sofort wieder an. Dad wandte sich Quin zu.
»Und du fluchst auf Russisch! Ich will nie wieder ein einziges russisches Wort hören, das seinen Weg über deine Lippen findet, verstanden?«
Eigentlich war das schade. Das Russisch hatte bei Quin immer niedlich geklungen.
Quirin nickte nicht.
»Man, ich kann besser Russisch als Amerikanisch sprechen, okay? Warum verstehst du das nicht? Übrigens, ich hatte heute auch einen grauenhaften Tag hinter mir! Vielleicht bin ich ja auch deshalb so genervt!«, sagte Quirin und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ich erkannte die Tränen in seinen Augen.
Dads Kopf nahm langsam wieder eine normale Farbe an. Seine Miene wurde sanfter. Er knallte die Türe zu, murmelte etwas vor sich hin und setzte sich wieder auf den Fahrersitz. Er ließ den Motor an. Es dauerte keine drei Sekunden, da saß Quin wieder an seinem Platz.
Tränenspuren schimmerten auf seiner reinen Haut.
Ich hatte Mitleid mit ihm und tätschelte sein Knie.

Die Fahrt war wirklich... Höllisch? Wir fuhren nun schon knapp fünf Stunden und hatten noch fast die Hälfte vor uns.
Aus dem Radio ertönte Musik eines deutschen Sängers, den ich natürlich nicht kannte. Ich verstand keinen Ton des Gesungenen. Meiner Meinung nach war die Musik etwas gewöhnungsbedürftig. So etwas hatte ich noch nie gehört.
Dennoch war ich froh, dass das Radio an war, denn der Gesang übertönte Jamies und Quirins Gekeife auf dem Rücksitz. Natürlich fluchte Quin auf Russisch, und dabei warf er immer mal wieder einen Blick nach vorne zu Dad.
Ich schaute zu den beiden hinter und bemerkte erst jetzt, dass die beiden sich freundschaftlich balgten. Das war schon ein kleines Wunder und ich bereute es, dass mein Handy in meinem Rucksack verstaut war, der wiederrum im Kofferraum lag. Wenn ich davon ein Foto machen würde und es ihnen in einer Woche zeigen würde, würden sie beide es nicht glauben können.
Das Gute war, dass Jamie nicht mehr ständig nachfragte, wann wir denn endlich dort sein würden. Nur ab und zu, etwa jede Stunde, rutschten die Worte über seine Lippen, aber das war ein Fortschritt für ihn. Dad schien nicht mehr wütend zu sein, er beantwortete Jamies nervige Fragen geduldig.
Ich sah Dad an, dass er sehr müde war. Seine sonst so glatte Stirn war gerunzelt.
Dad war für einen Vater noch sehr jung, gerade einmal vierunddreißig Jahre. Mom war drei Jahre älter als er.
Mom... Sie wusste noch nicht, was wir alles durchgemacht hatten. Spätestens morgen würde sie eingeweiht sein.
Ich wurde von Quirins hohem Glockenspiel-Gelächter aus den Gedanken gerissen. Jamie hatte sein altes Witzebuch, das die beiden schon hunderte von Malen durchgelesen hatten, hervorgekramt und las gerade einen langen Witz vor.
Quirin lachte sich schon jetzt schlapp, und das, obwohl er den Witz längst kannte. Das war ganz sicher ein Anzeichen für Müdigkeit und Stress. Armer Junge.
Jamie hingegen schien noch ziemlich fit zu sein, er steckte voller Leben.
Irgendwann begann Quin, sinnloses Zeug zu reden. Das war mal wieder typisch Junge.
»Du glückliches Opfer.«, sagte er.
»Gar nicht.«, maulte Jamie.
»Du hirnloses Ei.«
»Selber!«
»Du dummer Freak.«
»Zehnmal mehr!«
»Man, voll die Freakshow, Alter.«
»Das kannst du aber laut sagen.«, stimmte ihm Jamie zu.
Unglaublich, was sich da hinter mir abspielte. Das durfte ich mir nicht entgehen lassen.
Ich fand eine bequemere Position und guckte so nach hinten. Mein Kinn lehnte an meinem Sitz. Die beiden Jungs schienen mich gar nicht zu bemerken. Sie witzelten und zankten immer weiter, bis Quirin laut gähnen musste.
Er wehrte Jamie ab, der gerade wieder damit anfangen wollte, ihm Witze vorzulesen. Jamie guckte beleidigt aus dem Fenster. Quin lehnte sich zurück, rieb sich die Augen und blinzelte hefitg, wobei er noch die Lippen verzog.
Er schaute mich an und grinste. Seine Zähne waren so weiß wie Schnee.
»Ein Wunder.«, sagte ich.
»Tscho?«, fragte er auf Russisch, warf einen schnellen Blick zu Dad und verbesserte sich: »Was?«
»Du und Jamie.«
»Jajaja.«, machte er betont und schloss die Augen.
Er war gerade dabei, in die Traumwelt abzudriften, als der Wagen leicht holperte. Quirin riss die schönen Augen auf, schmatzte und lehnte sich vor. Seine Haare standen in alle Richtungen ab. Eine Strähne fiel ihm ins Gesicht.
Ich musste lachen. Er wischte sich mit der Hand durch das Gesicht, um mich nicht sehen zu müssen, wie ich über ihn lachte. Dann sank er wieder in sich zusammen und diesmal schlief er ganz schnell ein.
Grinsend setzte ich mich wieder normal auf meinen Platz und presste meinen Rücken in den Sitz. Vielleicht wäre es besser, wenn ich auch ein wenig schlafen würde. Das würde mir sicherlich guttun.
Und tatsächlich, ich schaffte es, einzudösen. Das Letzte, was ich hörte, war das Rauschen der Autoreifen auf dem Asphalt und ein seltsames schläfriges Gequake von Quirin hinter mir.

Impressum

Texte: @ A.S
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Freunde, die mir wirklich alles bedeuten. Ich liebe euch!!!! :-D

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